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Antisemitismus im Internet

Matthias J. Becker

/ 14 Minuten zu lesen

Das Internet ist heutzutage für viele der wichtigste Ort für Informationsbeschaffung und Meinungsaustausch. Durch die bidirektionalen und interaktionalen Dimensionen des Internets kann sich der Wissenstransfer in verschiedenen Richtungen vollziehen. Das ist vergleichsweise neu und bedeutet, dass Impulse – egal, von wem sie kommen – ein gesellschafts- und realitätsprägendes Potenzial entfalten können, sofern sie prominent platziert und von der Online-"Community" wohlwollend rezipiert werden. Aus dieser Demokratisierung der Medienproduktion resultiert ein partieller Bedeutungsverlust prominenter, unidirektional funktionierender Institutionen der Meinungsbildung wie den Printmedien, dem Fernsehen und dem Radio. Dies hat wiederum zur Folge, dass vielfach weder eine Qualitätssicherung der rezipierten Informationen noch eine (bisher mehr oder weniger erfolgreiche) Distanzierung von Hassrede und Fake News noch gewährleistet werden können.

Kulturell gewachsene, gesellschaftlich etablierte Normen kommen im Internet nur eingeschränkt zur Geltung. Ein kurzer Blick in Facebook-Threads oder in die Kommentarbereiche von Onlinemedien genügt: Viele Web-User*innen folgen in ihrem Kommunikationsverhalten keiner Netiquette, sondern scheinen es auf einen konfrontativen Umgang abgesehen zu haben. Falls es aufgrund einer Missachtung von Verhaltensregeln zu Sanktionen kommt, bewegen sich diese im Spielraum zwischen der Löschung eines Kommentars und der Deaktivierung eines ganzen Profils – nur in seltenen Fällen kommt es auch zu Strafanzeigen. Im Verhältnis zu Sanktionen in nicht-digitalen Kontexten, etwa der Konfrontation mit einer Person oder der öffentlichen Ächtung, wirken diese Schritte weitaus weniger bedrohlich. Insofern kann das Internet als eine Grauzone verstanden werden, in der Normen des respektvollen Umgangs in den Hintergrund treten.

Diese Beobachtungen sind nicht überraschend. Immer wieder wurden sie in den vergangenen Jahren diskutiert – sei es in Bezug auf Cybermobbing an Schulen 2015, die #MeToo-Bewegung oder die Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten 2016. Sprachliche Verrohung und deren Akzeptanz wird jedoch zu einer manifesten Gefahr, wenn sie sich vor dem Hintergrund einer Hassideologie abzeichnet – sei es in Bezug auf Rassismus im Kontext der Ankunft von Geflüchteten in 2015, sei es hinsichtlich Antisemitismus, der in Deutschland mehrheitsfähig war und den viele für überwunden hielten.

Hatten zuvor vor allem Stiftungen und Sicherheitsbehörden auf Radikalisierungstendenzen und eine Zunahme von antisemitischer und weiterer Hassrede im World Wide Web hingewiesen, erfuhren diese Entwicklungen in den vergangenen Jahren auch erhöhte Aufmerksamkeit vonseiten der Antisemitismusforschung. Die Forderung, diese Trends und ihre Auswirkungen zur Kenntnis zu nehmen und ihnen mit adäquaten Methoden zu begegnen, wurde jedoch wissenschaftlich, politisch und medial relativ spät formuliert. Dies kann als Versäumnis mit Demokratie und Pluralismus gefährdenden, teils tödlichen Folgen gesehen werden. Umso wichtiger ist es nun, mit den digitalen Entwicklungen Schritt zu halten. Nur unter Berücksichtigung der Diskurse im Internet lassen sich jene Debatten der Gegenwart verstehen und einordnen, die das politische und gesellschaftliche Leben von morgen prägen können.

