Einleitung
Der Vordere Orient wurde im 20. Jahrhundert zunehmend islamisiert. Herrschte einst ein lebhaftes Miteinander von Islam, Christentum, Judentum, Zoroastriern, Buddhismus und Mischreligionen wie Baha'i und Jeziden, so reduzierte sich die Präsenz der von alters her beheimateten Religionen.
Seit ab Mitte des Jahrhunderts auch die Juden infolge des Palästinakonflikts die Staaten der islamischen Welt verließen, blieben allein die Christen in nennenswerter Zahl. Der religiösen Verkümmerung des Vorderen Orients, der Reduktion auf die Angehörigen nur noch einer der Weltreligionen, stehen in den Ländern des muslimischen Herrschaftsbereiches nur noch die Christen als öffnender Faktor entgegen, der zu allen Bestrebungen, die auf religiöse Engführung zielen, in Widerspruch geraten muss.
Der Islam und die Christen
In wenigen Jahrzehnten des 7. Jahrhunderts eroberte der Islam die Kerngebiete des Christentums. Im ägyptischen Alexandria und im syrischen Antiochia lehrten die ersten großen Denker des Christentums, und noch heute zehren die Kirchen in aller Welt von diesem geistigen Erbe. Die Heimat Augustins wurde zu einem rein islamisch dominierten Gebiet in Gestalt des heutigen Staates Tunesien. In Palästina, dem Boden, auf dem einst Jesus Christus wandelte, baute der Kalif Abd al-Malik (reg. 685-705) als Zeichen der neuen Zeit in der Nähe der Klagemauer jenen Felsendom, dessen antichristliche Inschriften ein für alle Mal dokumentieren sollten, wer hier die Nachfolge des Christentums angetreten hatte. Die christliche Bevölkerungsmehrheit begriff erst allmählich, dass die Niederlage endgültig war, und musste lernen, den Rahmen der islamischen Welt als für das eigene Überleben maßgeblich zu akzeptieren.
Die Verkündigung des Korans galt zunächst auch arabischsprachigen Christen, die vor Übertreibungen und dem falschen Weg gewarnt wurden. Anstoß erregte besonders die Lehre von der Gottessohnschaft Jesu und der Trinität; nachdrücklich werden die Christen aufgefordert, nicht "drei" zu sagen (Suren 4,171; 5,73). Zwar stellt der Koran die Christen als dem Islam besonders nahe dar, weil es bei ihnen Priester und Mönche gebe und sie nicht hochmütig seien (Sure 5,82-85). Aber nachdem sich die Christen der Botschaft Mohammeds hartnäckig verweigerten und ihrerseits auf der Exklusivität ihres Glaubens bestanden (Sure 2,111), verschärfte sich der Ton. Der Islam sah sich nun beauftragt, die Christen wegen ihres Unglaubens und ihrer Verstockung zu unterwerfen, bis sie zuletzt von dem, was sie besitzen, "kleinlaut Tribut entrichten" (Sure 9,29). Für das Leben in ihrer Religion mussten sie zahlen. So wurden sie zu abhängigen Schutzbürgern (arab. dhimmi). Oft wurden dann nicht die wenigen anerkennenden Passagen zum Christentum im Koran wirksam, sondern die teilweise äußerst negativen Formulierungen (vgl. Suren 3,71; 5,51.57; 9,29f.).
Die Christen wurden in der Regel nicht mit Gewalt gezwungen, zum Islam zu konvertieren. So stellten sie noch über Jahrhunderte hinweg die Bevölkerungsmehrheit in den meisten der eroberten Gebiete. Das Beieinander der beiden Religionen wurde zunächst pragmatisch gelöst. Die Christen etwa von Nadjran, einer Stadt im Grenzgebiet zwischen Jemen und Saudi-Arabien, in der sich seit dem 4. Jahrhundert syrische Christen angesiedelt hatten, entsandten eine wohl politisch-wirtschaftliche Delegation zu Mohammed. Vermutlich kam es im Laufe eines theologischen Streitgesprächs zur Verständigung, dass jeder bei seinem Glauben blieb. Die Christen von Nadjran erklärten sich bereit, ein Vertragsverhältnis einzugehen, in dem ihre Rechte und Pflichten bestimmt wurden, für welche sie finanzielle Abgaben leisten mussten. Unter dem ersten Kalifen Abu Bakr (reg. 632-634) kam der Vertrag zur Ausführung, wurde allerdings schon wenige Jahre später aufgehoben. Die heute erhaltenen Formen des Vertrages sind zwar spätere Ausgestaltungen, deutlich aber wird, dass die Christen ausdrücklich nicht erniedrigt und dass sie vor Beleidigungen geschützt werden sollten. Wie sich die Geschichte der Christen dieser Region unter islamischer Herrschaft dann konkret gestaltete, ist heute ebenso wenig auszumachen wie die Umstände ihres Untergangs irgendwann nach dem 9. Jahrhundert.
