Einleitung
Geschlechterpolitik gilt hierzulande noch immer weitgehend als Frauenpolitik. Es mag Leserinnen dieser Ausgabe daher überraschen - vor dem Hintergrund meiner Erfahrungen als einer der wenigen Männer in diesem Politikfeld gehe ich davon aus, dass dieses Themenheft fast ausschließlich von Frauen gelesen werden wird -, dass ein männlicher Autor einen Beitrag über die Entwicklung der Geschlechterpolitik in Deutschland verfasst.
Geschlechterpolitik als Gestaltung von Geschlechterkultur
Der Grund für dieses Politikmuster ist wohl, dass lange Zeit lediglich Frauen als "Geschlechtswesen" galten und durchgängig als Verliererinnen der vorherrschenden Geschlechterordnung betrachtet wurden. Es stellt sich die Frage, ob diese Sichtweise auf Geschlechterpolitik zum einen der Komplexität des Geschlechterverhältnisses gerecht wird und ob sie zum anderen überhaupt im Geist des Grundgesetzes sowie des Gleichberechtigungsgesetzes steht. Denn in beiden Gesetzestexten werden jeweils Frauen und Männer adressiert. Aber auch konzeptionelle Entwicklungen in der Geschlechterpolitik selbst - etwa die Umsetzung der Strategie des Gender-Mainstreaming - weiten den Blick und nehmen die Geschlechterordnung als Ganzes ins Visier. Im Kontext dieser - auch der von der Geschlechterforschung vorangetriebenen - Gender-Orientierung kann Geschlechterpolitik nur als Feld der Gestaltung von Geschlechterkultur verstanden werden.
Eine Geschlechterkultur - im Englischen mit dem Begriff Gender umschrieben - beschreibt den jeweils in einer menschlichen Population vorherrschenden symbolisch-normativen Modus im Umgang mit dem Umstand, dass zwei unterschiedliche Wesen der Gattung Homo Sapiens existieren, die sich darin unterscheiden, dass nur eines die Fähigkeit besitzt, Kinder zu gebären.
Vom Patriarchat zur Gleichberechtigung
Grundlage der bundesdeutschen Geschlechterpolitik bilden Mann und Frau - diese beiden Geschlechterkategorien finden sich sowohl im Grundgesetz als auch im Gleichberechtigungsgesetz sowie im Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB). Dies ist nicht allzu sehr verwunderlich, denn es lassen sich biologisch nur zwei Geschlechter eindeutig unterscheiden: das eine Geschlecht - hier Frau genannt - produziert große und weniger zahlreiche Keimzellen, das andere Geschlecht - hier Mann genannt - produziert kleine und sehr viele Keimzellen.
In einer überwiegend (seriell) monogamen Art wie dem Homo Sapiens
Nicht nur im Grundgesetz, sondern auch im Steuerrecht erfährt die Lebensform Ehe eine besondere Behandlung. Das so genannte Ehegattensplitting erlaubt es Ehepaaren ihr Einkommen gemeinsam steuerlich zu veranlagen, so dass sich die Steuerlast um so mehr reduziert, je weniger einer der Ehepartner verdient. Diese im Jahr 1958 eingeführte Regelung innerhalb des Einkommenssteuergesetzes ist in letzter Zeit immer wieder kritisiert worden. Überlegungen zur Reform des Ehegattensplittings gehen gegenwärtig dahin, dass dieses in ein Familien-Splitting umgewandelt werden und die Steuerersparnis sich dann an der Anzahl der Familienmitglieder bemessen soll.
Was aber ist eigentlich eine Familie? Kann sie noch immer begriffen werden als "biologische Reproduktionsgemeinschaft", die aus leiblichem Vater, leiblicher Mutter und Kindern besteht? Oder ist Familie überall dort, wo sich Menschen umeinander in einer Lebensgemeinschaft sorgen? Hintergrund dieser geschlechterpolitisch bedeutsamen Fragen ist die Tatsache, dass sich familiäre Lebensformen in Deutschland in den Jahren seit Verabschiedung des Gleichberechtigungsgesetzes beachtlich verändert haben: Lebten im Jahr 1972 noch 93 Prozent der Kinder unter 18 Jahren in einer klassischen Familie mit verheirateten Eltern, waren dies im Jahr 2000 lediglich noch 84 Prozent, in den neuen Bundesländern sogar nur 69 Prozent.