Kommunikationsbedingungen

Zu den Kommunikationsbedingungen im Internet gehören eine mehr oder weniger garantierte Anonymität und der Wegfall sozialer Kontrolle. User*innen können sich relativ frei und ungezügelt bewegen. Dies kann, begünstigt durch die Geschwindigkeit bei der Meinungsäußerung, zu Beiträgen führen, die den Tatbestand der Volksverhetzung (§130 Strafgesetzbuch) erfüllen. Durch anonymisierte beziehungsweise pseudonymisierte und beschleunigte Interaktion sowie durch die Konkurrenzsituation bei der tabubrechenden Verwendung von verbalen und visuellen Mitteln kommt es zu einer kommunikativen Entgrenzung, die vieles sagbar werden lässt. Im Web herrscht also eine potenziell permanente Zugänglichkeit von Hassrede – und zwar auch auf Seiten, deren Provider sich klar von Antisemitismus distanzieren.

Diese Bedingungen spielen eine entscheidende Rolle bei der Hervorbringung antisemitischer Weltbilder – seien es Dämonisierungen von jüdischen Menschen oder Formen der Holocaustrelativierung oder -leugnung. Für den deutschen Kommunikationskontext bedeutet dies, dass die "Kommunikationslatenz", also die nach 1945 einsetzende Verlagerung von Antisemitismus vom öffentlichen in den privaten Diskurs, online erodieren kann, weil die Grenze zwischen Öffentlichem und Privatem verschwimmt. Die Anonymität des Internets trägt auch dazu bei, dass antisemitische Äußerungen zunehmend explizit geäußert werden. Der öffentliche Diskurs des 20. Jahrhunderts führt vor Augen, dass sich Antisemitismus wie ein Chamäleon dem jeweiligen Kontext anzupassen vermag. Dies gilt auch für das Internet. Gewissermaßen "im geschützten Raum" können User*innen über eine Vielzahl an alten und neuen, elaborierten und drastischen Sprachgebrauchs- und Bildmustern ihren Hass rezipient*innenwirksam kommunizieren. Die Grauzone des Internets ist daher ein Katalysator für einen wiedererstarkenden Antisemitismus.

Die Vernetzung hat zweifelsohne positive Seiten, doch führt sie auch dazu, dass jene, die antisemitische Haltungen vertreten, sich gegenseitig leichter bestätigen und Allianzen formen können. Auf diese Weise entstehen Bewegungen, die ohne die Online-Vernetzung in dieser Form nicht aufgetaucht wären. Radikalisierungstrends, wie sie sich in den vergangenen Jahren bei White-supremacy-Gruppen ("weiße Vorherrschaft") in den USA abzeichneten, fußen auf sich viral ausbreitenden Feindbildern. So integrierte beispielsweise die anfangs "nur" frauenfeindliche und homophobe Incel-Bewegung durch Online-Interaktionen zusätzlich rassistische und antisemitische Stereotype in ihr Weltbild. Diese Tendenzen lassen sich nicht mehr vom Medium losgelöst betrachten. Das World Wide Web, wie es heute vorliegt, ermöglicht nicht nur den Hass, der unterschiedliche Gruppen miteinander verbindet, sondern es erzeugt ihn.

Andere User*innen können auf diese Weise in ihrem Denken beeinflusst werden, zumal Untersuchungen zeigen, dass die in einer Online-Debatte zur Schau gestellten Meinungen nicht selten als Spiegelbild der öffentlichen Meinung (miss)verstanden werden. So kann das Internet auch gesellschaftlich randständigen Meinungen zu einer hegemonialen Rolle im Diskurs verhelfen. Das Internet vereinfacht somit – trotz der Existenz von Echokammern und Filterblasen – eine Ausdehnung radikalisierten Denkens über seine Grenzen hinaus.

Hate Speech und Hate Crime

Es ließen sich in den vergangenen Jahren diverse Vorfälle physischer Gewalt in der analogen Welt ausmachen, die im Internet sprachlich vorgeebnet wurden. In Bezug auf den Anschlag auf die Tree-of-Life-Synagoge im US-amerikanischen Pittsburgh im Oktober 2018 veröffentlichte beispielsweise der britische "Guardian" zahlreiche Nachweise für vorherige Aktivitäten des Täters Robert Bowers auf einer rechtsextremen Social-Media-Plattform. Auch im Kontext des Anschlags auf die Synagoge in Halle an der Saale im Oktober 2019 war der Täter Stephan Balliet zuvor im Web aktiv, leugnete auf Amazons Streamingplattform Twitch die Shoah und unterstellte, dass "der Jude" hinter Masseneinwanderungen stecken würde. Hier besteht auch die Gefahr eines Nachahmungseffektes.

