Einleitung
Am 30. April 2005 feierte die vietnamesische Führung in Ho-Chi-Minh-Stadt, dem früheren Saigon, den 30. Jahrestag des Kriegsendes.
Die innovative Choreographie der Gedenkfeier spiegelt die Veränderungen wider, die sich in Vietnam seit Beginn der Reformpolitik Ende der 1980er Jahre vollzogen haben. Die Kommunistische Partei Vietnams, die das Land nach wie vor allein regiert, legitimiert sich mehr und mehr mit den wirtschaftlichen Erfolgen und dem Wohlstand, den die Reformen dem Gros der Bevölkerung in den vergangenen Jahren beschert haben. Die Partei verweist auch deshalb verstärkt auf ihre erfolgreiche Wirtschaftspolitik, weil der Großteil der Bevölkerung nach Ende des Krieges geboren wurde und damit sowohl den Sieg über die französische Kolonialmacht als auch den über die Supermacht USA nur aus den Schulbüchern oder aus Erzählungen ihrer Eltern und Großeltern kennt.
Dennoch ist die Geschichte weiterhin eine zentrale Legitimationsquelle für die KP Vietnams. Sie bemüht sich, ein heroisierendes und teleologisches Geschichtsbild aufrechtzuerhalten, das die "glorreiche revolutionäre Vergangenheit" und den erfolgreichen Kampf des vietnamesischen Volkes unter Führung der KP gegen die französische Kolonialmacht und die USA beschwört.
Diese Veränderungen in der vietnamesischen "Erinnerungslandschaft" werden durch die größeren intellektuellen Freiräume ermöglicht, welche die Bevölkerung seit der Öffnung des Landes Ende der 1980er Jahre und der Lockerung der Kulturpolitik genießt.
Die Landreform (1953 - 1956)
Am 2. September 1945 erklärte Ho Chi Minh in Hanoi die Unabhängigkeit Vietnams und rief die Demokratische Republik Vietnam (DRV) aus. Der Versuch der Franzosen, ihre Kolonialherrschaft wiederaufzubauen, führte 1946 zum Beginn des ersten Vietnamkrieges. Der "schmutzige Krieg in Indochina" endete nach acht Jahren im Mai 1954 mit dem Sieg der Viet Minh in der Schlacht von Dien Bien Phu.
Während des Krieges gegen die Franzosen hatte die Viet-Minh-Einheitsfront, die 1941 von Ho Chi Minh gegründet worden war, zunächst eine moderate Politik betrieben und an den Patriotismus aller Vietnamesen unabhängig von ihrer Klassenzugehörigkeit appelliert. Dies änderte sich ab Anfang der 1950er Jahre, als der antikoloniale Kampf in Vietnam immer mehr in den Kalten Krieg hineingezogen wurde und die Viet Minh nach der Gründung der Volksrepublik China unter den ideologischen Einfluss des Maoismus gerieten. Nun stand "Klassenkampf" auf dem Programm der KP Vietnams.
Von Ende 1953 bis zum Herbst 1956 wurde in Nordvietnam eine Landreform durchgeführt.
Mitte 1956 waren die Zustände in vielen Dörfern so chaotisch geworden, dass die Partei die Landreform stoppen und der damalige Parteichef Truong Chinh von seinem Amt zurücktreten musste. Ab Ende 1956 führte die Partei eine "Korrekturkampagne" durch, um die Fehler, die bei der Landreform begangen worden waren, rückgängig zu machen. In vielen Fällen war dies jedoch nicht mehr möglich. Wie viele Personen bei der Landreform in Nordvietnam tatsächlich ums Leben kamen, ist nach wie vor ungeklärt. Schätzungen zufolge sind es zwischen 3000 und 15 000 Dorfbewohnern.
Ende der 1950er Jahre leitete die Partei mit der Kollektivierung der Landwirtschaft den nächsten Schritt zum Aufbau des Sozialismus ein. Die fehlerhafte Durchführung der Landreform wurde in der Folge in offiziellen Parteigeschichten als Abweichung von einer grundsätzlich notwendigen und erfolgreichen Politik zur Abschaffung "feudaler Besitzverhältnisse" auf dem Lande dargestellt: Zwar sei es bei der Kampagne zu Fehlern gekommen, doch habe die Parteiführung diese früh erkannt und rechtzeitig Korrekturen eingeleitet.
