Einleitung
Kinderhaben sei die natürlichste Sache der Welt - hieß es früher. Heute, nach fast einem halben Jahrhundert Geburtenrückgang, wissen wir: Dies ist nicht mehr so. Während Kinderhaben noch vor ein paar Jahrzehnten selbstverständlich zum Frauenleben dazu gehörte, ist es heute zur Option geworden, zu einem Gegenstand des Abwägens, Planens, Entscheidens. Aus dem Kinderhaben ist die Kinderfrage geworden.
In diesem Zusammenhang spielen der Anspruch auf Gleichberechtigung, genauer: die Lücken und Defizite bei der Durchsetzung dieses Anspruchs eine wichtige Rolle. In der Kinderfrage spiegelt sich die "unfertige soziale Revolution" (Arlie Hochschild), ein gesellschaftlicher Umbruch, in dessen Verlauf sich die Leitbilder, Vorgaben, Normen des Frauenlebens teilweise umkehren. Dazu wird im Folgenden in bewusst exemplarischer Form, ein Blick auf die Geschichte der vergangenen 50 Jahre getan.
Blick zurück: Es war einmal ... vor 50 Jahren
Der erste Familienminister: Franz Josef Würmeling war der erste Familienminister der jungen Bundesrepublik, amtierend von 1953 bis 1962, Christdemokrat und Vater von fünf Kindern. In seinen Reden und Schriften zeigt sich exemplarisch ein konservativ ausgerichteter Zeitgeist, geleitet vom Glauben an eine naturgegebene Ordnung:
Leitbild Normalfamilie: Damit war der Minister ganz nah am Leitbild seiner Zeit. In den 1950er und 1960er Jahren gab es in den westlichen Industrieländern ein allgemein anerkanntes, angestrebtes Modell von Familie, das von den meisten Menschen auch tatsächlich praktiziert wurde. Diese Normalfamilie bestand aus erwachsenem Paar mit leiblichen Kindern; die Erwachsenen waren selbstverständlich verschiedenen Geschlechts, also Mann und Frau; sie waren verheiratet und sie blieben dies auch bis zum Tod; und zwischen den beiden bestand eine Arbeitsteilung dergestalt, dass der Mann, der "Ernährer", erwerbstätig war, während die Frau für Heim und Familie die Verantwortung trug.
Aus diesem Leitbild leitete sich das Skript des für Frauen vorgesehene Lebenslaufs ab. Die Stationen hießen, kurz zusammengefasst: "love - marriage - baby carriage". Also im ersten Akt Auftritt des Märchenprinzen und Begegnung der Herzen; im zweiten der standesamtlich und möglichst auch kirchlich besiegelte Bund; und dann im dritten Akt, als Krönung der Liebe, die gemeinsamen Kinder.
Wie verbreitet solche Leitbilder waren, zeigt eine empirische Untersuchung aus dem Jahr 1959.
Auf dem Weg in die Gegenwart
Tempi passati - wie hat sich die Welt seither verändert. Der Gleichberechtigungsgrundsatz, nach zähem Ringen 1958 in der Verfassung verankert, ist nach weiteren Jahren des Ringens auch in der Rechtsprechung umgesetzt worden, und ebenso sind in anderen Bereichen der Gesellschaft Veränderungen in Gang gekommen, welche die Konturen des Frauenlebens veränderten, dem Leben der Frauen eine neue Richtung gaben.
Das heißt, auch Frauen wird nun die Aufnahme in die individualisierte Leistungsgesellschaft gewährt. Jedoch gilt diese immer nur auf Bewährung, nur solange, wie die Frauen bereit sind, ihr Leben an den Erwartungen der individualisierten Gesellschaft auszurichten. Damit muss sich zwangsläufig die Frage stellen, wie viel Raum noch für Mutterschaft bleibt.
