Einleitung
Ausgehend von Gösta Esping-Andersens Theorie des Wohlfahrtssystems ist Bildungspolitik als Aspekt der Sozialpolitik zu betrachten.
Folgende Faktoren können den Zeitrahmen der Bildungspolitik beeinflussen: In einem sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaat ist der Staat relativ stark, sozialdemokratische Parteien sind einflussreich, und Bildung hat einen hohen Stellenwert und zahlreiche Funktionen; nach Möglichkeit werden beachtliche Summen in alle Bereiche des Bildungswesens investiert. Der Bedarf an Kindern und Frauen als Arbeitskräfte sowie die Macht von Arbeitsmarktverbänden werden als weitere entscheidende Faktoren erachtet. In skandinavischen Ländern müssen die Sichtweise der gut organisierten und mächtigen Sozialpartner in Bezug auf Bildung, die Berufstätigkeit von Frauen sowie die Kinderbetreuung berücksichtigt werden.
Bildungspolitik und Zeitpolitik
In diesem Abschnitt sollen verschiedene Ansätze der schwedischen Bildungspolitik vorgestellt werden, die sich auf das Volksschulwesen der vergangenen hundert Jahre beziehen. Die Tabelle fasst die Zahl der Unterrichtsstunden pro Woche in diesem Zeitraum für die schulpflichtigen Jahre (Klassen 1 - 6) zusammen. Dabei fällt die bemerkenswerte Stabilität über lange Zeit hinweg auf; ein Schüler der 6. Klasse hatte für den Großteil des vergangenen Jahrhunderts wöchentlich 34 bis 35 Unterrichtsstunden.
Die ersten Jahre (1900 - 1945): Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war Schweden ein sehr armes, von der Landwirtschaft geprägtes Land. Die Qualität der sechsjährigen Volksschulausbildung, die sich hauptsächlich an Bauern- und Arbeiterkinder richtete, unterschied sich in ländlichen Gegenden erheblich von der in Städten. Der Schulbesuch war nicht vorgeschrieben, Hausunterricht war erlaubt, und es bestand eine Vielfalt an Schulformen. Mobile Schulen, Teilzeitschulen, so genannte Minimalkurse und Gemeinschaftsunterricht für Kinder verschiedener Alterstufen waren in ländlichen und dünn besiedelten Gebieten verbreitet. Da viele Kinder bei der Feldarbeit unabkömmlich waren, dauerte ein Schuljahr vier bis fünf Monate, und der Schultag war höchstens fünf Stunden lang.
In den 1910er und 1920er Jahren waren die Gemeinden gezwungen, die Zustände an den Grundschulen zu verbessern. Ausschlaggebend war die Anstellung vollzeitbeschäftigter Schulinspektoren, deren Aufgabe in der Qualitätssicherung des Unterrichts, der Schulbücher, der Gebäude, der Hygienebedingungen und anderer Aspekte des Bildungssektors bestand. Konservative Gruppierungen begegneten dieser Entwicklung mit Feindseligkeit.
In den 1930er Jahren änderte sich die demographische und sozioökonomische Situation erheblich. Immer mehr Schweden lebten in Städten, und die Zahl fest angestellter Beschäftigter überschritt die der Bauern. Im Jahr 1935, einer Zeit sinkender Geburtenraten, veröffentlichten die Wissenschaftler und führenden Sozialdemokraten Alva und Gunnar Myrdal ihr Buch "Krise in der Bevölkerungsfrage". Es war sehr einflussreich und umstritten insofern, als darin erstmals die Unterstützung von Familien und Müttern vorgeschlagen wurde, etwa in Form staatlicher Kinderbetreuung. Die Myrdals argumentierten, dass die Kosten und Pflichten der Kindererziehung nicht allein bei den Familien liegen dürften. Die Vorschläge sahen unter anderem die gebührenfreie Gesundheitsversorgung, kostenlose Schulspeisungen, Kindergärten und Nachmittagsbetreuung vor.
Staatliche Kontrolle über das Bildungswesen (1945 - 1975): Das "schwedische Modell" erreichte seinen Höhepunkt in den ausgehenden 1950er und in den 1960er Jahren. Es bestand aus drei Hauptkomponenten: der Rationalisierung und Umstrukturierung von Produktionsprozessen, einer aktiven Arbeitsmarktstrategie sowie einer homogenen Lohnpolitik. Vergleichende Korporatismusstudien haben Schweden einen hohen Rang eingeräumt.
Den in den 1930er Jahren einsetzenden familienfreundlichen Grundsätzen (z.B. Regelung des Mutterschutzes und verbesserte Sozialwohnungen für bedürftige Großfamilien) folgte eine Reihe von Reformen, die den raschen Ausbau von Kindertagesstätten vorsahen. Derartige Neuerungen wurden als Antwort auf zurückgehende Geburtenraten eingeführt und waren auf den Umstand zurückzuführen, dass viele arme Frauen außer Haus arbeiten mussten.