Die "gereinigte" und "geglättete" Geschichtsversion wird bis heute in den Geschichtswerken in Vietnam verbreitet. In neueren Parteigeschichten wird zwar der Analyse der Fehler größerer Raum beigemessen, doch ist die Diskussion der Frage, wie viele Opfer die Kampagne gefordert hat, und die Schilderung individueller Schicksale und persönlicher Tragödien, die bis heute in den Dörfern Nordvietnams nachwirken, nach wie vor tabu.
Erst 2005 und 2006, also mehr als fünfzig Jahre nach den Ereignissen, erschienen mit dem Roman Ba nguoi khac (Drei andere) von To Hoai und dem Tagebuch des Schriftstellers Nguyen Huy Tuong (1912 - 1960) in Vietnam zwei Bücher, welche die Landreform zum ersten Mal ohne jede relativierende Beschönigung als das präsentierten, was sie war: eine der folgenreichsten Umwälzungen und Tragödien, welche die ländliche Gesellschaft Nordvietnams seit der Machtübernahme durch die KP erlebt hat.
Die Veröffentlichung des Romans "Drei andere" des bekannten Schriftstellers To Hoai war eines der größten Ereignisse in der vietnamesischen Literaturszene. Das Institut für Literatur in Hanoi veranstaltete sogar einen Workshop zum Erscheinen des Buches. Zahlreiche Artikel feierten den Roman von To Hoai, der in den 1950er Jahren die Kampagne als junger Kader in einem Landreformteam miterlebt hatte, als erste realistische literarische Auseinandersetzung mit einer sensiblen und bis dahin weitgehend tabuisierten Thematik. Ein vietnamesischer Literaturkritiker formulierte: "Ein halbes Jahrhundert nach der Landreform beginnt sich die Geschichte in der Literatur zu manifestieren."
Ähnlich wie To Hoai berichtet auch Nguyen Huy Tuong im dritten Band seiner Tagebücher über die Exzesse bei der Landreform. Insbesondere die Schilderung von Einzelschicksalen, etwa von verdienten Parteigenossen, die in den Strudel der Landreform gerieten und plötzlich - als Großgrundbesitzer und "Landesverräter" eingestuft - vor dem Erschießungskommando endeten,
Der Roman "Drei andere" von To Hoai und die Tagebücher von Nguyen Huy Tuong sind wichtige Bestandteile der sich in den vergangenen Jahren entwickelnden Erinnerungslandschaft in Vietnam. Anders als die meisten anderen Memoiren und literarischen Werke sind sie keine Produkte der von der kommunistischen Partei kontrollierten "Erinnerungsmaschine", sondern stellen "Gegenerinnerungen" zum orthodoxen Geschichtsbild dar.
Die "zehn verlorenen Jahre" (1975 - 1986)
Der Einmarsch nordvietnamesischer Truppen in Saigon am 30. April 1975 markierte das Ende einer der längsten militärischen Auseinandersetzungen des 20. Jahrhunderts. Für Nordvietnam und die Nationale Befreiungsfront Südvietnams (NLF) bedeutete der Tag den Triumph über einen scheinbar übermächtigen Gegner, die Supermacht USA. Die Republik Vietnam, die von den USA zu einem Bollwerk gegen die "kommunistische Bedrohung aus dem Norden" aufgebaut worden war, hatte der Übermacht der nordvietnamesischen Truppen und der NLF nicht standhalten können. Die Führung in Hanoi und große Teile der Bevölkerung waren voller Hoffnung, dass das Land nun, da endlich Frieden herrschte, schnell wiederaufgebaut werden würde und die Zeit der Entbehrungen überwunden sei.
Entgegen diesen Hoffnungen führte die Nachkriegsepoche Vietnam in eine eklatante Wirtschaftskrise und in die außenpolitische Isolierung.