Die Gebote von Mobilität und Flexibilität: Auf dem Arbeitsmarkt ist in den vergangenen Jahrzehnten der Anteil der Frauen deutlich gestiegen, Berufstätigkeit ist für junge Frauen etwas Selbstverständliches geworden. Gleichzeitig ist auch die Berufswelt in Umbruch geraten, nicht zuletzt im Gefolge einer Globalisierung, die mit zunehmendem wirtschaftlichen Austausch und einer Öffnung der Märkte einhergeht, damit gleichzeitig auch mehr Konkurrenzkampf, ein schnelleres Tempo und verstärkten Innovationsdruck bringt. Unter diesen Bedingungen verliert die traditionelle Form der Berufsarbeit, mit einem fest umrissenem Tätigkeitsbereich und einer geregelten Folge der beruflichen Stationen, immer mehr an Terrain, und an ihre Stelle schiebt sich ein Nebeneinander verschiedenster Beschäftigungsformen, die offener und beweglicher sind, aber zugleich auch instabiler, anfälliger, risikoreicher.
Hinzu kommt, dass es auch den Arbeitsplatz fürs Leben nicht mehr gibt. Während die Beschäftigten in der Vergangenheit in der Regel über viele Jahre, wenn nicht gar Jahrzehnte im selben Betrieb blieben, setzt sich in der Arbeitswelt heute zunehmend ein Trend zu befristeten Verträgen und Beschäftigungsformen durch; und dies in den meisten Fällen nicht freiwillig - jedenfalls nicht freiwillig aus Sicht der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. "Hilfe, mein Arbeitsplatz wandert aus" ist ein Satz, der das Zeitalter der Globalisierung kennzeichnet. In vielen westlichen Ländern ist die Arbeitslosigkeit drastisch gestiegen. Und von den Menschen, die heute einen Arbeitsplatz haben, wissen viele nicht, ob sie ihn morgen noch haben werden.
Darüber hinaus heißen die Postulate, welche die Arbeitswelt immer stärker bestimmen, Flexibilisierung und Deregulierung. Statt Kontinuität zu bieten, ist die Bereitschaft zum vielfachen Wechsel gefordert. In immer mehr Berufsfeldern werden geographische und zeitliche Mobilität zur selbstverständlichen Erwartung, sind sie doch ein fester Bestandteil des Arbeitsalltags. Und das hat Folgen: In einer so beschaffenen Welt sind die Bedürfnisse von Kindern ein Hemmschuh. Sie verengen den Optionsraum, die Rücksichtnahme darauf ist verteidigungspflichtig, ja grundsätzlich verdächtig: abweichendes Verhalten. Aus dem Kind wird der "Störfall Kind".
Wer bereit ist, den neuen Geboten zu folgen und sein Leben ganz daran ausrichtet, kann - vielleicht, möglicherweise, unter günstigen Bedingungen - auf der Karriereleiter weit nach oben gelangen. Aber wer sich darauf nicht einlassen kann oder will, bekommt umso sicherer die Sanktionen zu spüren. In die Randzonen der Berufshierarchie abgedrängt werden diejenigen, die in ihrer Verfügbarkeit möglicherweise eingeschränkt sind und ihren Einsatz nicht beliebig ausdehnen können - zum Beispiel, weil sie auch noch andere Verpflichtungen zu erfüllen haben. In der Konsequenz trifft die Verschärfung der Anforderungen nicht alle gleichermaßen, sondern bestimmte Gruppen mehr als andere. Es entsteht eine neue Polarisierung zwischen oben und unten, die zwar äußerlich geschlechtsneutral ist, sich in der Praxis aber zuungunsten der Frauen und insbesondere der Mütter auswirkt.
Die Pille: Mit der Pille, die 1961 in Deutschland auf den Markt kam und in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre allmählich größere Verbreitung gewann, begann eine neue Epoche für Frauen. Wahlfreiheit lautete die neue Verheißung: Frauen konnten selber entscheiden, wann sie ein Kind und wie viele Kinder sie insgesamt wollten. Sie konnten abwarten, bis der Kinderwunsch in die sonstigen Vorgaben in ihrem Leben hineinpasste, oder sie konnten sich gegebenenfalls auch dagegen entscheiden. Und wie ist die tatsächliche Entwicklung verlaufen? Ist die Verheißung der Wahlfreiheit in Erfüllung gegangen?