Der Vertrag von Nadjran zeugt davon, wie sich Muslime und Christen in der Anfangszeit ihrer Koexistenz zu verständigen suchten und wie dann schließlich doch die Christen wichen. Überall, wo die Muslime christlich besiedelte Gebiete eroberten und ihrem Weltreich einverleibten, entstanden solche Verträge; sie grenzten Sieger und Besiegte voneinander ab, was in späteren Verträgen auch durch Kleider- und Bauvorschriften deutlich wird. Die Verträge haben eine ambivalente Bedeutung, denn einerseits enthielten sie aufgrund des auferlegten ökonomischen Drucks wohl auch eine zur Konversion reizende Spitze gegen die Christen, andererseits widersprachen sie aber der universalen Mission des Islam, indem sie die Angehörigen der anderen Religion unter Auflagen gewähren ließen. Dieses System der Schutzverträge behielt seine Gültigkeit noch in der Form des Millet-Systems bis zum Untergang des Osmanischen Reiches 1923. Die in ihren Anfängen beachtenswerte Ordnung der Schutzverträge fand im Laufe der Geschichte aber keine progressive, sondern nur eine regressive Fortschreibung und führte schließlich zur fast ausschließlichen Verwendung als für den Staat finanziell attraktives Repressionsinstrument.
Die Folgen für die Christen waren massiv: Sie wurden zu Fremden in ihren Heimatländern, und die Eroberer eigneten sich das Land als das ihre an. Schlimmer noch wirkte das System auf die Psyche der Christen des Orients. Wehrlosigkeit und Erniedrigung reduzierten christlich-orientalische Existenz auf ein labiles und vom Geld oder ausländischen Beschützern abhängiges Überleben. Die Schutzbürger nahmen sich zusehends als minderwertige Menschen wahr, und partiell akzeptierten sie sich als solche. In vielen Zeugnissen der orientalischen Christen sind diese Symptome einer "Minderheitenpsyche" auszumachen, und nicht untypisch dürfte sein, was der nach Deutschland emigrierte Schriftsteller Rafik Schami (geb. 1946) berichtet. Aus den Tagen seiner Kindheit in Damaskus erinnert er sich, wie ihn ein muslimischer Nachbarsjunge zu sich in den Stall lockte und plötzlich mit dem Klappmesser auf ihn losgegangen sei: "Wir wollen dich beschneiden, damit du ein Muslim wirst." Der bedrängte Christenjunge wurde zwar noch rechtzeitig von einem Erwachsenen, der seine Hilfeschreie hörte, aus der Situation befreit; doch der gab ihm zugleich den Rat, den Vorfall nicht seinem Vater zu erzählen, damit er nicht zum Problem für das ganze Dorf werde. Seitdem machte Schami einen Umweg um das Haus dieses Jungen. "In jenen Tagen erkannte ich die bedrohliche Lage der Minderheit." Diese Erkenntnis ging einher mit Folgen für das eigene Sozialverhalten: "Da ich aus einer historischen Minderheit komme, die ihre Kinder nie zum Selbstmord, sondern zum beharrlichen Widerstand erzogen hat, wähle ich nicht die Ohrfeige als Hinweis auf die Wahrheit."
Die Konversion zum Islam war für nicht wenige Christen ein opportunes Mittel, sich der bisweilen drückenden finanziellen Last zu entledigen, und verhieß eine Verbesserung des sozialen Status. Wollte aber ein zum Islam konvertierter Christ wieder zu seiner ursprünglichen Religion zurückkehren, musste er die Todesstrafe befürchten. So erging es dem heiligen Elias in Damaskus. Der heilige Bachus, Sohn einer christlichen Mutter und eines muslimischen Vaters, ließ sich in Jerusalem nach dem Tod des Vaters taufen; auch er wurde hingerichtet. Die Liste der als Märtyrer in den orientalischen Kirchen verehrten Bekenner ist lang und wird bis heute liturgisch wach gehalten.
