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Vietnam Editorial Doi Moi: Erneuerung auf Vietnamesisch - Essay Vietnam heute: Begrenzte Reformen, ausufernde Probleme Ho Chi Minh - Bilder einer Ikone Erinnerungsdebatten in Vietnam Die USA und Vietnam Geschichtsbilder in Kambodscha

Erinnerungsdebatten in Vietnam

Martin Großheim

/ 17 Minuten zu lesen

Die Reformpolitik in Vietnam hat Freiräume geschaffen. Die Führung in Hanoi versucht, den Erinnerungsdebatten Grenzen zu setzen, um die Deutungshoheit über die Geschichte zu behalten.

Einleitung

Am 30. April 2005 feierte die vietnamesische Führung in Ho-Chi-Minh-Stadt, dem früheren Saigon, den 30. Jahrestag des Kriegsendes. Neben dem bei solchen Gedenktagen üblichem Militäraufmarsch sahen die Zuschauer auch eine Parade von vietnamesischen Hausfrauen, die mit Waren bepackte Einkaufswagen vor sich herschoben. Auf Spruchbändern wurde die Bevölkerung aufgefordert: "Enthusiastisch den 30. Jahrestag der kompletten Befreiung des Südens und der Wiedervereinigung des Landes feiern".



Die innovative Choreographie der Gedenkfeier spiegelt die Veränderungen wider, die sich in Vietnam seit Beginn der Reformpolitik Ende der 1980er Jahre vollzogen haben. Die Kommunistische Partei Vietnams, die das Land nach wie vor allein regiert, legitimiert sich mehr und mehr mit den wirtschaftlichen Erfolgen und dem Wohlstand, den die Reformen dem Gros der Bevölkerung in den vergangenen Jahren beschert haben. Die Partei verweist auch deshalb verstärkt auf ihre erfolgreiche Wirtschaftspolitik, weil der Großteil der Bevölkerung nach Ende des Krieges geboren wurde und damit sowohl den Sieg über die französische Kolonialmacht als auch den über die Supermacht USA nur aus den Schulbüchern oder aus Erzählungen ihrer Eltern und Großeltern kennt.

Dennoch ist die Geschichte weiterhin eine zentrale Legitimationsquelle für die KP Vietnams. Sie bemüht sich, ein heroisierendes und teleologisches Geschichtsbild aufrechtzuerhalten, das die "glorreiche revolutionäre Vergangenheit" und den erfolgreichen Kampf des vietnamesischen Volkes unter Führung der KP gegen die französische Kolonialmacht und die USA beschwört. Diese von der Partei und von orthodoxen Historikern propagierte Geschichtsversion blendet jedoch Brüche und Diskontinuitäten in der vietnamesischen Geschichte, vor allem der Geschichte der KP, aus. Trotz aller Anstrengungen, dieses Geschichtsbild festzuschreiben - die "Verunglimpfung" historischer Persönlichkeiten wie Ho Chi Minh und "revolutionärer Errungenschaften" der Partei kann sogar Strafverfolgung nach sich ziehen -, lässt sich im heutigen Vietnam vermehrt die Tendenz beobachten, die von der Partei sanktionierte Version der Geschichte in Frage zu stellen und Themen in den Vordergrund zu rücken, die bislang tabuisiert waren. Ein Vorreiter dieser Entwicklung ist Xua va Nay (Gestern und heute), die Zeitschrift des Verbandes vietnamesischer Historiker.

Diese Veränderungen in der vietnamesischen "Erinnerungslandschaft" werden durch die größeren intellektuellen Freiräume ermöglicht, welche die Bevölkerung seit der Öffnung des Landes Ende der 1980er Jahre und der Lockerung der Kulturpolitik genießt. Im Folgenden werden exemplarisch "Erinnerungsdebatten" zu zwei sensiblen Themen vorgestellt: zur Landreform in den 1950er Jahren sowie zur Politik Hanois gegenüber Südvietnam nach dem Kriegsende 1975.