Wenn man es mit der Situation früherer Zeiten vergleicht, hatte die Pille zweifellos einen wichtigen Durchbruch in der Geschichte der Frauen zur Folge. Zwar waren seit langem verschiedene Verfahren der Geburtenkontrolle bekannt, aber die Pille war weit effektiver. Jetzt endlich gab es ein Verhütungsmittel, das einfach anzuwenden und hochgradig zuverlässig war, jetzt endlich war die Angst vor einer Schwangerschaft nicht mehr allgegenwärtig. Und indem Frauen mehr Kontrolle und Verfügung über ihre Fruchtbarkeit gewannen, erhöhte sich zugleich auch die Autonomie über ihr Leben insgesamt. In diesem Sinne bedeutete die Pille unbestreitbar einen enormen Fortschritt.
Eine der Folgen war, dass viele Frauen nun abzuwarten begannen. Sie schoben den Kinderwunsch im Lebenslauf weiter hinaus. Sie versuchten, den "richtigen Zeitpunkt" zu finden, die Bedingungen sollten stimmten: die Partnerbeziehung, der Ausbildungsabschluss, der Berufseinstieg, die Wohnung, das Einkommen. Als die Voraussetzungen einigermaßen günstig erschienen - oder als der Kinderwunsch stärker wurde -, setzten sie die Pille ab und wurden Mutter.
Für manche Frauen ist allerdings nie der richtige Zeitpunkt gekommen. Es gab immer ein Teilchen im Puzzle, das gerade nicht stimmte. Waren sie zum Beispiel endlich im Beruf etabliert und konnten sich eine Baby-Pause leisten, ging vielleicht die Partnerschaft in die Brüche. Oder: Hatten sie endlich den richtigen Partner gefunden, ging möglicherweise der Job verloren und die finanzielle Basis wurde zu unsicher. Obwohl sie "eigentlich" Kinder gewollt hatten, ergab es sich nicht. Je besser sie den Zeitpunkt planen, je mehr sie möglichst "optimale" Voraussetzungen schaffen wollten - desto mehr wuchs die Wahrscheinlichkeit, dass sie das Kinderhaben am Ende verpassen würden.
Ein neues Leitbild: Warum aber, die Frage liegt nahe, betrieben die Frauen das Planen so lange weiter, warum ließen sie nicht irgendwann der Natur ihren Lauf? Um ihr Verhalten besser verstehen zu können, ist es nützlich, auf Erfahrungen aus der Geschichte der Technik zurückzugreifen. Demnach, so hat sich vielfach gezeigt, bestehen enge Verbindungslinien zwischen technischer und sozialer Entwicklung.
Genau diese Entwicklung lässt sich auch im Gefolge der Einführung der Pille beobachten. Indem die Pille enorm schnell in die Schlagzeilen der Massenmedien rückte und zu vehementen Diskussionen in der Öffentlichkeit führte, wurde zugleich ein Bewusstseinsprozess ausgelöst. Bis ins letzte Dorf hinein wurde unmittelbar sichtbar, dass die Biologie nicht mehr Schicksal ist, dass es vielmehr Optionen gibt: die Entscheidung für oder gegen ein Kind. Und im Lauf der Jahre verschoben sich allmählich die Gewichte der "Beweislast". Unter der Hand bahnte sich eine Veränderung der gesellschaftlich herrschenden Moral an: Aus dem Entscheidenkönnen wurde die Pflicht zur bewussten Entscheidung. Oder noch pointierter gesagt, mit der Verfügbarkeit der Pille wurde die Entscheidung für oder gegen ein Kind weiter "privatisiert": aus den Zwängen der Biologie entlassen und in die Verantwortung von Frau und Mann gelegt. "Die neue Moral heißt bewusste, rationale, technisch-sichere Verhütung. Ihr Leitbild ist der aufgeklärte moderne Mensch, der verantwortungsbewusst mit dem Akt der Zeugung umgeht (...) Fast wird derjenige verdächtig, der im Zeitalter der unbegrenzten Verhütungsmöglichkeiten keinen Gebrauch davon macht. Verhütung wird vom notwendigen Übel zur aufgeklärten Staatsbürgerpflicht".
