Antisemitismus gilt in der deutschen Gesellschaft als unmöglich und seine Artikulation als abwegig. Weil nicht sein kann, was nicht sein darf, scheint in der öffentlichen Diskussion der Antisemitismusvorwurf oft sogar schwerer zu wiegen als der Antisemitismus. Auf dieses Paradoxon spielte das Satiremagazin "Titanic" wohl im Juli 2002 an, als auf seinem Titelblatt ein Hitler-Porträt zu sehen war – darunter die Schlagzeile: "Schrecklicher Verdacht: War Hitler Antisemit?"Als vermeintliche Antwort auf antisemitische Vorfälle hat sich über Jahrzehnte ein Reflex entwickelt, der auf der moralischen Auffassung gründet, Antisemitismus könne in der Gegenwart nicht existieren, weil er mit dem Ende des Nationalsozialismus "überwunden" worden sei. Gegenwärtige Vorfälle von Antisemitismus werden entweder mit erstaunlicher Hartnäckigkeit ignoriert oder direkt ausgelagert, indem sie an Polizei und Justiz weitergegeben werden: So wurde an einer Berliner Schule ein Jugendlicher monatelang antisemitisch beleidigt und verprügelt. Untätigkeit und Ignoranz der Schule führten dazu, dass der Junge die Schule letztlich verlassen musste.
Antisemitismus in der Öffentlichkeit
Die Konflikte in der Schulklasse finden selbstverständlich nicht im luftleeren Raum statt, sondern stehen in Bezug zu den öffentlichen Debatten über Antisemitismus. Besonders seit Mitte der 1980er Jahre beschäftigte sich die bundesrepublikanische Öffentlichkeit regelmäßig mit Debatten über Antisemitismus. Eine sehr prominent geführte war die Diskussion über die Äußerungen von Ernst Nolte im sogenannten Historikerstreit, der die nationalsozialistischen Verbrechen lediglich als Reaktion auf das Gulag-System der Sowjetunion verstanden wissen wollte. In der Folge wurde die Singularität des Holocaust von zahlreichen prominenten Stimmen infrage gestellt.
Es ist wahrscheinlich kein Zufall, dass sich an Walsers Äußerungen eine Reihe weiterer antisemitischer Entgleisungen anschloss – erinnert sei nur an den damaligen FDP-Politiker Jürgen Möllemann, der 2002 von einer "zionistischen Lobby" und einem "Vernichtungskrieg" des damaligen israelischen Ministerpräsidenten Ariel Scharon sprach, oder an den damaligen CDU- und heutigen AfD-Bundestagsabgeordneten Martin Hohmann, der 2003 in einer Rede zum Tag der Deutschen Einheit über Juden als "Tätervolk" räsonierte. Im kulturellen Bereich wäre noch Günter Grass zu nennen, der 2012 mit einem Gedicht eine singuläre Bedrohung des Weltfriedens durch Israel suggerierte, oder die Produktionen des Sängers Xavier Naidoo, der mit einer Zeile über einen "Baron Totschild" antisemitische Erzählungen über die Bankiersfamilie Rothschild reproduzierte. Mit einer besonderen Relevanz für Jugendliche entflammte die Debatte im Frühjahr 2018 mit Blick auf die Verleihung des Echo-Preises an die Rapper Kollegah und Farid Bang. Auslöser war ihre Liedzeile "Mein Körper definierter als von Auschwitzinsassen". Die öffentliche Kritik, unter anderem durch das Internationale Auschwitz-Komitee, führte schließlich zur vorläufigen Abschaffung des Musikpreises.
