Einleitung
Am 25. September 2005 fand in der Stadt Antakya, dem alten Antiochien, in der türkischen Provinz Hatay an der Grenze zu Syrien die "I. Hatay-Zusammenkunft der Zivilisationen" statt. Der Gouverneur hatte eingeladen, und der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan hielt die Eröffnungsrede. Auch Papst Benedikt XVI. und Samuel P. Huntington, Autor des vielzitierten Clash of Civilizations, waren nach Hatay gebeten worden. "Wenn der Papst wirklich kommt, sieht er, wie friedlich in Hatay die Angehörigen der Religionen miteinander leben", hatte schon zwei Monate zuvor die Zeitung "Hürriyet" geschrieben. Sollte er die Einladung annehmen, würde Huntington klar werden, hieß es auch in der "Sabah", dass seine These, die Türkei passe nicht nach Europa, widerlegt sei.
Zwar folgten weder der Papst noch Huntington der Einladung, doch die Häupter der einheimischen Kirchen und Religionsgruppen saßen auf dem Podium: der Präsident der staatlichen Religionsbehörde Ali Bardakoglu, der Ökumenische Patriarch der Griechisch-Orthodoxen Kirche Bartholomäus I., der Patriarch der Gregorianischen Armenier Mesrop Mutafyan, Oberrabbiner Izak Haleva, Bischof Yusuf Çetin von der Syrisch-Orthodoxen Kirche und Edmont Farhat, der Botschafter des Vatikans in der Türkei. Selbst die kleinen Gemeinden der Chaldäer und Nestorianer hatte ihre Priester geschickt.
Das Treffen war keine Eintagsfliege. Ähnliche Zusammenkünfte gibt es immer wieder. Bereits am 15. Januar 2004 hatte in Istanbul mit nahezu denselben Teilnehmern eine Art Generalprobe für Hatay stattgefunden, und im Dezember 2007 trafen sich die lokalen Religionsführer in der türkischen Mittelmeerstadt Mersin.
Am 3. März eines jeden Jahres feiert der Landkreis Askale in der ostanatolischen Provinz Erzurum seine Befreiung von der "armenischen Besatzung".
Wie Askale gedenken viele türkische Städte jährlich ihrer "Befreiung" vor nun fast 90 Jahren im Rahmen des Unabhängigkeitskriegs. Im Süden feiert man den Sieg gegen französisch-armenische Truppen, im Westen die Abwehr der griechischen Invasion. Zwar wird nicht überall blutiges Geschichtstheater aufgeführt, doch dass der Feind noch heute lauert, wird überall betont, und immer ist auch eine der einheimischen christlichen Gemeinden, Armenier oder Griechen, Teil des Feindbilds.
Im Hinblick auf die religiösen Minderheiten in der Türkei spiegeln die beiden Szenen vollkommen konträre Vorstellungswelten wieder, die doch beide gleichzeitig Realität sind. Mehr noch, idealtypisch betrachtet stehen die Grundaussagen beider Szenen für zwei gegensätzliche Auffassungen von Geschichte und Religion. Doch bevor darauf eingegangen werden kann, muss zugestanden werden, dass die Szene friedlichen Nebeneinanders der Religionen selbstverständlich auch Teil einer gezielten Propaganda der Regierung ist, welche nach dem 11. September 2001 sowie den Terroranschlägen von Madrid und London 2004/05 dem wachsenden Widerstand gegen eine türkische Mitgliedschaft in der Europäischen Union begegnen will. Die Regierung Erdogan macht aus der Not eine Tugend. Sie präsentiert die Mitgliedschaft eines muslimischen Landes in der EU als Chance für den interreligiösen Ausgleich und will damit Bedrohungsängste aushebeln. "Unser Islam ist anders", lautet die Botschaft; "seht nur, wie wir mit Minderheiten umgehen."
Religiöse Minderheiten im Osmanischen Reich
Das harmonische Bild ist Ausdruck einer spezifischen Lesart der türkischen Geschichte, nach der das Osmanische Reich, der Vorgängerstaat der Republik Türkei, als ein für seine Zeit mustergültiger Hort von Toleranz und religiöser Vielfalt aufscheint. Ein prominentes Beispiel dafür liefert der Historiker Kemal Karpat: "Der Osmanische Staat war vielleicht der perfekteste islamische Staat, der je bestand. Sein Streben war darauf gerichtet, mit Hilfe des religiösen Rechts (Scheriat) einen homo islamicus hervorzubringen, während die Nichtmuslime über die liberalen Vorschriften des Millet-Systems in der Lage waren, ihren Glauben und ihre Identität zu bewahren."
Karpat ist einer der angesehensten Historiker des Osmanischen Reichs und lehrt in den USA. Mit dieser Einschätzung steht er auch international nicht allein.