Diese Korrelationen führen vor Augen, was in der geschichtswissenschaftlichen Antisemitismusforschung mehrfach unterstrichen wurde: Über Jahrhunderte eingeübte und gepflegte antisemitische Stereotype, die "die Juden" als die Repräsentant*innen des Bösen, des "minderwertigen" Lebens und zugleich als Zentrum gefährlicher Macht inszenieren, sind Teil des kulturellen Gedächtnisses. Im Falle einer institutionalisierten Rechtfertigung dieser Hassideologie durch entsprechende politische Machtentfaltung oder durch einen Rückgang staatlicher Kontrolle kann Hassrede physische antisemitische Gewalt bis hin zur Vernichtung folgen, wie sie die NS-Verbrechen (als Klimax eines über Jahrhunderte hinweg tradierten Hasses) waren.

Diese Mechanismen walten ebenso in der Gegenwart: Sobald "den Juden" digital von vielen, sich gegenseitig bestärkenden User*innen kontinuierlich die Rolle der Schuldigen zugewiesen wird – sei es hinsichtlich der Terroranschläge vom 11. September 2001, der Finanz- und Wirtschaftskrise ab 2007, der Klimaerwärmung oder der Ankunft von Geflüchteten ab 2015 – kann dies fatale Folgen für den Umgang mit ihnen haben. Die Attraktivität antisemitischer Weltbilder nimmt dabei insbesondere in Zeiten von Krisen zu, in denen kollektive Ängste und Gefühle der Ohnmacht Bedürfnisse nach einfachen Erklärungsmustern und Sündenböcken (re)aktivieren.

Covid-19-Pandemie

Dies gilt auch mit Blick auf die Covid-19-Pandemie, die zu einer rapiden Zunahme von Verschwörungsmythen führt. Ein altbekannter antisemitischer Topos, der in der Moderne stets einen zentralen Platz innehatte und nun reaktiviert wird, ist die Vorstellung von einer jüdischen Elite, die sich auch diese Krise zunutze mache – sei es durch die Monopolisierung des Marktes, die bis ins Extreme gesteigerte Präsenz eines Überwachungsapparates oder eine durch Medien und Politik geschürte omnipräsente Angst. Letztere könne schließlich in eine kollektive Lethargie münden, durch die eine klandestine Lenkung der Welt, die man der jüdischen Elite unterstellt, noch erleichtert werden würde. Die Frage nach dem "Cui bono?", also nach den Gewinnern der Krise führt allzu schnell zur oft in Wortspiele wie "Plannedemic" verpackten Frage nach den Urhebern derselben. Und da Jüdinnen und Juden ein Gewinn an der Krise unterstellt wird, haben sie das Virus vielleicht sogar selbst erfunden? Wie kam es, dass israelische Forschungszentren bereits frühzeitig an einem Impfstoff arbeiten konnten? Welche Verbindungen mögen vorliegen zwischen dem Investor George Soros, der aus einer jüdischen Familie stammt, und dem Forschungslabor in Wuhan? Das Ausbleiben einer medialen Debatte über solche "Fragen" wird in Threads bereits als "Beweis" für die Richtigkeit dieser Unterstellungen gehandelt, da eine Medienkontrolle vermutet wird. Dabei wird nicht nur über den Mangel an Belegen hinweggegangen. Antisemitische Verschwörungsmythen sind auch kompatibel mit anderen Hassideologien. So wurde von der britischen Nichtregierungsorganisation Community Security Trust nachgewiesen, dass in den vergangenen Wochen antichinesischer Rassismus und Antisemitismus oftmals miteinander verzahnt auftraten. Gegenwärtig sind es insbesondere rechte Akteur*innen, die die Unsicherheit in der Gesellschaft instrumentalisieren, um ihre Ideologien rezipient*innenwirksam zu platzieren. Im Kontext der Pandemie haben antisemitische Hassrede und Fake News auch auf Social-Media-Plattformen des Mainstream Konjunktur. Auch finden sich zahlreiche Formen der Dämonisierung und Dehumanisierung, indem jüdische Menschen als primäre Überträger*innen ("Jew flu") oder gar als die Krankheit selbst dargestellt werden. Ebenso finden sich auch sarkastische "Witze", Verwünschungen und Holocaust-Relativierungen, in denen ihnen der Tod durch Corona gewünscht wird etwa durch Wortspiele wie "Holocough" oder – im Zuge einer Meldung über drei an Corona erkrankte Israelis – Anspielungen auf die Shoah: "3 down, 5,999,997 to go!".