Bei vielen Beispielen fällt auf, dass Antisemitismus in der Öffentlichkeit zwar sanktioniert wird, es jedoch nicht gelingt, ihn komplett aus dem öffentlichen Leben zu verbannen. Statt offen und unverblümt artikuliert er sich vielmehr in codierten und subtilen Formen. Die Herausforderung, Antisemitismus zu erkennen, ist dabei ein relativ neues Problem. Solange Antisemitismus eine Eigenbezeichnung, ein "kultureller Code"
Da offen antisemitische Aussagen im öffentlichen Diskurs unerwünscht sind, werden entsprechende Meinungsäußerungen entweder nur im privaten Bereich oder über Umwege artikuliert:
Antisemitismus ist nicht einfach ein Vorurteil, sondern eine Denkform, die die Welt scheinbar verstehbar macht. Theodor W. Adorno bezeichnete es dabei als einen "der wesentlichen Tricks von Antisemiten heute: sich als Verfolgte darzustellen". Das Gerücht, das indirekte Adressieren, "die nicht ganz offen zutage liegende Meinung" sei von jeher das Medium gewesen, "in dem soziale Unzufriedenheiten der verschiedensten Art, die in einer gesellschaftlichen Ordnung sich nicht ans Licht trauen, sich regen".
Dass Auschwitz sich nicht wiederhole
Es gibt vermutlich keinen anderen Satz, der die deutsche Pädagogik seit 1945 stärker geprägt hat, als Adornos 1966 formuliertes Postulat über das Ziel aller Pädagogik, dass Auschwitz sich nicht wiederhole.
Inzwischen hat sich in Deutschland eine beispiellose Erinnerungskultur entwickelt, die sich in zahlreichen "authentischen" Erinnerungsorten, Gedenkritualen sowie in Literatur, Theater und Filmen manifestiert.
Aus pädagogischer Sicht ist dieser Gedanke gefährlich. Das Gefühl, erlöst zu sein, vermittelt den Anschein, als sei das Problem aus der Welt. Es etabliert sich, wie die Kultur- und Literaturwissenschaftlerin Aleida Assmann zutreffend beschrieb, ein Selbstverständnis als Weltmeister der Erinnerung.
Fallstricke der Arbeit gegen Antisemitismus
1962 plädierte Adorno für eine radikale Argumentation gegen Antisemitismus, indem er sich gegen jede abstammungsbezogene, identifizierende Betrachtung von "Bevölkerungsgruppen" wandte, weil dies in der Demokratie "das Prinzip der Gleichheit" verletze.
Wie der Ausschluss funktioniert, zeigt exemplarisch die Korrespondenz zwischen dem Journalisten Jakob Augstein und der Integrations- und Migrationsforscherin Naika Foroutan, die 2017 auf Augsteins Frage, wie man "als migrantische Autorin mit der deutschen Schuld" umgehe, wie folgt antwortete: "Ich finde Ihre Fragen an mich irritierend: weniger, weil Sie so selbstverständlich davon ausgehen, dass ich als Muslimin, oder als Migrantin, oder als was auch immer Sie mich anfragen, keine Deutsche und somit auch nicht verwoben mit dieser Geschichte sein kann. Vielmehr, weil Ihre Täter-Opfer-Außenseiter-Kategorisierung so wenig die Komplexität des Holocaust und seiner Geschichten reflektiert."
Nicht nur in der Deutung des Bezugs von Jugendlichen zur Geschichte, sondern auch in der Art und Weise, wie Pädagoginnen und Pädagogen auf judenfeindliche Äußerungen von Jugendlichen reagieren, spielt die Herkunftsfrage eine Rolle: Antisemitische Äußerungen eines Jugendlichen ohne migrantischen beziehungsweise muslimischen Hintergrund werden in der Regel als individuelle Entgleisung beziehungsweise als zwischenmenschliches Problem eingeordnet. Anders verhält es sich, wenn sich muslimische beziehungsweise migrantische Jugendliche juden- oder israelfeindlich äußern. Die Reaktion wirkt sich generalisierend aus, indem das Kollektiv der Musliminnen und Muslime unter Antisemitismusverdacht gestellt wird.