Christliche Völker im Orient
Die große Vielfalt christlich-orientalischer Ethnien und Kulturen ist noch heute verwirrend für viele westliche Betrachter.
Die verschiedenen theologischen Profile der orientalischen Christenheit entwickelten sich im Gefolge der großen christologischen Streitigkeiten der Spätantike um die Frage, wie sich Gottheit und Menschheit Jesu zueinander verhielten und wie ihre Einheit zu denken sei - die theologischen Grundentscheidungen von vor 1600 Jahren prägen noch immer die kirchliche Gegenwart des Orients. Auf ein entscheidendes Moment für das Christsein in den Kirchen in der islamischen Welt weist die Verbindung von Konfession und Sprache hin: In den kirchlichen Traditionen manifestieren sich eben auch die jeweiligen Ethnien. Heute sprechen die meisten christlichen Völker Arabisch und nutzen ihre traditionellen Sprachen nur noch in der Liturgie.
Die Armenier stellen seit dem Jahr 301 die älteste Staatskirche der Welt. Heute stehen der Armenischen Apostolischen Kirche zwei Oberhäupter vor, Katholikos Karekin II. Nersissian (reg. seit 1999) mit Sitz in Etschmiadzin/Armenien, und Katholikos Aram I. (reg. seit 1995) mit Sitz in Antelias/Libanon. Nahezu die gesamte Bevölkerung der Republik Armenien gehört zur armenischen Kirche; sie ist die mitgliederstärkste Kirche der Türkei, hat eine beachtenswerte Diaspora im Iran, einige Gemeinden in Israel/Palästina, Syrien, den Golfstaaten, Ägypten, Sudan und dem Libanon. Die starke Anbindung an den Westen durch die zahlenmäßig beachtliche Diaspora in den USA und Europa (vor allem Frankreich) belegt, was der vormalige Katholikos zum Selbstverständnis seiner Kirche ausführte: "Obwohl die armenische Kirche ethnisch und kulturell sowohl mit dem Osten als auch mit dem Westen verbunden ist, stand sie in der Vergangenheit mehr als jedes andere Glied der Familie orientalischer Kirchen mit dem Westen in Verbindung."
Die Emanzipation der Kopten in Ägypten von der byzantinischen Reichskirche vollzog sich erst Mitte des 5. Jahrhunderts, und nach der arabischen Eroberung Mitte des 7. Jahrhunderts konnten sie ihre Position zunächst festigen. Die Nubier, die aufgrund ihrer militärischen Stärke zeitweilig als Schutzmacht der Kopten fungierten, waren von den Schutzverträgen mit den Muslimen ausgenommen; das nubische Christentum ging seit der Niederlage der Nubier im 14. Jahrhundert allmählich unter. Den Kopten gelang es, überproportional Einfluss auf die politische Entwicklung ihres Landes zu nehmen, was zu teilweise blutigen Konflikten mit den islamischen Machthabern führte. Nach verheißungsvollen Entwicklungen im 19. Jahrhundert, als die Christen zeitweilig von Abgaben befreit und der muslimischen Bevölkerung gleichgestellt waren, nahm im 20. Jahrhundert der Druck auf die Christen wieder zu, besonders seit den 1980er Jahren nach der Einführung der Scharia. Heute treten jährlich etwa 15.000 Kopten zum Islam über. Die Koptische Orthodoxe Kirche unter ihrem in Kairo residierenden Oberhaupt Papst Schenouda III. (reg. seit 1971) stellt heute etwa 12 Prozent der Bevölkerung Ägyptens gegenüber ca. 85 Prozent Muslime. Auch die Kopten verfügen über eine weltweite Diaspora, sind als Minderheiten im Sudan, in Libyen, Israel/Palästina und den Golfstaaten vertreten.