Der wirtschaftliche Aufstieg Europas sowie die Nationalbewegungen des Balkans brachten das Millet-System allmählich zum Erliegen. Letztere führten zunächst zur Ausweitung der Zahl der Millets: Es kamen die bulgarische, die rumänische, die protestantische und die (römisch-)katholische Millet hinzu. Die Idee des Nationalstaats und die Gründung von Staaten christlicher Völker auf altem osmanischem Territorium verwandelten die früher "beschützten nichtmuslimischen Untertanen" (dhimmî) zuerst in Gegner des Reiches und später in Feinde der neuen türkischen Nation. Das Reich versuchte mit "Neuordnungen" (tanzimat) eine politische Modernisierung, die auf die Schaffung einer osmanischen Staatsnation gerichtet war, deren Mitglieder unabhängig von der Religion die gleichen Staatsbürgerrechte haben sollten. Doch die Reformen konnten die Frontenbildung zwischen Muslimen und Christen nicht aufhalten, denn die "Neuordnungen" stellten Nichtmuslime den Muslimen rechtlich gleich und machten aus ihnen zuerst politische und wirtschaftliche Konkurrenten und dann "Fünfte Kolonnen" der europäischen Kolonialmächte. Das Bild der friedlichen, wenngleich hierarchischen Ordnung der Religionen, welches in Hatay beschworen wurde, wich dem Bild von der Frontstellung zwischen Christen und Muslimen, wie es uns im Befreiungstheater von Askale entgegentritt.
Religiöse Minderheiten in der Zeit des Nationalismus
Wichtige Zwischenschritte im Übergang von einem zum anderen Bild waren der osmanisch-russische Krieg von 1879, die Balkankriege 1912/13 sowie der Unabhängigkeitskrieg nach dem Ersten Weltkrieg. Die Niederlagen der Osmanen auf dem Balkan führten zur Massenflucht von mehreren Hunderttausend Türken und Muslimen in die Gebiete Anatoliens und transportierten das Bild vom aggressiven Christen.
Dieser auf zwischenstaatlicher Abmachung beruhenden, "zivilen" ethnischen Säuberung von Griechenland, Teilen des Balkans und der Türkei war bereits während des Ersten Weltkrieges die Auslöschung armenischen Lebens in Anatolien vorausgegangen. Die offizielle Türkei bestreitet noch heute, dass die "Deportationen" von rund 800 000 Armeniern auf die Vernichtung des armenischen Volkes zielten, und erhält dabei von einigen westlichen Akademikern Unterstützung.
Zwei Dinge stehen im Zentrum dieser gewaltsamen Konflikte zwischen Christen und Muslimen: zum einen das Aufkommen des modernen Nationalstaats in Europa, zu dessen Credo es gehört, dass er nur einer kulturellen Gruppe, seiner Nation, verpflichtet ist; zum zweiten die Entwicklung nationaler Identität aus religiöser Zugehörigkeit. Auf dem Balkan und auch bei den Armeniern waren die Kirchen und ihre Schulen Keimzellen des Nationalgedankens und die ersten nationalen bzw. nationalistischen Institutionen.
Die kulturell homogene Nation
Für die politische Kultur der Republik Türkei ist noch ein weiterer Aspekt wichtig. Riza Nur, der bei den Verhandlungen von Lausanne
Damit war nicht die Ausmerzung von "rassischen" und sprachlichen Minderheiten gemeint, sondern ihre Assimilation mit dem Türkentum. Als Bedingung für erfolgreiche Assimilation galt die Zugehörigkeit zum Islam. Musterhaft zeigte sich dies im "Siedlungsgesetz" von 1926, welches drei Gruppen von Einwohnern unterschied: 1. Türken und Türkischsprachige; 2. Nichttürkischsprachige mit Nähe zur türkischen Kultur; 3. Gruppen nichttürkischer Kultur.
Zwar wurden die Staatsbürgerrechte offiziell nie an die Religionszugehörigkeit geknüpft, doch die entsprechende Haltung zieht sich durch die Stellungnahmen von Politikern, durch Gerichtsurteile und indirekt auch durch Gesetze und Erlasse. In den 1920er Jahren wurden Privatfirmen gezwungen, den Großteil ihrer nichtmuslimischen Angestellten zu entlassen, und das Beamtengesetz von 1926, welches bis 1965 in Kraft war, machte nicht die Staatsangehörigkeit, sondern die Eigenschaft "Türke" zur Voraussetzung für die Beschäftigung im öffentlichen Dienst.
Die eben beschriebene Haltung und kein religiöses Dogma liegt dem langsamen Sterben nichtmuslimischer Gemeinden in der Türkei zugrunde. Die Zahl der Nichtmuslime für das Gebiet der heutigen Türkei nahm im Laufe der vergangenen hundert Jahren immer mehr ab (siehe Tabelle der PDF-Version).
