Das Internet ist heutzutage für viele der wichtigste Ort für Informationsbeschaffung und Meinungsaustausch.
Kulturell gewachsene, gesellschaftlich etablierte Normen kommen im Internet nur eingeschränkt zur Geltung. Ein kurzer Blick in Facebook-Threads oder in die Kommentarbereiche von Onlinemedien genügt: Viele Web-User*innen folgen in ihrem Kommunikationsverhalten keiner Netiquette, sondern scheinen es auf einen konfrontativen Umgang abgesehen zu haben. Falls es aufgrund einer Missachtung von Verhaltensregeln zu Sanktionen kommt, bewegen sich diese im Spielraum zwischen der Löschung eines Kommentars und der Deaktivierung eines ganzen Profils – nur in seltenen Fällen kommt es auch zu Strafanzeigen. Im Verhältnis zu Sanktionen in nicht-digitalen Kontexten, etwa der Konfrontation mit einer Person oder der öffentlichen Ächtung, wirken diese Schritte weitaus weniger bedrohlich. Insofern kann das Internet als eine Grauzone verstanden werden, in der Normen des respektvollen Umgangs in den Hintergrund treten.
Diese Beobachtungen sind nicht überraschend. Immer wieder wurden sie in den vergangenen Jahren diskutiert – sei es in Bezug auf Cybermobbing an Schulen 2015, die #MeToo-Bewegung oder die Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten 2016. Sprachliche Verrohung und deren Akzeptanz wird jedoch zu einer manifesten Gefahr, wenn sie sich vor dem Hintergrund einer Hassideologie abzeichnet – sei es in Bezug auf Rassismus im Kontext der Ankunft von Geflüchteten in 2015, sei es hinsichtlich Antisemitismus, der in Deutschland mehrheitsfähig war und den viele für überwunden hielten.
Hatten zuvor vor allem Stiftungen und Sicherheitsbehörden auf Radikalisierungstendenzen und eine Zunahme von antisemitischer und weiterer Hassrede
Kommunikationsbedingungen
Zu den Kommunikationsbedingungen im Internet gehören eine mehr oder weniger garantierte Anonymität und der Wegfall sozialer Kontrolle.
Diese Bedingungen spielen eine entscheidende Rolle bei der Hervorbringung antisemitischer Weltbilder – seien es Dämonisierungen von jüdischen Menschen oder Formen der Holocaustrelativierung oder -leugnung. Für den deutschen Kommunikationskontext bedeutet dies, dass die "Kommunikationslatenz", also die nach 1945 einsetzende Verlagerung von Antisemitismus vom öffentlichen in den privaten Diskurs,
Die Vernetzung hat zweifelsohne positive Seiten, doch führt sie auch dazu, dass jene, die antisemitische Haltungen vertreten, sich gegenseitig leichter bestätigen und Allianzen formen können. Auf diese Weise entstehen Bewegungen, die ohne die Online-Vernetzung in dieser Form nicht aufgetaucht wären. Radikalisierungstrends, wie sie sich in den vergangenen Jahren bei White-supremacy-Gruppen ("weiße Vorherrschaft") in den USA abzeichneten, fußen auf sich viral ausbreitenden Feindbildern. So integrierte beispielsweise die anfangs "nur" frauenfeindliche und homophobe Incel-Bewegung durch Online-Interaktionen zusätzlich rassistische und antisemitische Stereotype in ihr Weltbild.
Andere User*innen können auf diese Weise in ihrem Denken beeinflusst werden, zumal Untersuchungen zeigen, dass die in einer Online-Debatte zur Schau gestellten Meinungen nicht selten als Spiegelbild der öffentlichen Meinung (miss)verstanden werden.
Hate Speech und Hate Crime
Es ließen sich in den vergangenen Jahren diverse Vorfälle physischer Gewalt in der analogen Welt ausmachen, die im Internet sprachlich vorgeebnet wurden. In Bezug auf den Anschlag auf die Tree-of-Life-Synagoge im US-amerikanischen Pittsburgh im Oktober 2018 veröffentlichte beispielsweise der britische "Guardian" zahlreiche Nachweise für vorherige Aktivitäten des Täters Robert Bowers auf einer rechtsextremen Social-Media-Plattform.
Diese Korrelationen führen vor Augen, was in der geschichtswissenschaftlichen Antisemitismusforschung mehrfach unterstrichen wurde: Über Jahrhunderte eingeübte und gepflegte antisemitische Stereotype, die "die Juden" als die Repräsentant*innen des Bösen, des "minderwertigen" Lebens und zugleich als Zentrum gefährlicher Macht inszenieren, sind Teil des kulturellen Gedächtnisses. Im Falle einer institutionalisierten Rechtfertigung dieser Hassideologie durch entsprechende politische Machtentfaltung oder durch einen Rückgang staatlicher Kontrolle kann Hassrede physische antisemitische Gewalt bis hin zur Vernichtung folgen, wie sie die NS-Verbrechen (als Klimax eines über Jahrhunderte hinweg tradierten Hasses) waren.
Diese Mechanismen walten ebenso in der Gegenwart: Sobald "den Juden" digital von vielen, sich gegenseitig bestärkenden User*innen kontinuierlich die Rolle der Schuldigen zugewiesen wird – sei es hinsichtlich der Terroranschläge vom 11. September 2001, der Finanz- und Wirtschaftskrise ab 2007, der Klimaerwärmung oder der Ankunft von Geflüchteten ab 2015 – kann dies fatale Folgen für den Umgang mit ihnen haben.