Die Angehörigen der byzantinischen Staatskirche wurden zunächst Melkiten genannt (von syr. malka "König", als Anhänger des byzantinischen Kaisers), heute werden sie als Rum-Orthodoxe bezeichnet (nach arab. rum für den östlichen Teil des Römischen Reiches), nachdem sich im 18. Jahrhundert ein Teil der Kirche dem Primat des römischen Papstes unterstellt hat (seitdem werden allein die Anhänger dieser unierten Teilkirche Melkiten genannt). Nach einer äußerst spannungsvollen Geschichte in Auseinandersetzung mit den muslimischen Machthabern bekennt sich keine andere orientalische Kirche so entschieden und engagiert zum Arabersein wie die Rum-Orthodoxe. Der Rum-Orthodoxen Kirche unter ihrem Patriarchen Ignatius IV. (reg. seit 1979) mit Residenz in Damaskus gehören heute etwa sieben Prozent der libanesischen Bevölkerung an, der Melkitischen Griechisch-Katholischen Kirche unter Gregorios III. Laham (reg. seit 2000) ca. fünf Prozent. In Syrien stellen die Rum-Orthodoxen die mit Abstand größte Kirche da, sind hingegen in der Türkei und im Irak nur eine Minderheit, ebenso in Israel/Palästina; sie widerstanden der Migration stärker als andere orientalische Christen. Die Melkiten sind relativ stark vertreten in Israel/Palästina sowie in Syrien und Jordanien.
Die Angehörigen der Syrischen Orthodoxen Kirche, deren Patriarch Mor Zakka I. Iwas (reg. seit 1980) heute in Damaskus residiert, werden oft auch einfach als Westsyrer (die Christenheit westlich des Euphrats) oder "Jakobiten" (nach ihrem Organisator Jakob Baradaios, ca. 490-578) bezeichnet; ihre Anhänger identifizieren sich, besonders in der westlichen Diaspora, bevorzugt mit den Aramäern der Antike. Nach ihrer Blütezeit im 12./13. Jahrhundert erfuhr die Kirche infolge der Vernichtungszüge der Mongolen im 14. Jahrhundert einen dramatischen Niedergang. Heute beläuft sich die Zahl ihrer Anhänger in der Türkei auf ca. 18.000, etwas zahlreicher ist sie in Syrien und im Libanon, geringe Minderheiten finden sich auch im Irak, in Israel/Palästina und den Golfstaaten. Insgesamt ist die Syrische Orthodoxe Kirche im Vorderen Orient nur noch ein Schatten ihrer selbst, verfügt aber über eine weltweite Diaspora.
Die Maronitisch-Syrische Kirche, die sich im 7. Jahrhundert von der Syrischen Orthodoxen Kirchen abspaltete und sich auf den Mönch Maron zurückführt, wurde massiv von den Jakobiten und den Muslimen verfolgt und zog sich in die libanesischen Berge zurück; doch auch in Syrien blieben Gemeinschaften erhalten. Im 12. Jahrhundert kam es zur Union mit Rom, und seit dem 16. Jahrhundert setzte eine starke Latinisierung der Kirche ein. Die Maroniten distanzierten sich bewusst von ihrer arabischen Umgebung und der Arabisierung ihres Lebens. Ihre Klöster in den Bergen wurden zu Fluchtburgen verfolgter Christen in der islamischen Welt. Die enge Anbindung an den Westen führte zu weiterer Verfolgung und starker Dezimierung. Seit der Gründung des Staates Libanon (1926) stellen die Maroniten den Staatspräsidenten, aber ihre einstige Bevölkerungsmehrheit ist auf einen Bevölkerungsanteil von heute ca. 25 Prozent geschrumpft, ihr Anteil in Syrien und Israel/Palästina ist gering, in anderen Ländern nahezu bedeutungslos; die meisten Maroniten leben außerhalb des Orients.