Der große Einschnitt von 1914 bis 1927 ist Folge der armenischen Katastrophe, des Bevölkerungsaustauschs mit Griechenland und der muslimischen Einwanderung aus dem Balkan. Die weitere Abnahme der Nichtmuslime seit 1927 hängt mit verschiedenen Maßnahmen zusammen, die aus der Vorstellung einer kulturell homogenen Nation herrühren. Zu den wichtigsten zählen: die Verweigerung der Rechte aus dem Lausanner Vertrag für die ostanatolischen Gemeinden der Syrischen und Nestorianischen Kirche seit der Gründung der Republik; die willkürliche Beschränkung des nichtmuslimischen Wirtschaftslebens durch Einschränkung der Freizügigkeit und der Beschäftigung sowie durch Ausgrenzung der Nichtmuslime aus dem öffentlichen Dienst in den 1920er Jahren;
Nichtmuslime in der Türkei heute
Von den etwa 300 000 Armeniern, die bei Gründung der Republik noch in der Türkei gelebt haben sollen, sind heute noch rund 60 000 übrig. Nach einer Kampagne des Istanbuler Patriarchats zur Umsiedlung leben sie fast ausschließlich in Istanbul.
Die Liste der Probleme der Gemeinden ist lang, und den Bemühungen, sie zu verkürzen, war bisher nur wenig Erfolg beschieden. Obwohl der Vertrag von Lausanne allen nichtmuslimischen Minderheiten die Weiterführung und Neugründung ihrer Institutionen zusicherte, gewährt der Staat diese Rechte nur äußerst selektiv. Die ostanatolischen Kirchen (Syrer und Nestorianer) können bis heute keine eigenen Schulen betreiben, und die syrischen Christen wurden selbst für den außerschulischen Unterricht ihrer Kinder in der Muttersprache häufig vor den Kadi gezerrt. Die protestantischen Gemeinden meist türkischer Konvertiten (etwa 5000) sind für den Staat nicht existent. Bis Juli 1990 mussten die Kinder beider Gruppen am staatlichen Religionsunterricht teilnehmen, der aus islamischer Perspektive unterrichtet wird und noch immer auch islamischen Kult lehrt und abfragt. Alle Staatsbürger zahlen die gleichen Steuern, doch nur (sunnitische) Muslime erhalten religiöse Dienstleistungen. Die Minderheiten müssen nicht nur die Kosten für Religionslehrer und Geistliche selbst tragen, der Staat erlaubt auch nicht, dass geistlicher Nachwuchs ausgebildet wird. Die Priesterseminare der Griechisch-Orthodoxen und der Armenisch-Gregorianischen Kirche (Chalki und Tibrevank) wurden in den 1970er Jahren ohne Ersatz staatlicherseits geschlossen.
In den Schulen der Minderheiten wird seit Jahrzehnten um Unterricht in der Muttersprache gestritten. Ein obligatorischer stellvertretender Direktor, der immer "Türke" (sprich: Moslem) ist, führt in den Schulen der Minderheiten oft das eigentliche Regiment.
Muslimische Zivilgesellschaft?
Es ist kein Zufall, dass das Bild religiöser Vielfalt in der Türkei, welches am Anfang dieses Beitrags steht, primär von muslimischen Kreisen geschaffen und von ihnen benutzt wird. Muslimische Zusammenschlüsse wie die "Stiftung für Schriftsteller und Journalisten" waren die ersten, die den interreligiösen Dialog betrieben, und die muslimisch-konservative AKP (Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei) von Erdogan benutzt Auftritte wie den in Hatay für ihren EU-Kurs. Die AKP war es auch, welche die bescheidenen Verbesserungen für Nichtmuslime durchsetzte: Das 6. Anpassungspaket ersetzte im Bebauungsplangesetz (Imar Kanunu) den Ausdruck "Moschee" durch "Gebetshaus" und machte damit die formelle Gleichbehandlung und Neuerrichtung von Kirchen möglich. Die Verwaltung darf seither auch Minderheitenstiftungen Schenkungsimmobilien überschreiben. Erste Schritte zur Gleichbehandlung der Syrisch-Orthodoxen Kirche im Rahmen der Lausanner Vorschriften wurden eingeleitet, und diskriminierende Nummernfolgen in den Pässen der Minderheiten fielen weg. Gleichzeitig machte die Regierung Vorstöße zur Öffnung des griechischen Priesterseminars und verabschiedete ein neues Stiftungsgesetz. Unter allen türkischen Politikern sprach sich bisher nur der Premierminister klar dagegen aus, "religiösen Nationalismus" zu betreiben, denn es sei nicht Aufgabe des säkularen Staates, den Titel " christlicher Geistlicher" zu bewerten.
Die Opposition sieht in alldem "Verrat" an der Türkei und eine Schwächung des spezifischen türkischen Laizismus. Denn dieser kennt keine Selbstorganisation der Mehrheitsreligion und deshalb auch keine Trennung von Staat und Religion.
Religion als Aufgabe der Zivilgesellschaft zu verstehen, würde ganz von selbst die Trennung von Staat und Religion, religiöse Vielfalt und rechtliche Regelungen des Verhältnisses von Staat und Religion bedeuten. Für die Türkei ist ein solches Konzept noch immer Neuland. Es setzt voraus, dass sich die Geisteshaltung ändert, wonach der Staat seine Nation kulturell formen darf, ja muss, weil es für den Bestand des Staats als unabdingbar gilt. Das bedeutet jedoch auch, dass sich die Republik Türkei von ihrem Misstrauen den eigenen muslimischen Bürgern gegenüber lösen müsste.