Dürfte es auch jungen Menschen beizeiten schwerfallen, zwischen seriösen Quellen und emotionalisierenden, die aktuelle Lage und deren Hintergründe verzerrenden Inhalten zu unterscheiden, lässt sich jedoch beispielsweise in Anbetracht der deutschlandweit stattfindenden "Hygiene-Demos" stark vermuten, dass ältere Generationen für Fantasien hinsichtlich eines "geheimen Plans" ebenso anfällig sind. Kritik an Überwachungsmaßnahmen, an wirtschaftlichen und sozialen Einschränkungen oder an der Globalisierung – all dies sind Einfallstore, um legitime kritische Rede zu instrumentalisieren und Abwertung und Ausgrenzung salonfähig zu verpacken.

Handlungsimperative

Dieser Exkurs zu antisemitischen Web-Diskursen vor dem Hintergrund der Covid-19-Pandemie führt vor Augen, wie relevant die Auseinandersetzung mit den Entwicklungen im Internet für ein Verständnis hinsichtlich des aktuellen und zukünftigen politischen Klimas in unserer Gesellschaft ist. Fokussierte die Antisemitismusforschung bisher vor allem nicht-digitale Kontexte, formte sich mit der Etablierung von internetbezogenen Zugängen Uneinigkeit hinsichtlich eines adäquaten Untersuchungsdesigns: Einerseits muss die Komplexität des Mediums sowie der untersuchten Muster, andererseits der extreme Umfang von Daten berücksichtigt werden. In den Disziplinen der angewandten Linguistik und kritischen Diskursanalyse nähert man sich Web-Diskursen häufig über qualitative Detailanalysen an. Der Vorteil solcher Studien liegt in deren Detailschärfe: Um die Vielfalt von Antisemitismus einzuordnen, braucht es Sprach-, Kontext- und Weltwissen. Allerdings können qualitative Untersuchungen aufgrund des zeit- und arbeitsintensiven Vorgehens nur kleine Datensätze beleuchten. Bei einem Medium, in dem jede Stunde Tausende Texte produziert werden, können sie daher keinen Anspruch auf Repräsentativität erheben – und somit auch nicht Auskunft darüber geben, wie sich Antisemitismus im Internet über einen längeren Zeitraum formt. Bei quantitativen Analysen hingegen wird innerhalb gewaltiger repräsentativer Datensätze über Suchbegriffe die Präsenz von Schimpfwörtern und/oder Stereotypen erfasst. Beispielsweise wird ein Diskursraum nach "Rothschild" oder der ethnischen Beleidigung "Kike" durchsucht. Zwar wird hier die Breite des Diskurses in den Blick genommen, allerdings beruht der Zugang auf einem extrem limitierten Sprachverständnis. So machen explizit geäußerte Stereotype in Mainstream-Diskursen weniger als fünf Prozent der Debatten aus. Auch wenn quantitative Analysen faszinierende Ergebnisse zutage fördern, berücksichtigen sie nicht die zahlreichen sprachlichen Muster, die den Sprachgebrauch des Alltags zu einem Großteil determinieren – beispielsweise Metaphern, indirekte Sprechakte, Ironie und Sarkasmus. Dadurch verzerren sie das Bild darüber, wie präsent Antisemitismus im Internet tatsächlich ist.