Hinsichtlich der Möglichkeiten der Klärung von Vaterschaft ist also ein Schritt hin zu mehr Selbstbestimmung von Vätern erfolgt. Die Frage, wie die vorherrschende Regelung des Abbruchs ungewollter Schwangerschaften, die nach langen Auseinandersetzungen im Jahr 1976 in der damaligen Bundesrepublik in Kraft trat, bewertet werden kann, ist allerdings nicht so einfach zu beantworten. Auch die seit Oktober 1995 nun für Gesamtdeutschland vorherrschende Regelung - Abtreibungsmöglichkeit verbunden mit Beratungspflicht oder aufgrund krimonogener bzw. medizinischer Indikation - entspricht keineswegs der Forderung vieler Frauen nach körperlicher Selbstbestimmung und damit verbunden gänzlicher Straffreiheit eines Schwangerschaftsabbruchs.
Eine Geschlechterkultur ist aber nicht nur durch die Art und Weise der Ausgestaltung der Paarbeziehungen von Frauen und Männern, sondern auch dadurch charakterisiert, wie mit Lebensformen umgegangen wird, die nicht der "heterosexuellen Norm" entsprechen. Meines Erachtens zeigt sich hier seit Inkrafttreten des Gleichberechtigungsgesetzes im Jahr 1958 eine Entwicklung zu mehr Liberalität. War beispielsweise Homosexualität in der Bundesrepublik noch bis zum Jahre 1973 allgemein unter Strafe gestellt, existiert seit August 2001 mit dem so genannten Lebenspartnerschaftsgesetz die Möglichkeit, dass gleichgeschlechtliche Paare sogenannte eingetragene Partnerschaften eingehen und standesamtlich registrieren lassen können. Die Lebenspartnerschaft ist in weiten Teilen der Ehe gleichgestellt (Zivilrecht, Sozialversicherungsrecht); im Steuerrecht werden die Partner jedoch wie Ledige behandelt - das heißt, sie können das oben dargestellte Ehegattensplitting nicht für sich in Anspruch nehmen.
Gleichgültig, ob Lebenspartnerschaft oder Ehe - beide Bünde sollen "auf Lebenszeit geschlossen" (§ 1353 BGB) werden. Diesem Anspruch stehen allerdings seit Jahren steigende Scheidungszahlen in der Bundesrepublik gegenüber: Wurden im Jahr 1958 noch etwa 15 Prozent aller Eheauflösungen durch gerichtliche Scheidung herbeigeführt, waren dies im Jahr 2005 bereits über 35 Prozent.
Gleichberechtigung und Gleichstellung
Die bisher beschriebene Entwicklung im Ehe- und Familienrecht könnte zusammenfassend dahingehend eingeschätzt werden, dass Geschlechterkulturen in Ehe, Familie und Partnerschaften egalitärer gestaltet werden. Dies dürfte ganz im Sinne des Geistes des Grundgesetzes sein, das in Artikel 3 Mann und Frau als gleichberechtigte Subjekte postuliert, sie also formal gleichstellt. Um dieser postulierten De-jure-Gleichstellung eine De-facto-Gleichstellung von Frauen und Männern im Zugang zu Positionen in allen gesellschaftlichen Bereichen folgen zu lassen, entwickelte sich seit den 1970er Jahren ein umfassendes System institutionalisierter Gleichstellungspolitik.
Grundlage der Gleichstellungsarbeit in der öffentlichen Verwaltung bilden Landesgleichstellungs- bzw. Frauenfördergesetze, auf deren Basis unter anderem Frauenförderpläne entwickelt werden, die über festgelegte Quoten eine stärkere Repräsentation von Frauen in leitenden Positionen garantieren sollen. Ähnliche Instrumente der Gleichstellungspolitik finden sich auch in Parteien und Verbänden. So werden in der Partei Bündnis 90/Die Grünen seit der Parteigründung alle Listen und Gremien paritätisch mit Männern und Frauen besetzt. In der SPD wurde 1988 eine 40-Prozent-Quote für alle Ämter und Mandate beschlossen, die CDU - die gegenwärtig die erste Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland stellt - einigte sich nach langen Debatten im Jahr 1996 auf eine so genannte Quorums-Regelung, die im Jahr 2001 endgültig festgeschrieben wurde. Diese sieht vor, dass Frauen in allen Gremien und Ämtern zu mindestens einem Drittel beteiligt sein sollen. Auch die DGB-Gewerkschaften führten Frauenquoten und Frauenförderungsinstrumente ein: Beispielsweise müssen in der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft verdi alle Gremien mit Frauen und Männern gemäß deren Anteil an den Mitgliedern besetzt sein - was gegenwärtig auf eine Parität hinausläuft.
