Muss man, wenn es um Antisemitismus geht, auch über Jüdinnen und Juden sprechen, über jüdisches Leben in Deutschland, über die Vielfalt jüdischer Selbstverständnisse? Schon die Frage verweist auf eine widersprüchliche Situation: Einerseits reagiert Antisemitismus mitnichten auf das, was Jüdinnen und Juden real tun. Andererseits werden antisemitische Äußerungen häufig in direkte Beziehung zum Verhalten öffentlich sichtbarer Jüdinnen und Juden gesetzt.
Schon der französische Philosoph Jean-Paul Sartre schrieb 1954 in seinen "Überlegungen zur Judenfrage", der Antisemitismus – Leidenschaft und Weltanschauung – stamme nicht von einem äußeren Faktor her.
Auch wenn man differenziert, dass nicht alle Trägerinnen und Träger antisemitischer Ressentiments Antisemitinnen und Antisemiten sind, also "die Juden" hassen, so zeigen mediale Debatten über Antisemitismus in der Bundesrepublik deutlich, wie spezifisch sie durch den postnationalsozialistischen Kontext
Rollenzuschreibungen und Lebenswirklichkeiten
Zu übersehen, dass Antisemitismus kein ausschließlich abstraktes Problem ist, sondern Menschen konkret betrifft, führt dazu, dass vielfach nicht der Antisemitismus als Gewalt verhandelt wird, sondern der Antisemitismusvorwurf. Auf diesen folgt häufig die Frage, ob er gerechtfertigt sei und erst an zweiter Stelle, wen die antisemitische Aussage trifft und was sie mit ihm oder ihr macht. Das mag auch daran liegen, dass der "Antisemitismusvorwurf" eine Person adressiert, während die antisemitische Äußerung vielfach abstrakt auf "die Juden" zielt.
Eine antisemitische Äußerung, die die fortdauernde Existenz antisemitischer Ressentiments in einer Gesellschaft bezeugt, die sich als geläutert versteht, wird zum Skandal, weil sie ebendieses Selbstbild infrage stellt.
In der Bundesrepublik bedeutet das für viele Jüdinnen und Juden, gleichzeitig individuell mit antisemitischen Handlungen und Sprechakten und mit der kollektiven Zuschreibung einer ominösen "Opferschaft" konfrontiert zu sein. Letztere bleibt aber seltsam leer – entweder durch eine historische Distanzierung oder durch Abstraktion. Das führt dazu, dass neben der fast zwanghaften, aber letztlich historisch begründeten Verschränkung von Judentum und Antisemitismus Jüdinnen und Juden bis heute oft ein Expertinnen- und Expertenwissen abgesprochen wird, weil ihre Perspektive auf Antisemitismus zu subjektiv scheint. Als anschauliches Beispiel hierfür kann die Konstituierung des zweiten Unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus Anfang 2015 gelten, für den zunächst kein einziges jüdisches Mitglied berufen wurde.
Dieser Widerspruch, einerseits auf eine spezifische Rolle festgeschrieben und andererseits zu der damit verbundenen Erfahrung kaum befragt zu werden, prägt(e) die Lebenswirklichkeiten von vielen Jüdinnen und Juden in Deutschland. Sie führt, nach meiner Beobachtung, gleichzeitig zu dem Wunsch, in bundesrepublikanischen Debatten um Antisemitismus als jüdische Stimme (mehr) Gehör zu finden, wie auch zu der Sehnsucht, aus dieser permanenten negativen Engführung entlassen zu werden und auch in anderen, selbstgewählten inhaltlichen Kontexten gehört zu werden.
Neue Aufmerksamkeit
In den vergangenen Jahren zeichneten sich Veränderungen ab: Während sich der erstarkende Antisemitismus global in zunehmender Gewalt gegen Jüdinnen und Juden zeigt,
In den folgenden Diskussionen über gegenwärtigen Antisemitismus, die von unterschiedlichen Einzelereignissen angestoßen wurden und entsprechend unterschiedliche Schuldige und Strategien hervorbrachten, fällt besonders auf, dass Betroffene als Sprecherinnen und Sprecher eine größere Rolle spielen und sich, so die vorsichtige These, eine neue mediale Aufmerksamkeit für gegenwärtigen Antisemitismus zu entwickeln beginnt. Der Anschlag auf die Synagoge in Halle an der Saale an Jom Kippur im Oktober 2019 hat zu dieser Entwicklung ebenfalls beigetragen. In der Berichterstattung wurden auch Jüdinnen und Juden, die sich während des Anschlags in der Synagoge befanden, interviewt. Besonders aufschlussreich sind darunter die Gespräche mit der Augenzeugin Anastassia Pletoukhina, der Gründerin der jüdischen Studierendeninitiative Studentim in Berlin, weil sie die Ansprache in dem etablierten Rollenmuster des "jüdischen Opfers" reflektierte und mit "Gegenbildern" reagierte: Neben der Formulierung der Forderung, Synagogen mehr durch Polizei zu schützen, betonte sie auch, dass sie nicht fremd sondern Deutsche sei, und – das mag vielleicht der wichtigste Punkt sein – ihre religiöse Praxis wegen dieser Erfahrung und Bedrohungslage nicht ändern werde. Mehr noch: Sie hob hervor, dass ihr Selbstverständnis als Jüdin eben nicht primär durch Antisemitismus geprägt sei.