Ein weiterer Fallstrick in der pädagogischen Arbeit gegen Antisemitismus besteht in der Gefahr, dass die Intervention eine Verfestigung anstatt der Dekonstruktion von antisemitischen Weltbildern bewirkt. Eine Sanktionierung oder pädagogische Maßnahmen können als Bestätigung der antisemitischen Theorie einer "Allmacht der Juden" interpretiert werden. Dies lässt sich anhand eines Beispiels veranschaulichen: Auf der Facebook-Seite eines Sportvereins postete ein Vorstandsmitglied Werbung für ein Versicherungsunternehmen, bei dem er als Makler tätig war. In dieser Werbung wurde eine konkurrierende Firma als jüdisch bezeichnet und damit die Fans des Vereins aufgefordert, das eigene Unternehmen zu bevorzugen. Der Verein wurde vom Sportverband mit einer Strafe belegt, die er durch den Nachweis von antisemitismuskritischer Arbeit im Verein mildern konnte. Aus diesem Grund wandte sich der Verein an einen Bildungsträger, um eine Fortbildung zum Thema Antisemitismus zu vereinbaren. Die Teilnehmenden waren wenig intrinsisch motiviert, bei der Fortbildung mitzumachen, und interpretierten die Auflage sogar als Beleg für die vermeintliche Macht "der Juden". Für die pädagogische Arbeit bedeutet dies, dass neben der Thematisierung von Antisemitismus auch Platz für die Bearbeitung von Ungerechtigkeitsgefühlen eingeräumt werden muss. Ohne antisemitische Inhalte zu relativieren, sollen die Adressatinnen und Adressaten die Möglichkeit bekommen, ihre Ängste, Unsicherheiten und Empörung zum Ausdruck zu bringen.
Bildungsarbeit gegen Antisemitismus
Der in den vergangenen Jahren zunehmend etablierte Ansatz der antisemitismuskritischen Bildungsarbeit ist vom Konzept der rassismuskritischen Pädagogik inspiriert, das die kritische Bearbeitung ausgrenzender und abwertender Unterscheidungspraktiken in den Mittelpunkt stellt und auf Selbstreflexion und Multiperspektivität der Pädagoginnen und Pädagogen setzt.
Antisemitismuskritische Bildung greift die heterogenen sozialen Beziehungen der Teilnehmenden zur Thematik auf. Dem geht die Erkenntnis voraus, dass Antisemitismus ein Phänomen ist, das von der Gesellschaft hervorgebracht und in individuellen Denk- und Handlungsmustern verankert ist. Neben der Wissensvermittlung über Geschichte, Ideologie und Ausdrucksformen geht es für antisemitismuskritische Bildungsarbeit um die Funktionen des Antisemitismus, die seine Anschlussfähigkeit und Attraktivität für unterschiedliche gesellschaftliche Milieus ausmacht. Die Reduktion von Komplexität mittels Schuldzuweisung an "die Juden" bietet einfache Erklärungen für die komplexe Wirklichkeit der globalisierten Gesellschaft. Verkürzten und damit strukturell antisemitischen Welterklärungen bildungspraktisch zu begegnen, heißt oftmals, die Dinge für den oder die Einzelne(n) erst einmal zu verkomplizieren – und dabei zu vermitteln, dass es notwendig sein kann, Unsicherheit zuzulassen. Vor diesem Hintergrund nimmt antisemitismuskritische Bildungsarbeit zugleich eine gesellschaftskritische Perspektive ein. Auch wenn didaktische Konzepte gegen Antisemitismus nicht grundlegend über die Ursachen von wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Krisen aufklären können, sollen sie generell reduktionistische, personalisierende Kritik hinterfragen und widerlegen. Pädagogik gegen Antisemitismus kann somit auch bedeuten, Antisemitismus zunächst nicht direkt zu thematisieren.
Oftmals ist der erste Schritt, überhaupt ein Verständnis von Antisemitismus zu vermitteln, das über direkte Ausdrucksformen des Hasses hinausgeht. Erfahrungsgemäß besteht eine starke Tendenz bei pädagogischen Fachkräften, das Problem entweder zu historisieren, zu trivialisieren oder zu marginalisieren, indem es einer bestimmten, relativ isolierten Gruppe zugeschrieben wird. Dem korrespondiert aber durchaus eine Bereitschaft, sich angesichts der tagespolitischen Dringlichkeit von Antisemitismus wie seiner dauerhaften Präsenz in Lehrkontexten grundlegender mit dem Phänomen auseinanderzusetzen. Erfolgreich sind die Weiterbildungen, wenn Erwachsene Antisemitismus nicht nur als Problem "der Anderen" wahrnehmen, sondern beginnen, sich selbst auf antisemitische Ressentiments hin zu befragen. Diese sind durchaus vorhanden und werden schlimmstenfalls auch an Jugendliche weitergegeben.