Und diese Pflicht trifft nun vor allem die Frauen. Sie sind es, die mit dem "Störfall Kind" verantwortungsbewusst umgehen sollen, damit ihre Chancen im Bildungssystem und in der Berufswelt nicht eingeschränkt werden. Sie sollen Mutterschaft so unauffällig und so effizient wie möglich organisieren - dafür, so die Verheißung, dürfen sie dann auch an den Segnungen der Moderne teilhaben. Wie oft diese Verheißung in Erfüllung geht, ist eine andere Frage. Aber offensichtlich ist, dass hier ein neues Leitbild seinen Aufstieg erlebt.
So das Ideal, das die individualisierte Leistungsgesellschaft für Frauen entwirft. In diesem Leitbild steckt jedoch auch eine neue Gefahr, nämlich die Planungsfalle.
Die Familienaufgaben: wer macht was? In den 1970er Jahren, als die neue Frauenbewegung ihren Aufstieg erlebte, machte sie die vorherrschende Arbeitsteilung - der Mann der Ernährer, die Frau zuständig für Heim und Familie - zum Gegenstand einer umfassenden Grundsatzkritik und eines neuen Gesellschaftsentwurfs. Beide Geschlechter, so die revolutionäre Forderung, sollten an beiden Bereichen teilhaben. Und das hieß im Klartext: Männer sollten die Arbeit im Privaten mit übernehmen. Sie sollten putzen, waschen, kochen und Kinder wickeln.
Seit jener Zeit ist die Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern tatsächlich in Bewegung geraten, das steht außer Frage. Aber gemessen an dem Ziel, das anvisiert worden war, ist die Bewegung in ihrer Reichweite bescheiden geblieben. Aus der Vielzahl der Studien, die sich mit der Arbeitsteilung im Privaten befassen, zeichnet sich immer wieder ein ähnliches Ergebnis ab. Demnach, und das ist gewissermaßen die Vorzeige-Seite des Wandels, haben viele Männer der jüngeren Generation tatsächlich ein engeres Verhältnis zu ihren Kindern entwickelt. Sie spielen mehr mit ihnen, sie bringen sie morgens zum Kindergarten oder abends zu Bett. Aber auf der Kehrseite zeigt sich, dass es bis heute die Frauen sind, die den mit Abstand größten Teil der Kinderversorgung und -erziehung übernehmen. Und dies gilt umso mehr für die allgemeinen Aufgaben im Haushalt, da bleibt die Beteiligung der Männer erst recht bescheiden. In diesem Sinne heißt es beispielsweise im Siebten Familienbericht: "Die Beteiligung von Vätern an der Betreuung und Erziehung ihrer Kinder hat (...) kontinuierlich zugenommen. Die Hauptzuständigkeit für die Kinder liegt jedoch nach wie vor bei den Müttern (...) Die Väter (...) beteiligen sich in erster Linie an Aktivitäten, die einen eher spielerischen Charakter haben, während Routinetätigkeiten, Versorgungsaufgaben und die Organisation des Alltags mit Kind vorwiegend in der Zuständigkeit der Mutter verbleiben".
Ob eine darüber hinausgehende Beteiligung am Widerstand der Betriebe scheitert oder am mangelnden Willen der Männer, die zu Putzarbeit und ähnlichen Diensten wenig Neigung entwickeln, lässt sich anhand der vorliegenden Daten nicht klar feststellen. Aber so oder so, das Ergebnis ist unstrittig: Einer deutlichen Zunahme der Zahl der engagierten Freizeit- und Spielväter steht ein weit geringerer Anstieg männlicher Einsatzbereitschaft bei den Routineaufgaben des Familienalltags gegenüber.