Sichtbarkeit jüdischer Diversität
Neben den intensiven Auseinandersetzungen mit Antisemitismus, die um Einzelereignisse wie die zeitweilige Nichtsendung der WDR-Fernsehdokumentation "Auserwählt und ausgegrenzt – Der Hass auf Juden in Europa" im Jahr 2017 oder die Ausladung des kamerunischen Philosophen Achille Mbembe von der Ruhrtriennale im Frühjahr 2020 hochkochen und zeigen, wie schwierig es ist, einen Konsens über das "Was und Wer" zu finden, wurde in den vergangenen Jahren jüdische Diversität verstärkt sichtbar. Diese zeigt sich etwa an unterschiedlichen religiösen Denominationen (säkular, traditionell, orthodox und liberal), explizit nichtreligiösen, kulturellen Bezugspunkten, Selbstverständnissen und (strittigen) Zugehörigkeiten zum Judentum, sprachlich und kulturell unterschiedlichen Bezügen, familienbiografisch diversen Hintergründen und politischen Ausrichtungen.
Ob es sich um eine neue Vielfalt handelt, lässt sich ebenso sehr diskutieren wie die Frage, ob es sich beim Antisemitismus der Gegenwart um einen neuen Antisemitismus handelt. So argumentiert beispielsweise die Philosophin und Politikwissenschaftlerin Hannah Peaceman, dass die Haltung jüdischer Institutionen vor dem Hintergrund des Nationalsozialismus lange gewesen sei, vorhandenen innerjüdischen Dissens nicht in die Öffentlichkeit zu tragen. Dies ändere sich nun durch eine junge Generation von Jüdinnen und Juden.
Dabei ist die Vielfalt jüdischer Lebensentwürfe und Selbstverständnisse weniger für den Antisemitismus relevant als für den gesellschaftlichen Resonanzraum, in dem er geäußert und im Falle seiner Skandalisierung auch verhandelt wird. In einer Gesellschaft, in der Jüdinnen und Juden vielstimmig, divers und auch widersprüchlich erlebt werden (können), kann auch Antisemitismus anders verhandelt werden als in einer Gesellschaft, in der sie vor allem als eine symbolisch überhöhte Mini-Minorität gesehen werden.
Erstens ist die Abstraktion, die aus diversen Jüdinnen und Juden "die Juden" macht, weniger möglich. Aus einer abstrakten, vor allem für das deutsch-nichtjüdische Selbstverständnis relevanten, vergewissernden Stimme wird eine hörbarere Vielstimmigkeit. Es ist viel schwieriger, plurale und streitbare öffentliche jüdische Positionen zu vereinnahmen. So gibt es zwar auch das Argument, dass sich für jedes Anliegen ein jüdischer Kronzeuge finden lasse. Doch die Gründung der "Juden in der AfD" im September 2018 und die folgende Debatte haben deutlich gezeigt, dass solche Vereinnahmungen und die Instrumentalisierung einzelner Jüdinnen und Juden deutlichen Widerspruch auslösen können.
Das hat unterschiedliche Gründe: Die jüdische Zuwanderung aus der ehemaligen Sowjetunion seit den frühen 1990er Jahren hat zu einer veränderten demografischen Situation geführt. Heute leben rund 200.000 Jüdinnen und Juden in Deutschland, etwa die Hälfte als Mitglieder jüdischer Gemeinden. Die als Kinder eingewanderten Jüdinnen und Juden sind heute (junge) Erwachsene. Sie sind oft in einer größeren jüdischen Gemeinschaft sozialisiert als vorangegangene Generationen in Bundesrepublik und DDR und hatten damit zumindest in den größeren deutschen Städten andere Möglichkeiten eines Aufwachsens auch in jüdischen Räumen. Durch soziale Medien und fragmentierte mediale Teilöffentlichkeiten haben sich weitere Zugänge eröffnet, und sie können sich – wenn auch nicht ohne Reibung – in unterschiedliche Diskurse einbringen. Das hat selbstverständlich auch mit den medientechnischen Voraussetzungen der Digitalisierung zu tun, die gesellschaftliche Diskurse weiter auffächern. So werden auch digitale Interventionen möglich, wie die des Künstlers Shahak Shapira, der in dem digitalen Fotoprojekt "Yolocaust" das Verhalten von Berlinerinnen und Berlinern sowie Touristinnen und Touristen am Holocaust-Mahnmal in Berlin scharf kommentierte, indem er ihre dort aufgenommen Selfies in Fotos von KZ-Häftlingen montierte.