Nach Ende des Zweiten Weltkrieges wurde die Richtung der Bildungsreformagenda zum großen Teil von den Sozialdemokraten und der Arbeiterbewegung vorgegeben; sie spiegelt das Bestreben wider, den Kampf um Gleichberechtigung mit Wirtschaftlichkeit zu vereinen. Die größte Hürde lag darin, allen den Zugang zu Bildung zu ermöglichen und gleiche Bildungschancen - unabhängig von Schicht, Geschlecht und geographischer Herkunft - zu gewährleisten. In dieser Hinsicht kann die Einführung der neunjährigen Volksschule im Jahr 1962 als Ausdruck der sozialdemokratischen Hegemonie dieser Zeit gesehen werden. Trotzdem wurden die bedeutenden Bildungsreformen meist einvernehmlich entschieden. Die Schulaufsicht wurde zentralisiert und umfasste auch die Festsetzung der Unterrichtsstunden. Vor 1955 waren Entscheidungen, welche die zeitliche Gliederung des Bildungswegs betrafen, auf kommunaler Ebene getroffen worden, wobei die Einheitskurspläne lediglich als Empfehlung dienten.
Erst Ende der 1960er Jahre wurden die internen Abläufe und das Arbeitsumfeld der Schulen zunehmend als problematisch empfunden. Schwänzen und fehlende Disziplin riefen erhebliches öffentliches Interesse hervor. Um Lösungsvorschläge zu erarbeiten, wurde 1970 ein parlamentarischer Ausschuss, der SIA (Skolans Inre Arbeite) eingesetzt.
Der Rückgang finanzieller Mittel erschwerte die Umsetzung der Reform zum integrierten Schultag. Zudem trafen die Reformen bei nichtsozialistischen Politikern auf Widerstand, die anführten, dass diese die Möglichkeiten der Eltern zur Betreuung ihrer Kinder verringern würden.
Dezentralisierung, Deregulierung und Marktlösungen (seit 1975): In den 1970er Jahren geriet Schweden nach 25 Jahren kontinuierlichen Wachstums und sozialdemokratischer Regierungsführung in eine Phase wirtschaftlicher und politischer Instabilität. Eine "soziale Investitionsstrategie" mit aktiver Arbeitsmarktpolitik und Bildungsreformen dominierte die 1970er und 1980er Jahre, während staatliche Kürzungen, Liberalisierung und die Einführung von Marktlösungen Ende der 1980er und in den 1990er Jahren vorherrschend waren.
Die ersten Schritte in Richtung größerer kommunaler Verantwortung und Autonomie erfolgten Ende der 1970er Jahre; der staatliche Leitfaden zu Lehrinhalten der Volksschulen von 1980 offenbarte die Tendenz zu deren Kontrolle anhand von Zielvorgaben. 1989 entschied man sich zur weiteren Dezentralisierung, als den Gemeindeverwaltungen und Schulen mehr Freiräume zugestanden wurden. Während ihrer Regierungszeit von 1991 bis 1994 bemühten sich die nichtsozialistischen Parteien um die Auflösung des "staatlichen Schulmonopols", indem sie "Bildungsmärkte" ins Leben riefen. Großzügige Subventionen trieben den Aufbau privater Schulen an, und die elterliche "Schulwahl" wurde gefördert. Während die Sozialdemokraten kommunalpolitischen Behörden mehr Verantwortung einräumten und Eltern und Schülern mehr Einfluss zugestanden werden sollte, strebten die nichtsozialistischen Parteien eine Machtbegrenzung der Politiker und Bürokraten zugunsten von Schulen, Eltern und Privatinteressen an.
Ein Ergebnis der Dezentralisierung und Deregulierung war größere kommunale Autonomie, die zu einem stärkeren Mitspracherecht der Gemeinden bei der Verteilung von Schulstunden führte. In dieser Hinsicht hat sich das schwedische Bildungswesen tatsächlich zu einem besonders dezentralen System entwickelt.
Lange fand die Idee, den landesweit einheitlichen Stundenplan abzuschaffen, breite Unterstützung unter Politikern und Schuldirektoren, wohingegen auf Seiten der Lehrkräfte die Meinungen schwankten. Eine Entscheidung wird bis heute hinausgezögert. Interessanterweise umfasste der Versuch keine stärkere kommunale Autorität in Bezug auf die Länge der Schultage. Die allgemeinen Richtlinien des Schulgesetzes sehen Schulaufgaben von montags bis freitags vor, die so gleichmäßig wie möglich zu verteilen sind. Das Schulgesetz legt fest, dass die kommunale Schulbehörde über die Länge des Schultages zu entscheiden hat, also auch über Schulbeginn und -schluss.