Teilweise ist es der Erfahrung nach bei Erwachsenen sogar erheblich schwerer, diese Denkformen aufzubrechen, da sich bei Kindern und Jugendlichen antisemitische Bilder oft noch nicht zu einer Ideologie zusammengeschlossen haben, die einen unverrückbaren Wahrheitsanspruch erheben. Ideologische Fragmente lassen sich oftmals schon durch einfache Irritationen auflösen: "Woher glaubst Du zu wissen, was du da sagst? Was für eine Bedeutung hat es für Dich, wenn es so wäre? Meinst du wirklich, dass…" –
Menschen ohne gefestigtes antisemitisches Weltbild werden bei solchen und ähnlichen Fragen nicht selten bereits aus dem Takt gebracht. Weiter kann es im bildungspraktischen Umgang mit antisemitischen Ideologiefragmenten von Vorteil sein, über Antisemitismus im Allgemeinen zu sprechen und weniger über diejenigen, von denen diese Bilder aufgerufen wurden. Fokussiert man die Person, nimmt man ihr damit die Möglichkeit, sich vom Gesagten zu distanzieren, auch verliert man die anderen aus dem Blick. Die Täterfixierung kommt den Interessen der Person womöglich sogar entgegen: Antisemitische Äußerungen sind ein Tabubruch, mit dem sich Aufmerksamkeit generieren lässt. Nicht die Täterinnen und Täter sollten die vorrangige Sorge sein, sondern der Schutz von Betroffenen und die Sensibilisierung für ihre Perspektive – ohne, dass sich antisemitismuskritische Bildungsarbeit in der Betroffenheit erschöpft. Weiter gilt es, die Zuschauerinnen und Zuschauer (bystander) aus der Passivität zu holen: Antisemitische Ausbrüche sind auf die Ermöglichungsbedingungen einer Gesellschaft angewiesen, die indifferent bleibt und sich nicht auf die Seite der Angegriffenen stellt. Indem die ganze Gruppe in die Verantwortung genommen wird, etwas gegen Antisemitismus zu unternehmen, gleichgültig wo er sich zeigt, wird ein Klima geschaffen, in dem er auf fruchtlosen Boden fällt.
Hat man es jedoch mit einem geschlossenen Weltbild zu tun, ist die Sache komplizierter. Antisemitismus ist hier nicht durch verstandesmäßige Argumente zu bekämpfen; einmal gefestigt, ist die in sich widersprüchliche Ideologie kaum durch Logik zu irritieren. Im Gegenteil, sobald angefangen wird, über den Wahrheitsgehalt antisemitischer Vorstellungen zu diskutieren, wie etwa das Gerücht, dass alle Juden reich seien, werden diese wahnhaften Projektionen ein Stück weit legitimiert. Diese emotionale Wirkmacht von Antisemitismus macht es deshalb schwierig, ihn zu bekämpfen, weil der demokratie- und konsensorientierte Austausch von Argumenten hier nicht greift. Demgemäß muss Bildungsarbeit auch an diesen Gefühlen ansetzen, womit didaktische Settings nicht selten überfordert sind.
Ausblick
Stets hat sich Antisemitismus in Zeiten von Krisen und Unsicherheiten besonders verstärkt. Gerade jetzt gilt es daher, sich der Gefahr von Antisemitismus wieder bewusst zu werden. Es reicht nicht aus, die Arbeit gegen Antisemitismus nur in klassischen pädagogischen Räumen und hauptsächlich in Schulen zu leisten. Es ist zunehmend notwendig, neue Zielgruppen für die antisemitismuskritische Bildungsarbeit zu erreichen, und geboten, Jugendlichen und Erwachsenen in ihren realen und digitalen Lebenswelten zu begegnen: in der Arbeitswelt, im Stadtteil, in der Freizeit sowie im Netz. Antisemitismus wandelt sich rasch und passt sich an neue Realitäten an. Die Bildungsarbeit gegen ihn sollte dabei nicht zurückfallen.