Zu dieser Diskrepanz zwischen Gleichberechtigungsanspruch und gelebter Realität trägt in jedem Fall bei, dass auf der Ebene der Institutionen die Grundfesten des Alten erhalten blieben, Bedingungen, die das Alleinverdienermodell stabilisieren: so das Ehegatten-Splitting im Steuerrecht, eine Prämie für die Nicht-Erwerbstätigkeit der Frau; die Halbtagsschule im Bildungssytem und damit die Mutter als heimliche Hilfslehrerin der Nation; und allgegenwärtig der Rabenmutter-Verdacht, Quelle ewigen Schuldbewusstseins berufstätiger Mütter; nicht zu vergessen die regelmäßig wiederkehrenden Debatten über Geburtenrückgang und Zukunft der Renten, verbunden mit Lobliedern auf das Glück des Kinderhabens - und das alles immer mit Blick auf die Frauen.
Während andere westliche Länder sich für neue Prioritäten und einen klaren Kurswechsel entschieden, hat die Familienpolitik hierzulande einen Schlingerkurs verfolgt, zwischen verschiedenen Akteuren und Leitbildern lavierend. Sie hat konsequent einen Kurs der Nichtkonsequenz gesteuert, ein Angebot der bunten Häppchen: für jeden etwas.
Jedoch reichten die bunten Häppchen nicht aus, um Wahlfreiheit wirklich lebbar zu machen für diejenigen, die beides wollten, Beruf und Familie. Viele junge Eltern rutschten unter der Hand in eine traditionelle Arbeitsteilung zurück, die sie so nie gewollt hatten. Viele junge Frauen, mit dem Versprechen von Gleichberechtigung, Chancengleichheit, eigenem Leben aufgewachsen, mussten erkennen, dass diesem Versprechen ein kleingedruckter Hinweis anhängt: Gilt nicht für Mütter! Sie mussten feststellen, dass Muttersein eine biographische Kehrtwende verlangt: keine Freizeit mehr im Sinn freier Gestaltung, stattdessen Dauerverantwortung für das Kind; der Alltag auf den Radius einer Drei-Zimmer-Wohnung beschränkt (oder auf die Doppelhaushälfte einer Neubausiedlung am Stadtrand); kein eigenes Einkommen mehr, oder nur noch spärliche Reste davon, stattdessen finanzielle Abhängigkeit; die in langen Jahren erworbene Ausbildung nicht mehr gefragt und nicht mehr gebraucht, stattdessen Bilderbuch-Sandkasten-Spielplatz, das kleinkindgerechte Dauerprogramm.
Welche Zukunft?
In den 1970er Jahren, als der Geburtenrückgang allmählich ins öffentliche Bewusstsein geriet, erwogen angesehene Experten, die Frauen gegebenenfalls mit den Mitteln gesetzlichen Zwangs zum Rückzug aus der Berufswelt und hinein in die Kinderzimmer zu bewegen. "Könnte man nachweisen, dass die verstärkte Erwerbstätigkeit verheirateter Frauen, während der Zeit, in der die größte Zahl von Kindern geboren wird, zu einem Geburtenrückgang führt, der die Erhaltung der Bevölkerungszahl in frage stellt, wäre der Staat legitimiert, einer solchen Entwicklung entgegenzutreten"
Heute dagegen, zu Beginn des 21. Jahrhunderts, sind aus der Wissenschaft ganz andere Empfehlungen zu hören. Das Umdenken begann, als Bevölkerungs- und Familienforscher der Frage nachgingen, warum manche europäische Länder deutlich höhere Geburtenzahlen aufweisen als andere. In der Folge geriet die Familien- und Geschlechterpolitik der jeweiligen Länder ins Blickfeld, und im Verlauf vieler Analysen zeichnete sich ein Ergebnis ab, das in deutlichem Gegensatz zu gängigen Erwartungen stand: Diejenigen Länder, welche die Berufstätigkeit von Frauen und Müttern gezielt unterstützen - zum Beispiel durch Angebote zur besseren Vereinbarkeit von Beruf und Familie, so etwa Möglichkeiten der institutionellen Kinderbetreuung -, können im internationalen Vergleich die höchsten Geburtenzahlen aufweisen. Am unteren Ende der Skala befinden sich dagegen diejenigen Länder, deren Politik darauf abzielt, Mütter im Radius von Haus-und-Heim zu halten. Der Erfolg solcher Politik ist, dass viele junge Frauen den Kinderwunsch aufgeben.