Covid-19-Pandemie
Dies gilt auch mit Blick auf die Covid-19-Pandemie, die zu einer rapiden Zunahme von Verschwörungsmythen führt.
Dürfte es auch jungen Menschen beizeiten schwerfallen, zwischen seriösen Quellen und emotionalisierenden, die aktuelle Lage und deren Hintergründe verzerrenden Inhalten zu unterscheiden, lässt sich jedoch beispielsweise in Anbetracht der deutschlandweit stattfindenden "Hygiene-Demos" stark vermuten, dass ältere Generationen für Fantasien hinsichtlich eines "geheimen Plans" ebenso anfällig sind. Kritik an Überwachungsmaßnahmen, an wirtschaftlichen und sozialen Einschränkungen oder an der Globalisierung – all dies sind Einfallstore, um legitime kritische Rede zu instrumentalisieren und Abwertung und Ausgrenzung salonfähig zu verpacken.
Handlungsimperative
Dieser Exkurs zu antisemitischen Web-Diskursen vor dem Hintergrund der Covid-19-Pandemie führt vor Augen, wie relevant die Auseinandersetzung mit den Entwicklungen im Internet für ein Verständnis hinsichtlich des aktuellen und zukünftigen politischen Klimas in unserer Gesellschaft ist. Fokussierte die Antisemitismusforschung bisher vor allem nicht-digitale Kontexte, formte sich mit der Etablierung von internetbezogenen Zugängen Uneinigkeit hinsichtlich eines adäquaten Untersuchungsdesigns: Einerseits muss die Komplexität des Mediums sowie der untersuchten Muster, andererseits der extreme Umfang von Daten berücksichtigt werden. In den Disziplinen der angewandten Linguistik und kritischen Diskursanalyse nähert man sich Web-Diskursen häufig über qualitative Detailanalysen an.
Dieser Blick auf die Forschungslandschaft führt vor allem zu einer Einsicht: Wenn es um die Stellung von Antisemitismus im Internet geht, muss eingeräumt werden, dass genauere Antworten noch nicht gegeben werden können. Antisemitismus ist – wie jede Hassideologie, die unter anderem aufgrund ihrer Brisanz sprachlich komplexe Muster auslöst – online eine Unbekannte. Wir können gegenwärtig weder den aktuellen Stand bestimmen noch sagen, wie sich Judenfeindschaft in den nächsten Jahren entwickelt. In den Studien der vergangenen Jahre zeigt sich, dass Antisemitismus im Internet in einem bestimmten Ausschnitt zunimmt. Insofern ist es wahrscheinlich, dass das Problem wächst. Diese Einzelbeobachtungen kann man allerdings (noch) nicht mit validen Daten generalisieren, da die zahlreichen unterschiedlichen Diskursauslöser und deren Folgen bisher nicht flächendeckend in ihrer Komplexität untersucht werden konnten.
Ein vielversprechender Zugang wird sein, über Mixed-Methods-Analysen die Vorteile qualitativer und quantitativer Untersuchungsdesigns zusammenzuführen. Wenn in einem ersten Schritt über Detailanalysen das Repertoire von antisemitischer Hassrede bestimmt wird, so kann anschließend über quantitative Zugänge die Frequenz dieser Muster flächendeckend erfasst werden. Die Brücke zwischen diesen beiden Methoden kann über eine sprachwissenschaftlich fundierte Künstliche-Intelligenz-Forschung geschlagen werden, die in den nächsten Jahren auch von der Antisemitismusforschung berücksichtigt werden sollte. Denn neben der Stärkung und Diversifizierung von Hassrede macht das Internet individuelle und/oder gruppenbezogene Trends auch transparent. Wenn sich beispielsweise eine Person einer bestimmten Hassideologie zuwendet, sie reproduziert und letztlich gar zur Waffe greift, kann dieser Radikalisierungsprozess im Zuge von Web-Analysen nachvollzogen werden. Das Internet hat also nicht nur fatale Trends ausgelöst, es macht sie auch verfolg- und somit potenziell kontrollierbar. Mit adäquaten Analysemethoden kann es als Tool verwendet werden, um auch jene Umschlagpunkte hin zu antisemitischer, rassistischer, sexistischer und anderer Gewalt zu erkennen, die nicht mehr von klar definierten Gruppen, sondern von Personen ausgeht, die in nicht-digitalen Kontexten gegebenenfalls nicht auffallen und sich weder digital noch analog in Gruppen organisieren.
Sobald es verlässliches Wissen über die Natur von Antisemitismus im Internet gibt, kann dieses zudem in präventive Maßnahmen überführt werden. Junge Menschen im Schulalter werden weniger von Karikaturen im "Stürmer"-Stil mitgerissen als von aktuellen Verschwörungsmythen zum 11. September 2001, zur sogenannten Flüchtlingskrise oder zur Covid–19-Pandemie. Lehrkräfte sollten insofern die Spannweite gegenwärtiger Hassrede kennen, um Schüler*innen dort abzuholen, wo sie stehen, und pädagogisch überzeugende Angebote formulieren zu können. Einheiten der Medienkompetenz, die sich dezidiert gegen Hassrede, Verschwörungsmythen und Fake News richten, sind von fundamentaler Bedeutung, um einer online beförderten Radikalisierung der Gesellschaft entgegenzuwirken.