Dieser Blick auf die Forschungslandschaft führt vor allem zu einer Einsicht: Wenn es um die Stellung von Antisemitismus im Internet geht, muss eingeräumt werden, dass genauere Antworten noch nicht gegeben werden können. Antisemitismus ist – wie jede Hassideologie, die unter anderem aufgrund ihrer Brisanz sprachlich komplexe Muster auslöst – online eine Unbekannte. Wir können gegenwärtig weder den aktuellen Stand bestimmen noch sagen, wie sich Judenfeindschaft in den nächsten Jahren entwickelt. In den Studien der vergangenen Jahre zeigt sich, dass Antisemitismus im Internet in einem bestimmten Ausschnitt zunimmt. Insofern ist es wahrscheinlich, dass das Problem wächst. Diese Einzelbeobachtungen kann man allerdings (noch) nicht mit validen Daten generalisieren, da die zahlreichen unterschiedlichen Diskursauslöser und deren Folgen bisher nicht flächendeckend in ihrer Komplexität untersucht werden konnten. Der Mangel an zuverlässigen Zahlen wirkt allerdings noch besorgniserregender als eine Konfrontation mit Zahlen, die einen schnellen Anstieg nahelegen. Umso wichtiger ist es, neue Zugänge zu etablieren, die nicht nur auf wissenschaftlichem Erkenntnisinteresse, sondern auch auf der Einsicht über die aktuelle Bedrohungslage für jüdische Menschen sowie für unsere demokratische Grundordnung fußen.

Ein vielversprechender Zugang wird sein, über Mixed-Methods-Analysen die Vorteile qualitativer und quantitativer Untersuchungsdesigns zusammenzuführen. Wenn in einem ersten Schritt über Detailanalysen das Repertoire von antisemitischer Hassrede bestimmt wird, so kann anschließend über quantitative Zugänge die Frequenz dieser Muster flächendeckend erfasst werden. Die Brücke zwischen diesen beiden Methoden kann über eine sprachwissenschaftlich fundierte Künstliche-Intelligenz-Forschung geschlagen werden, die in den nächsten Jahren auch von der Antisemitismusforschung berücksichtigt werden sollte. Denn neben der Stärkung und Diversifizierung von Hassrede macht das Internet individuelle und/oder gruppenbezogene Trends auch transparent. Wenn sich beispielsweise eine Person einer bestimmten Hassideologie zuwendet, sie reproduziert und letztlich gar zur Waffe greift, kann dieser Radikalisierungsprozess im Zuge von Web-Analysen nachvollzogen werden. Das Internet hat also nicht nur fatale Trends ausgelöst, es macht sie auch verfolg- und somit potenziell kontrollierbar. Mit adäquaten Analysemethoden kann es als Tool verwendet werden, um auch jene Umschlagpunkte hin zu antisemitischer, rassistischer, sexistischer und anderer Gewalt zu erkennen, die nicht mehr von klar definierten Gruppen, sondern von Personen ausgeht, die in nicht-digitalen Kontexten gegebenenfalls nicht auffallen und sich weder digital noch analog in Gruppen organisieren.

Sobald es verlässliches Wissen über die Natur von Antisemitismus im Internet gibt, kann dieses zudem in präventive Maßnahmen überführt werden. Junge Menschen im Schulalter werden weniger von Karikaturen im "Stürmer"-Stil mitgerissen als von aktuellen Verschwörungsmythen zum 11. September 2001, zur sogenannten Flüchtlingskrise oder zur Covid–19-Pandemie. Lehrkräfte sollten insofern die Spannweite gegenwärtiger Hassrede kennen, um Schüler*innen dort abzuholen, wo sie stehen, und pädagogisch überzeugende Angebote formulieren zu können. Einheiten der Medienkompetenz, die sich dezidiert gegen Hassrede, Verschwörungsmythen und Fake News richten, sind von fundamentaler Bedeutung, um einer online beförderten Radikalisierung der Gesellschaft entgegenzuwirken.

ist Postdoc Fellow am Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin. E-Mail Link: mjb@mail.de