Die syrische Christenheit östlich des Euphrats, im Mittelalter die flächenmäßig größte Kirche der Welt - mit einer Ausdehnung über das Persische Reich bis nach Peking und die Mandschurei, nach Japan und nach Indonesien -, musste sich allein wegen ihrer starken Provinzen auf arabischem Boden am intensivsten mit der neuen islamischen Herrschaft auseinandersetzen. Sie war nie Staatskirche, erzielte aber enorme Missionserfolge. Der Patriarch der Ostsyrer, die bisweilen auch mit der konfessionspolemischen Bezeichnung "Nestorianer" belegt werden (nach dem Häretiker Nestorius, gest. um 451), galt den Muslimen als Oberhaupt aller Christen in der islamischen Welt, weshalb ihn der Kalif mit "Vater der Christenheit" ansprach. Im 13. Jahrhundert eroberten die Mongolen die Kernlande des islamischen Weltreichs, und obgleich zeitweilig ein Mongole der Kirche als Katholikos vorstand, nahmen die Mongolen nicht wie erhofft das Christentum, sondern wie befürchtet den Islam an - daraufhin begann der Niedergang der Kirche des Ostens. Die Vertreter der Assyrischen Apostolischen Kirche des Ostens bilden heute einen großen Teil der Christen im Irak. Derzeit stehen dieser Kirche zwei miteinander rivalisierende Patriarchen vor, Mar Addai II. (reg. seit 1972) mit Sitz in Bagdad und Mar Denkha IV. (reg. seit 1976) mit Sitz in Chicago/USA. Ein etwas größerer Teil der Christen im Irak gehört aber der Chaldäisch-Katholischen Kirche an, die sich durch Unionsbemühungen mit Rom seit dem 15. Jahrhundert von der Mutterkirche abgespalten hat; die Chaldäer durften ihr ostsyrisches Brauchtum beibehalten, ihr Patriarch Mar Emmanuel III. (reg. seit 2003) residiert heute in Bagdad.
Die kirchliche Vielfalt wird noch gemehrt durch die zahlreichen protestantischen Kirchen, die infolge besonders der amerikanischen Missionen im 19. Jahrhundert sich in nahezu allen christlich-orientalischen Ethnien bildeten (Presbyterianer, Kongregationalisten, wenige Lutheraner, heute verstärkt Baptisten, Adventisten und Pfingstler).
Die orientalischen Christen und der Westen
In historisch wichtigen Wendezeiten kooperierten einerseits orientalische Christen wie der Patriarch Benjamin I. (reg. 626-665) mit den Ägypten erobernden muslimischen Arabern, während andererseits etwa das kleinarmenische Königreich sich in die Kreuzzugsbemühungen des Westens eingliederte. Immer bestanden diese beiden Optionen für die orientalischen Christen, ohne je wirklich Optionen zu sein. Denn im Falle der Entscheidung für die Differenz zum Westen verloren sie nicht nur die westliche Unterstützung, sondern mussten sich auch ohne die Illusion einer potenziellen Rechristianisierung ihrer angestammten Lebensräume in die islamisch beherrschte Welt einfügen - es gab kaum Chancen, deren innergesellschaftliche Grenzziehungen durch Leistungsbereitschaft zu überschreiten oder gar dauerhaft Motor politischer Entwicklungen zu werden. Erstaunlicherweise gelang dies dann aber doch immer wieder an bedeutsamen Nahtstellen. Im Falle der Entscheidung für den Einklang mit dem Westen aber entschieden sie sich zugleich für eine Entfremdung von ihrer Umwelt und setzten sich der Gefahr aus, ihre orientalische Identität zu verlieren.