Die "zehn verlorenen Jahre" (1975 - 1986) gehören der Vergangenheit an und scheinen angesichts des heutigen Wirtschaftsbooms in Vietnam eine weit entrückte Epoche zu sein - eine echte Aufarbeitung und kritische Auseinandersetzung mit den Fehlern, die für die katastrophale Entwicklung nach Kriegsende mitverantwortlich waren, beginnt jedoch erst jetzt. Zum 30. Jahrestag des Kriegsendes 2005 entbrannte in Vietnam und in vietnamesischen Internetforen eine "Erinnerungsdebatte" über die Politik in den Nachkriegsjahren, insbesondere über die Haltung der Sieger gegenüber der südvietnamesischen Bevölkerung. Die Diskussion wurde im selben Jahr durch mehrere Interviews und Beiträge des früheren Ministerpräsidenten Vo Van Kiet befördert.
Nach Vo Van Kiet hätten 1975 gute Voraussetzungen für einen schnellen Wiederaufbau des Landes bestanden: Das ganze vietnamesische Volk sei zum damaligen Zeitpunkt bereit gewesen, einen Beitrag dafür zu leisten; die Geschäftsleute und Intellektuellen in Südvietnam hätten mit ihren Erfahrungen ein großes Potential dargestellt; fast alle Offiziere, Soldaten und Beamte der früheren südvietnamesischen Regierung hätten damals den Wunsch gehabt, ein friedliches Leben zu führen. Nach dem Sieg sei die Führung in Hanoi aber "siegestrunken" und "selbstzufrieden" gewesen. Wenn man sofort nach Kriegsende mit einer Wirtschaftspolitik begonnen hätte, wie sie Vietnam seit Ende der 1980er Jahre verfolgt, so Vo Van Kiet, dann hätte man nicht einen so hohen Preis wie in den "verlorenen Jahren" von 1975 bis 1986 zahlen müssen.
Nach 1975 habe Vietnam außerdem den Fehler begangen, einer engstirnigen, von Vorurteilen bestimmten Politik zu folgen, die eine Versöhnung des gesamten Volkes verhindert habe. Statt das Leid vieler Familien in Südvietnam zu lindern, deren Angehörige vor 1975 gezwungenermaßen für die südvietnamesische Armee gekämpft hätten, seien diese nach Kriegsende diskriminiert worden. Diese Politik stehe, so Vo Van Kiet, im Widerspruch zu den vietnamesischen Traditionen und habe zu großen Spannungen in der Gesellschaft geführt. Mit den früheren Feinden wie den USA habe Vietnam die dunklen Kapitel der Vergangenheit abgeschlossen und sei zur Aufnahme freundschaftlicher Beziehungen bereit, mit vielen der eigenen Landsleute stehe die Wiederversöhnung aber noch aus.
Vo Van Kiets Äußerungen 30 Jahre nach Kriegsende sind ein Aufruf zur Versöhnung an alle Vietnamesen und eine in ihrer Direktheit beispiellose Abrechnung mit der falschen Politik der KP Vietnams in der Zeitspanne von 1975 bis zum Beginn der Reformpolitik. Sie sind deshalb von großer Bedeutung, weil sie die Unterscheidung in "gute" (die für Nordvietnam bzw. die NLF kämpften) und "schlechte" Vietnamesen (die auf der Seite der Verlierer, der südvietnamesischen "Marionettenregierung", standen) in Frage stellen, die vom nordvietnamesischen Propagandaapparat während des Krieges geprägt wurde und bis heute in den Medien und in Schulbüchern aufrechterhalten wird. Die Reaktionen auf die Äußerungen Vo Van Kiets waren überwiegend positiv. Neben wenigen kritischen Stimmen lautete der Tenor: Endlich habe jemand ausgesprochen, was schon lange viele "im Herzen getragen" hätten.
Die kritischen Anmerkungen Vo Van Kiets sind Teil einer breiteren "Erinnerungsdebatte" über den Vietnamkrieg und die Nachkriegszeit. Exemplarisch hierfür ist ein Artikel des Schriftstellers Nguyen Ngoc, des früheren Chefredakteurs der Kulturzeitschrift Van Nghe, der sich ebenfalls von der früher üblichen dichotomischen Einteilung der Vietnamesen in "gut" und "böse", in "patriotisch" und "unpatriotisch" abwendet und die Politik der Führung in Hanoi nach 1975 gegenüber Südvietnam kritisiert.