Umstritten ist dagegen die Einführung von Quotenregelungen zur Besetzung von Gremien in der Wirtschaft. Hintergrund der Debatte ist, dass lediglich rund acht Prozent der Führungspositionen in Großunternehmen mit Frauen besetzt sind, sich in den 100 größten Unternehmen neben 685 Männern nur vier Frauen in Vorstandspositionen finden.
Dem steht gegenüber, dass seit Jahren auch die Grenzen der klassischen Frauenförderung und der Quote thematisiert werden. Denn "die institutionalisierte Frauenpolitik hat an der sozialen Ungleichheit zwischen den Geschlechtern bislang kaum etwas verändert".
Gleichstellung braucht Kulturwandel
Besonders deutlich sichtbar werden die Grenzen der bisherigen Gleichstellungspolitik darin, dass Berufe und Lebensmuster, die als weiblich gelten, nach wie vor geringer bewertet werden als männlich konnotierte. Die Geschlechterforschung spricht hier von weiblich konnotierten Tätigkeiten und Lebensmustern. Aller Geschlechterpolitik zum Trotz existiert in der Bundesrepublik nach wie vor ein eindeutig geschlechtsspezifisch segregierter Arbeitsmarkt mit klar abgrenzbaren Frauen- und Männerberufen; 75 Prozent der in Teilzeit Beschäftigten in Deutschland waren im Jahr 2004 Frauen, Frauen- und Männerleben sind nach wie vor unterschiedlich: Männer investieren in die Erwerbsarbeit täglich fast doppelt so viel Zeit wie Frauen, dagegen nur rund zwei Drittel der von Frauen aufgewendeten Zeit in die Haus- und Familienarbeit sowie die Kinderbetreuung.
Die hinter diesen Muster stehenden Wertigkeiten führen zum einen zu den bekannten Einkommensunterschieden zwischen Frauen und Männern - nach Angaben des Statistischen Bundesamtes belief sich der Verdienstabstand zwischen Männern und Frauen bei den Bruttoverdiensten im Jahr 2005 bei Arbeitern und Angestellten auf durchschnittlich etwa 27 Prozent - und münden zum anderen in dem so genannten Vereinbarkeitsproblem von Beruf und Familie. Unterbrochene Berufsbiografien bilden zudem einen der Hauptgründe der Unterrepräsentanz von Frauen in Führungspositionen.
Nicht zuletzt auch in Anbetracht stark gesunkener Geburtenraten und einer zunehmenden Erwerbstätigkeit von Frauen ist das Problem der Vereinbarkeit von Beruf und Familie in den vergangenen Jahren mehr und mehr zu einem Schwerpunkt der Geschlechterpolitik in der Bundesrepublik geworden, wobei zwei Handlungsfelder von besonderer Relevanz sind: der Ausbau der öffentlichen Kinderbetreuung sowie die Reform des Elterngeldgesetzes im Jahr 2007. Mit dieser wurde das im Jahr 1986 eingeführte Elterngeld dahin gehend modifiziert, dass nun in Höhe von 67 Prozent des letzten Nettoeinkommens bis zu maximal 1800 Euro im Monat Lohnersatz geleistet wird. Das Besondere der neuen Eltergeldregelung besteht darin, dass ein Elternteil maximal 12 Monate Elterngeld für sich in Anspruch nehmen kann. Als ein erster Effekt dieser Regelung zeigt sich, dass nun mehr Väter von diesem Recht Gebrauch machen: Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes wurden im Jahr 2007 10,5 Prozent der Anträge auf Elterngeld von Vätern gestellt, während der Anteil der Väter, die vor Inkrafttreten der neue Regelung Erziehungsurlaub beantragten, bei etwa 3 Prozent lag. Diese nach wie vor geringe Väterquote hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass Männer im Hinblick auf eine stärkere Familienorientierung noch immer mit massiven Blockaden auf betrieblicher Ebene konfrontiert sind.
Familienfreundliche Organisationskulturen - so kann eine zentrale Erkenntnis der Geschlechterpolitik in den vergangenen Jahren auf diesem Feld zusammengefasst werden - lassen sich politisch ebenso wenig verordnen wie eine andere Wertigkeit von Frauen- und Männerleben. Ein benachteiligungsfreier Umgang mit unterschiedlichen Lebensmustern und den damit verbundenen Bedürfnis- und Interessenkonstellationen erfordert vielmehr einen Wandel von Organisationskulturen sowie der hinter diesen stehenden Wertemustern und Normalitätsvorstellungen. Die in den vergangenen Jahren mit staatlicher Unterstützung eingerichteten so genannten "lokalen Bündnisse für Familie" könnten hierzu einen wichtigen Beitrag leisten. Eine entsprechende Tarifpolitik der Sozialpartner wäre ein weitere wichtiger Schritt.