Auf der Basis dieses internationalen Vergleichs kamen immer mehr Forscher zu folgender Schlussfolgerung: Die Umsetzung vorhandener Kinderwünsche setzt eine Familienpolitik voraus, die den Wandel im Geschlechterverhältnis nicht abzubremsen versucht, sondern im Gegenteil aktiv unterstützt. Das wird Reformen auf vielen Ebenen der Gesellschaft erfordern - in Bildung, Arbeitsmarkt, Steuerrecht usw. -, die Abkehr von allen institutionellen Vorgaben, die direkt oder indirekt das traditionelle Geschlechterverhältnis stabilisieren. Die Devise heißt nun: Mehr Gleichberechtigung wagen. Wenn die moderne Gesellschaft mehr Kinder will, dann muss sie dafür mehr Gleichberechtigung bieten. Das eine ist nicht ohne das andere zu haben. In diesem Sinne formulieren etwa die Autoren des 2006 erschienenen Siebten Familienberichts: Es "geht darum, (...) Chancen zur partnerschaftlichen Konstruktion von Familie zu stärken. Andere europäische Länder (...) haben die Zeichen der Zeit früh erkannt und die Erwerbs- und Familientätigkeit beider Eltern ebenso als Normalfall zu stützen begonnen wie die außerhäuslichen Förderarrangements für Kinder".
Die entscheidende Frage ist freilich, inwieweit die Politiker und Politikerinnen hierzulande zu solchen Reformen bereit sind. Immerhin, beim Blick auf das Familienministerium werden Signale in dieser Richtung erkennbar. Ein halbes Jahrhundert nach Franz-Josef Würmeling heißt der zuständige Minister Ursula van der Leyen, ist also eine Frau, der CDU angehörend, dazu siebenfache Mutter. Sie hat es zu ihrem zentralen Anliegen gemacht, die Berufstätigkeit von Müttern zu erleichtern, hat in diesem Sinne die Bedingungen des Elterngeldes neu definiert, zwei Vätermonate eingeführt, einen Ausbau der Kinderkrippen durchgesetzt. Was dem ersten Familienminister der Republik "Unheil" war, ist für die Familienministerin heute das anzustrebende Ziel. Dieser Kurswechsel ruft höchst unterschiedliche Reaktionen hervor. Während von der Leyen in Teilen der eigenen Fraktion auf Ablehnung bis erbitterten Widerstand stößt, gewinnt sie in der Bevölkerung die Zustimmung breiter Gruppen, wird Politstar und Medienliebling.
Solche Widersprüche sind Teil der "unfertigen sozialen Revolution" im Geschlechterverhältnis. Ob der neue Kurs sich auf Dauer durchsetzen kann, oder ob sich die Widerstände am Ende als stärker erweisen - in Betrieben und Chefetagen, unter Kirchenvorständen und Vertretern der Medien -, das ist eine offene Frage. Aber wie auch immer die Zukunft aussehen mag, beim Blick auf die 1970er Jahre kann man in jedem Fall einen Fortschritt feststellen. Wenn die Empfehlungen der damaligen Zeit heute irritierend bis anstößig klingen, so zeigt dies, dass der Gleichberechtigungsgrundsatz heute in weit stärkerem Maß Teil des allgemeinen Bewusstseins ist - und dass wir Normbrüche weitaus früher wahrnehmen, als dies noch in den 1970er Jahren der Fall war. Frauen per Zwang ins Mutterglück treiben? Solche Vorschläge vorzubringen, würde heute wohl keiner mehr wagen.