Das Auseinanderstreben zwischen der mittlerweile längst zur Mehrheit gewordenen muslimischen Bevölkerung und den Angehörigen der christlich-orientalischen Völker verschärfte sich, als im Orient Reformen Einzug hielten, deren ideeller Gehalt aus dem Westen importiert wurde. Bereits 1839 und 1856 hatte die Führung des Osmanischen Reiches Reformen in westlicher Manier angestrebt, die gültig sein sollten für alle Einwohner des Reiches, unabhängig von der Religionszugehörigkeit. Gleichheit vor dem Gesetz bedeutete auch die Einführung der Militärpflicht für die orientalischen Christen. Zwar bemühte sich die Reformbewegung in der Folgezeit um die Beseitigung der konfessionellen und religiösen Unterschiede und die Verschmelzung aller unterschiedlichen Volksgruppen des Reiches in einer neuen Ideologie - dem Osmanismus -, aber es blieb doch unausweichlich, dass diese Bewegung mit den traditionellen und auf religiösen Werten aufbauenden Gesellschaftsstrukturen und ihren Verfechtern kollidieren musste. Der Nationalismus, der im Schatten dieser ersten Reformbewegungen heranreifte, stand mit seinem laizistischen Gesellschaftsbegriff ausdrücklich weithin im Gegensatz zur religiös-sozialen Ordnung des alternden Reiches. Zwar teilten viele orientalische Christen die Ideale der Bewegung - in dieser Zeit entstanden zum Beispiel auch die bis heute existierenden Parteien der Armenier, die oft alsbald sozialistisches Gedankengut in sich aufnahmen -, aber stärker blieb doch der Wille zur Emanzipation vom Osmanischen Reich, der aus einer Mischung von nationaler Bestrebung mit einer über die christliche Religion vermittelten historischen Identität erwuchs. Wo immer den christlichen Ethnien im Westen des Osmanischen Reiches die Emanzipation gelang, da vollzog sie sich in direkter Rückbindung an den Westen und mit Eingriffen ausländischer Mächte in die Belange des zerfallenden Staates. Die Reform zeitigte also eine ihr entgegengesetzte Wirkung. Irritiert notierte der britische Generalkonsul in Beirut 1841 die ihm eigentümlich erscheinende Tatsache, dass es ein halbes Jahr nach der Verkündung der Reformen im Land "eine allgemeine Reaktion zugunsten des Korans und der exklusiven Privilegien der Muslime gegenüber Christen" gegeben habe. Diese Reaktion stehe "in krassem Widerspruch zu der Doktrin von der Gleichheit aller vor dem Gesetz", die doch das Herzstück des Reformwerkes gewesen sei.
Die Intellektuellen der christlichen Bevölkerungsgruppen wurden oft zu entschiedenen Anhängern des Säkularismus und des Nationalismus. Von der Übernahme dieser westlichen Ideen erhofften sie sich den Wandel im Orient. Wenn diese Ideen im Orient übernommen worden wären, so wäre die Frage nach der religiösen Zugehörigkeit sekundär geworden und hätte anderen Maßstäben Platz machen müssen, etwa der besonderen Qualifikation für bestimmte Aufgaben - noch heute ringen die orientalischen Christen um die von ihnen erstrebte Gleichheit. Doch diese Emanzipationsbewegungen gingen einher mit immer stärkeren Reaktionen der muslimischen Mehrheitsbevölkerung. Die Christenmassaker 1860 in Syrien und im Libanon stellten eine Reaktion beispielsweise auf die Zurückdrängung der Drusen und die Stärkung der Maroniten dar, selbst wenn dabei die in der Wissenschaft umstrittene Frage außer Betracht bleibt, wem denn nun welches Maß an Verschulden der explosiven Situation zuzurechnen sei. Wie den damals vor allem betroffenen Maroniten erging es 1895/96 den Armeniern. Dieses Mal war der Blutzoll, den die christliche Bevölkerung für die Emanzipationsbestrebungen in ihren Kreisen zu leisten hatte, noch weit höher. Wohl 200.000 Armenier verloren ihr Leben. Die Assyrer oder "Nestorianer" wurden Mitte des 19. Jahrhunderts zunächst in ihrer Stellung im kurdischen Stammessystem entscheidend geschwächt und dann, als sie sich in der Folge des Ersten Weltkrieges in Urmia schon am Ziel einer zumindest lokalen Emanzipation wähnten, zermalmt. Chaldäern und Syrern erging es ebenso, ganz zu schweigen vom Schicksal der Armenier im Ersten Weltkrieg. Von daher ist zu verstehen, wenn Historiker daraus eine direkte Folge konstruieren: Der Niedergang der nichtmuslimischen einheimischen Bevölkerung sei das Ergebnis der Abschaffung des Systems der dhimma bzw. des Milletsystems.
Wo sich ihnen die Möglichkeit bot, beteiligten sich die Eliten der orientalischen Christen aktiv an der arabischen nationalistischen Bewegung. Sie sehnten sich danach, aus der Außenseiterrolle des Milletsystems befreit zu werden und eine aktive politische Rolle spielen zu können. Sie fühlten sich daher in vielen Wirkungsfeldern mit der Vorreiterrolle betraut, die Gesellschaft auf den Weg der Modernisierung zu führen. Auch in kultureller Hinsicht waren sie oftmals Pioniere: Sie haben die erste Druckerpresse in der islamischen Welt eingeführt, zahlreiche wichtige Universitäten gegründet, moderne Formen in der Literatur geschaffen und führende Vertreterinnen der Frauenbewegung im Vorderen Orient gestellt. So fehlt es nicht an Stimmen aus den Reihen der orientalischen Christen, die sich für den Verbleib im Orient aussprechen und ihre Geschwister dazu auffordern, in diesem Sinn die Entwicklung vor Ort voranzutreiben. Wer hätte denn ein vergleichbar existentielles Interesse an säkularer Verfassung und Religionsfreiheit oder einem die Religionen zurückstellenden Nationalismus?