Von der Gleichstellung zur Gleichwertigkeit
Die Verfassung der DDR postulierte in Artikel 20 die Gleichberechtigung von Frauen und Männern sowie die vollständige Integration der Frauen in den sozialistischen Arbeitsprozess: Männer und Frauen hatten danach sowohl ein Recht auf als auch eine Pflicht zur Arbeit. Dessen ungeachtet war auch die Geschlechterkultur im zweiten deutschen Staat durch beachtliche Ungleichwertigkeiten gekennzeichnet.
Obwohl fast alle Frauen in der DDR berufstätig waren, lag ihr monatliches Durchschnittseinkommen bis zu 30 Prozent unter dem der Männer. Diese Einkommensdifferenz war auch hier darin begründet, dass Männer- und Frauenberufe ungleich bewertet wurden, dass es einen geschlechtsspezifisch segregierten Arbeitsmarkt und ein geschlechtsspezifisch differenziertes Berufswahlverhalten gab. So wies die DDR im internationalen Vergleich zwar einen hohen Anteil von Frauen in technischen Berufen auf - im Jahr 1988 waren rund 27 Prozent der Studierenden in den technischen Wissenschaften weiblich -, aber im Jahr 1987 konzentrierten sich sechs Zehntel der Schulabgängerinnen auf nur 16 Facharbeiterberufe mit einem Frauenanteil von über 85 Prozent. Im Sozialwesen betrug der Frauenanteil sogar 92 Prozent, im Gesundheitswesen 83 Prozent und im Bildungswesen 77 Prozent.
Das Berufswahlverhalten von Frauen und Männern berührt ein weiteres, geschlechterpolitisch bedeutsames Moment von Geschlechterkulturen: die Geschlechterrollen und die vorherrschenden Geschlechterbilder. Sowohl in der bundesdeutschen Geschlechterpolitik als auch in jener der DDR wurden bzw. werden diese - unterlegt durch gleichlautende Grundannahmen der sozialwissenschaftlichen Geschlechterforschung - allgemein als soziales Konstrukt und von daher als durch Politik veränderbar verstanden. Es wird angenommen, dass Frauen und Männer in ihren Bedürfnislagen gleich sind und grundsätzlich über gleiche kognitive Verarbeitungsmuster verfügen. Die Ursachen für geschlechtsspezifische Unterschiede in den Lebensmustern und im Berufswahlverhalten werden ausschließlich in gesellschaftlich und institutionell vermittelten Lernprozessen gesehen. Vor dem Hintergrund dieser Grundannahmen versucht die bundesdeutsche Geschlechterpolitik seit einigen Jahren mit unterschiedlichen Maßnahmen wie etwa dem so genannten "Girl's Day" oder dem Projekt "Neue Wege für Jungs" das Berufswahlverhalten von jungen Frauen und Männern zu verändern.
Dieses - im Prinzip klassisch behavioristische - Politikmuster basiert auf einer Grundannahme, die von der feministischen Wissenschaftskritik als zutiefst androzentrisch beschrieben wurde: auf der Dualität von (weiblich konnotiertem) Körper und (männlich konnotiertem) Geist, beziehungsweise von (weiblich konnotierter) Natur und (männlich konnotierter) Kultur.
Geschlechterpolitik wäre dann gefordert, diese Unsicherheiten anzunehmen. Konzeptionell könnte dies bedeuten, sowohl prinzipiell Offenheit beim Zugang zu Positionen und Berufen herzustellen als auch Vielfalt zuzulassen, Unterschiedlichkeit als Ressource zu schätzen und - im Sinne des Diversity Management Normalitätskulturen - hin zu mehr Gleichwertigkeit der unterschiedlichen Lebensmuter zu verändern. Die bundesdeutsche Geschlechterpolitik könnte mit diesem Ansatz quasi zu ihren Wurzeln zurückkehren: Eine entsprechende Sichtweise wurde bereits von Elisabeth Selbert im Zusammenhang der Debatten um den Gleichberechtigungs-Artikel des Grundgesetzes formuliert. Für sie war Gleichberechtigung niemals mit Gleichheit oder Angleichung gleichzusetzen. Gleichberechtigung hieß für Elisabeth Selbert immer Gleichwertigkeit. Gleichwertigkeit baut auf der Unterschiedlichkeit von Frauen und Männern auf. Und nur "(...) in einer Synthese männlicher und weiblicher Eigenart sehe ich einen Fortschritt im Politischen, im Staatspolitischen, im Menschlichen überhaupt".