Für die Sichtbarkeit jüdischer Diversität sorgen ganz unterschiedliche Initiativen und Akteurinnen und Akteure, die hier nur beispielhaft und unvollständig aufgezählt werden können: So fördert die Jewish Agency for Israel mit dem Programm Nevatim seit einigen Jahren Graswurzel-Initiativen, die einerseits gelebte jüdische Diversität in Deutschland fördern und anderseits mit Projekten wie "Rent a Jew" Jüdinnen und Juden auch in nichtjüdischen Räumen sichtbar werden lassen. Dieses inzwischen abgeschlossene Begegnungsprojekt ging davon aus, dass viele Menschen in Deutschland keinen Kontakt zum Judentum haben und antisemitische Ressentiments durch persönlichen Kontakt abgebaut werden könnten. So konnten jüdische Referentinnen und Referenten "gemietet", werden, um von ihrem Jüdischsein zu erzählen.
Das Ernst Ludwig Ehrlich Studienwerk als "Ort für eine neue jüdische Intellektualität"
Seit 2017 erscheint das Magazin "Jalta. Positionen zur jüdischen Gegenwart", das sich, wie der Titel unschwer erkennen lässt, in die Tradition der zwischen 1986 und 2010 erschienenen Zeitschrift "Babylon. Beiträge zur jüdischen Gegenwart" stellt und einen Diskursraum sowohl für jüdische als auch nichtjüdische Stimmen schafft. "Jalta" weicht in seiner Konzeption insofern von "Babylon" ab, als es neben wissenschaftlichen auch essayistische, literarische und künstlerische Beiträge veröffentlicht, sich programmatisch als migrantisch versteht und immer wieder nach politischen Allianzen sucht.
Das Maxim Gorki Theater hat mit seiner israelischen Hausregisseurin Yael Ronen (seit 2013) und Künstlerinnen und Künstlern wie Sasha Marianna Salzmann, Tobias Herzberg oder Max Czollek jüdische Perspektiven fest im Repertoire seines als postmigrantisch verstandenen Theaters.
Mehr als eine Sehnsucht?
Natürlich ist Vorsicht geboten bei der Ausrufung des Neuen, des noch nie Dagewesenen. Zum einen bedürfen diese Initiativen und Ausdrucksformen der historischen Kontextualisierung und können auch in Kontinuitäten gesehen werden – seien es Zeitschriften wie "Babylon", die für "Jalta" Pate stand, oder schwul-lesbische Initiativen wie der lesbisch-feministische Schabbeskreis, der dem Engagement von Keshet in den 1990er Jahren vorausging.
Die emphatische Anrufung der Revitalisierung jüdischen Lebens in Deutschland wird allerdings auch kritisch kommentiert. Schon 1993 befasste sich eine Konferenz an der US-amerikanischen Cornell University mit der "Reemerging Jewish Culture in Germany". Während die Beiträge der Publikation zur Konferenz auch die Gleichzeitigkeit eines gestiegenen Interesses an jüdischen Themen und eines sich verändernden jüdischen Selbstverständnisses von Jüdinnen und Juden in Deutschland zeigten, wurde in der Einleitung von Sander L. Gilman und Karen Remmler auch die Frage aufgeworfen, ob vor dem Hintergrund der rechten Gewalt der frühen 1990er Jahre, der steigenden Fremdenfeindlichkeit, des offenen Antisemitismus sowie einer deutschen Öffentlichkeit, die es einfacher finde, mit Jüdinnen und Juden im Museum als auf der Straße umzugehen, die Möglichkeit einer blühenden jüdischen Kultur nicht ein Trugbild sei.
Diese Beobachtungen von 1993 sind auch heute noch erschreckend aktuell. Die Fragen sind weiterhin offen, und selbst jene, die beantwortet schienen, müssen nach Zäsuren wie dem Anschlag auf die Synagoge in Halle erneut gestellt werden.
Chancen der Streitbarkeit
Die Sichtbarkeit des Jüdischen, um es absichtsvoll vage zu fassen, steht also (immer noch) in diesem Spannungsverhältnis: Hier die reale Diversität jüdischer Lebensentwürfe und Selbstverständnisse sowie die Chancen, die darin liegen, diese sichtbar zu leben; dort die deutsche Sehnsucht nach einer lebendigen jüdischen Kultur als Zeichen der eigenen Wiedergutwerdung.
Eine Chance von sichtbarer Vielfalt und Streitbarkeit liegt darin, sich "dem Zwang zur Repräsentation"