Und doch sind diese Ideen, weil sie von Christen vertreten werden, für viele Mitbürger im Orient bereits verdächtig. Modernismus und Säkularismus bei Christen werden oft als Verfolgung christlicher Partikularinteressen abgetan, und gelegentlich klingt dabei die Verdächtigung an, sie seien als Vertreter dieser Ideen nichts weiter als die fünfte Kolonne im Dienst des westlichen Imperialismus.
Doch nicht alle Wortführer des orientalischen Christentums lassen sich von der extrem erschwerten Lage in der Gegenwart daran hindern, sich zu exponieren. Zu diesen offenen Denkern gehört Georges Khodr (geb. 1923), einer der führenden rum-orthodoxen Theologen und Kirchenführer (Metropolit vom Berg Libanon). Khodr kann als Repräsentant derer gelten, die ungebrochen für eine Zivilgesellschaft im Orient kämpfen, und die sich damit als Motor des Fortschritts, aber nicht einfach als fünfte Kolonne des Westens sehen. Obwohl fraglos westlichem Denken verpflichtet, differenziert er deutlich. Das zeigt sich etwa an seiner Stellung zum säkularen Staat: "Der Begriff des Säkularismus interessiert mich nicht, ich habe ihn selten gebraucht. Mich interessiert vor allem die Freiheit, ich meine die Freiheit der individuellen Selbstbestimmung, wie sie jeder für sich versteht. Zu dieser Überzeugung ist Europa gelangt, ohne dass die orientalische Welt sie begriff. Die europäische Auffassung ist die menschliche Auffassung einer kreativen Gesellschaftsordnung. Diese widerspricht weder unseren spirituellen Gaben noch der tiefen Religiosität. Es bedeutet keineswegs den sittlichen Verfall."
Wann immer sich orientalische Christen nach Gleichberechtigung sehnen, blieb und bleibt ihnen gar nichts anderes übrig, als für die Modernisierung ihrer Umwelt einzutreten, die für sie nicht ohne den Westen zu haben ist. Eine Emigration in den Westen bedeutet nicht zwangsläufig ein "Ja" zur Gesamtheit westlicher Lebenswelt, sondern nur zu den entscheidenden Merkmalen, ohne dieman nicht mehr existieren will und denen man sich zugehörig fühlt. Würden diese Merkmale im Orient ermöglicht, erübrigte sich für viele der Weg gen Westen, und sie stünden da, wo sie sind, für das, wassie sind: Menschen, die Fortschritt und Moderne, Gleichheit und Verantwortungwollen und bejahen, nicht als etwas Westliches, sondern als etwas elementar Menschliches.
Ausblick
Die zunehmende Marginalisierung der orientalischen Christen in den vergangenen Jahrzehnten hat zu der historisch neuen Situation geführt, dass Christen im Orient nicht mehr führend an der politischen Gestaltung beteiligt sind. Nahmen sie im Laufe der Zeit immer wieder höchste Staatsämter wahr - genannt werden können etwa der Kopte Butros Ghali (1846-1910), von Nationalisten ermordeter Ministerpräsident Ägptens, Faris al-Khoury (1877-1962), wiederholt Finanzminister, Parlaments- und Ministerpräsident Syriens, oder Tareq Aziz (geb. 1936), chaldäischer Christ und unter Saddam Hussein erakischer Außen- und Vizepremierminister -, so werden sie mehr und mehr zu Fremdkörpern in ihren eigenen Ländern.
Die orientalischen Christen allein halten die islamische Welt noch im Sinne der alten religiösen Koexistenz offen. Im Umgang der Muslime mit der einzigen quantitativ bedeutenden anderen Weltreligion wird sich erweisen, ob sich die islamische Welt auf offene und partnerschaftlich gleichwertige Multireligiosität hin zu entwickeln vermag oder nicht.