Der große Erfolg der Ausstellung "Hanoi in Zeiten der Subventionswirtschaft" im Ethnologischen Museum in Hanoi im Jahr 2006 fügte sich in die Erinnerungsdebatte über die Nachkriegsepoche ein. Die Ausstellung war vor allem dem Ideenreichtum und dem Geschick der vietnamesischen Bevölkerung gewidmet, mit dem diese die entbehrungsreiche Zeit vom Kriegsende bis zum Beginn der Reformpolitik überstanden hatte. Die Frage, wer für die wirtschaftlichen Probleme verantwortlich war, stand dabei nicht im Vordergrund, doch das Fazit der Ausstellung, "'Subventionswirtschaft' - das ist eine dramatische Zeit und eine Lektion über die Gesetze der sozialen Entwicklung, für die ein hoher Preis bezahlt werden musste", war Anklage genug.
Dessen ungeachtet wird Le Duan, der langjährige Parteichef der KP, der mit seiner orthodoxen Politik einen Großteil der Verantwortung für die negative Entwicklung ab 1975 trug, in der neuesten Hochglanzbiographie nach wie vor als weitsichtiger Führer und sogar als Vorreiter der Reformpolitik ab 1986 gefeiert.
Grenzen der Erinnerung
Die Erinnerungskultur in Vietnam hat sich in den vergangenen Jahren verändert, doch ist der Befund ambivalent. So hat zwar das bislang tabuisierte Thema der Landreform über literarische Verarbeitungen und Tagebücher den Weg in die Öffentlichkeit gefunden, aber eine entsprechende Änderung der gereinigten Version dieses Ereignisses in den Geschichtsbüchern ist bislang nur in Ansätzen erkennbar. Dies gilt auch für die Aufarbeitung der "verlorenen zehn Nachkriegsjahre" und die Politik gegenüber der südvietnamesischen Bevölkerung nach Kriegsende. Bis jetzt beschränkt sich die praktische Umsetzung der "Wiederversöhnungspolitik" der vietnamesischen Führung vor allem auf die Visabefreiung von Auslandsvietnamesen. Ein weiterer Schritt seitens der vietnamesischen Behörden wäre es etwa, den Angehörigen zu erlauben, die Gräber der südvietnamesischen Soldaten zu pflegen und die in Vietnam üblichen Trauerrituale durchzuführen.
Die neue Offenheit in der Aufarbeitung stößt auch an Grenzen, wenn es um sensible Themen wie die "Anti-Partei-Affäre" geht. Dabei waren 1967 Hunderte von Intellektuellen und Kadern ohne Gerichtsverfahren in mehreren Wellen verhaftet und bis Kriegsende in entlegenen Lagern interniert worden. Die Mehrzahl von ihnen hatte Anfang der 1960er Jahre die militante und "pro-chinesische" Linie der Parteiführung unter Le Duan in der Wiedervereinigungsfrage kritisiert. Die Opfer der Affäre sind bislang nicht rehabilitiert worden, und es ist in nächster Zukunft auch kein offenerer Umgang der Parteiführung mit diesem dunklen Kapitel ihrer Geschichte abzusehen. Der Roman Chuyen ke nam 2000 (Die Geschichte über das Jahr 2000) von Bui Ngoc Tan, die bisher einzige literarische Aufarbeitung der Affäre, wurde kurz nach seinem Erscheinen in Vietnam verboten.
Somit ist die Erinnerungskultur in Vietnam derzeit von zwei gegenläufigen Tendenzen bestimmt. Auf der einen Seite steht das unveränderte Bemühen des Staates und der Partei, die überkommene Version der jüngsten Geschichte als eines heroischen Kampfes unter Führung der Kommunistischen Partei aufrechtzuerhalten. Dies schließt den Monopolanspruch der Partei auf die "Lorbeeren" des Sieges über die französische Kolonialmacht und die USA ein und die Anerkennung der Verdienste anderer Parteien aus.
Auf der anderen Seite gibt es in der Öffentlichkeit Bestrebungen, die Geschichte der Deutungshoheit parteikonformer Historiker zu entziehen. Dies hat der kürzlich verstorbene Dichter Le Dat treffend formuliert, der nach der Beteiligung am Aufbegehren von kritischen Intellektuellen 1956 mit 30 Jahren Berufsverbot belegt worden war: "Niemand kann sich der Geschichte bemächtigen, weil die Geschichte länger lebt als ein Mensch (und) länger als ein System."