Auf die Zeitpolitik einwirkende Faktoren
Auffällig an der Zeitpolitik des schwedischen Bildungssystems ist die Stabilität, mit dem der Schultag und die Schulwoche konzipiert und verwirklicht worden sind. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts besteht ein "gewöhnlicher" Schultag in der fünften oder sechsten Klasse der Grundschule aus durchschnittlich sechs Stunden (Samstage nicht inbegriffen). Teilzeitunterricht oder mobile Schulen wurden seit der Entwicklung des Stofferteilungsplans im Jahr 1900 als ungeeignete oder ungewöhnliche, nur in Fällen eines besonders langen Schulweges akzeptable Alternativen betrachtet. Trotzdem waren so genannte Sonderformen der allgemeinen Schulausbildung bis weit in die 1930er Jahre verbreitet und wurden von Gruppen des rechten Flügels aktiv verteidigt. Seit den 1920er Jahren ist der Ganztagsunterricht an den allgemeinen Schulen kaum mehr in Frage gestellt worden. Welche Erklärungen lassen sich dafür anführen?
Staatsgewalt und die Legitimität des staatlichen Wohlfahrtssystems sind Merkmale des sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaates. Stärker noch als in liberalen oder konservativen Systemen wird vom Staat erwartet, dass er für seine Bürger sorgt und für die Bedürfnisse von Kindern aufkommt, was mit der Umverteilung von Kapital und mit hohen Steuersätzen einhergeht. Debatten um das Für und Wider von Kindertagesstätten sind aufgekommen, insgesamt aber erfreuen sich die öffentlichen Kinderbetreuungs- und Bildungseinrichtungen breiter Unterstützung.
Die Fachleute im Bildungssystem haben keinen nennenswerten Einfluss auf die Zeitpolitik des Bildungswesens gehabt.
Familie, Wirtschaft und Arbeitsmarktanforderungen haben die Struktur des Bildungswesens und der Kinderbetreuung dagegen stark beeinflusst. Im Gegensatz zu anderen Ländern blieb Armut in Schweden bis weit ins 20. Jahrhundert hinein verbreitet; die meisten Familien konnten es sich nicht leisten, dem Modell vom männlichen Ernährer zu folgen. Armut und Überbevölkerung trugen zur Verringerung der Geburtenrate bei, und die Sozialpolitik der 1930er und 1940er Jahre, welche kostenlose Schulmahlzeiten vorsah, richtete ihr Hauptaugenmerk darauf. Kinderarbeit wurde 1912 verboten. Mit der raschen Rationalisierung der Landwirtschaft und der Urbanisierung wurden Kinder nicht länger als zusätzliche Arbeitskraft in der Landwirtschaft benötigt. In der Wirtschaft bestand in den 1950er und 1960er Jahren ein dringender Bedarf an Arbeitskräften. Vor die Wahl gestellt, entweder Einwanderer oder Frauen einzustellen, wurden letztere als bevorzugte Arbeitskräftereserve betrachtet. Der rasche Ausbau der staatlichen Kinderbetreuungsmaßnahmen in den 1960ern und 1970er Jahren zielte auf die Förderung der weiblichen Erwerbstätigkeit.
Auch demographische und geographische Faktoren haben zur Einrichtung des Ganztagsunterrichts als das "gängige" Zeitorganisationsprinzip beigetragen. In dünn besiedelten Gegenden mussten die Kinder oft weite Strecken zwischen ihrem Wohnhaus und der Schule zu Fuß zurücklegen, besonders in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, als es noch keine öffentlichen Verkehrsmittel für den Schulweg gab. Es wäre vergeudete Zeit gewesen, den langen Weg für nur wenige Schulstunden auf sich zu nehmen. In ähnlicher Weise wäre es als verschwenderisch empfunden worden, an kalten Wintertagen die Klassenräume nicht voll auszunutzen, wenn ihre holzbefeuerten Öfen erst einmal angeheizt waren.
Keiner dieser Faktoren kann die Zeitpolitik des allgemeinen Schulwesens in Schweden allein erklären, vielmehr muss eine Kombination erwogen werden. Das Modell des Wohlfahrtssystems, das von besonderen Beziehungen zwischen Staat, bürgerlicher Gesellschaft und Wirtschaft gekennzeichnet ist, kann als weiterer Bezugsrahmen dienen. Dennoch zeigt das schwedische Beispiel auch die Vielzahl der länderspezifischen Faktoren. Diese schließen kulturell und politisch einflussreiche Einzelpersonen wie die Myrdals ebenso ein wie die niedrigen Temperaturen und die langen Schulwege. Schließlich lässt sich auch eine gewisse Pfadabhängigkeit nicht verleugnen: Ist der harte Kampf um Teilzeitunterricht erst einmal beendet und werden die ihn verteidigenden Gruppen als rückschrittlich betrachtet, gestaltet sich die erneute Aufnahme eines solchen Kampfes schwierig. Zudem ist es nicht einfach, die Mittel für Schulen und Kinderbetreuungseinrichtungen zu kürzen, wenn die Mehrheit der Frauen erst einmal berufstätig ist.