Die Landreform (1953 - 1956)

Am 2. September 1945 erklärte Ho Chi Minh in Hanoi die Unabhängigkeit Vietnams und rief die Demokratische Republik Vietnam (DRV) aus. Der Versuch der Franzosen, ihre Kolonialherrschaft wiederaufzubauen, führte 1946 zum Beginn des ersten Vietnamkrieges. Der "schmutzige Krieg in Indochina" endete nach acht Jahren im Mai 1954 mit dem Sieg der Viet Minh in der Schlacht von Dien Bien Phu. Auf der Genfer Indochina-Konferenz wurde 1954 die provisorische Zweiteilung am 17. Breitengrad mit der DRV unter Präsident Ho Chi Minh im Norden und der Republik Vietnam unter Ngo Dinh Diem im Süden beschlossen. Das Genfer Friedensabkommen sah für Mitte 1956 landesweite Wahlen vor, die in die Wiedervereinigung des Landes münden sollten.

Während des Krieges gegen die Franzosen hatte die Viet-Minh-Einheitsfront, die 1941 von Ho Chi Minh gegründet worden war, zunächst eine moderate Politik betrieben und an den Patriotismus aller Vietnamesen unabhängig von ihrer Klassenzugehörigkeit appelliert. Dies änderte sich ab Anfang der 1950er Jahre, als der antikoloniale Kampf in Vietnam immer mehr in den Kalten Krieg hineingezogen wurde und die Viet Minh nach der Gründung der Volksrepublik China unter den ideologischen Einfluss des Maoismus gerieten. Nun stand "Klassenkampf" auf dem Programm der KP Vietnams.

Von Ende 1953 bis zum Herbst 1956 wurde in Nordvietnam eine Landreform durchgeführt. Ziel war es nicht nur, die soziale Stellung von landlosen und armen Bauern durch die Vergabe von Land zu verbessern, sondern auch die überkommene dörfliche Hierarchie zu unterminieren und dadurch die Partei fest auf dem Lande zu verankern. Im Zuge der Landreform kam es zunehmend zu Exzessen in den Dörfern. Betroffen waren vor allem Provinzen, die noch bis nach dem Kriegsende 1954 unter der Kontrolle der Franzosen gestanden hatten und in denen fanatisierte Landreformkader überall "Spione" und "Konterrevolutionäre" vermuteten. Die bestehenden Parteiorganisationen auf Dorfebene wurden aufgelöst, viele verdiente Parteikader und andere Dorfbewohner vor Volksgerichte gestellt und in "Kampfsitzungen", bei denen sie mit vielfach fingierten Anklagen anderer Dorfbewohner konfrontiert wurden, zum Tode verurteilt. Häufig versuchten die externen Landreformkader mit allen Mitteln eine vorgegebene Quote von "Großgrundbesitzern" pro Dorf zu ermitteln.

Mitte 1956 waren die Zustände in vielen Dörfern so chaotisch geworden, dass die Partei die Landreform stoppen und der damalige Parteichef Truong Chinh von seinem Amt zurücktreten musste. Ab Ende 1956 führte die Partei eine "Korrekturkampagne" durch, um die Fehler, die bei der Landreform begangen worden waren, rückgängig zu machen. In vielen Fällen war dies jedoch nicht mehr möglich. Wie viele Personen bei der Landreform in Nordvietnam tatsächlich ums Leben kamen, ist nach wie vor ungeklärt. Schätzungen zufolge sind es zwischen 3000 und 15 000 Dorfbewohnern. Dazu kommt eine unbekannte Zahl von Personen, die in der aufgeheizten Stimmung der Landreformkampagne Selbstmord begingen.

Ende der 1950er Jahre leitete die Partei mit der Kollektivierung der Landwirtschaft den nächsten Schritt zum Aufbau des Sozialismus ein. Die fehlerhafte Durchführung der Landreform wurde in der Folge in offiziellen Parteigeschichten als Abweichung von einer grundsätzlich notwendigen und erfolgreichen Politik zur Abschaffung "feudaler Besitzverhältnisse" auf dem Lande dargestellt: Zwar sei es bei der Kampagne zu Fehlern gekommen, doch habe die Parteiführung diese früh erkannt und rechtzeitig Korrekturen eingeleitet. Das Thema "Landreform" wurde zum Tabu erklärt. Als sich der Schriftsteller Vu Bao 1957 in seinem Roman Sap cuoi (Baldige Heirat) als einer der ersten mit dem Thema auseinander setzte, war dieser Tabubruch für ihn mit schwerwiegenden persönlichen Konsequenzen verbunden. Unter dem Vorwurf, mit seiner kritischen Darstellung der Landreform die Partei "verunglimpft" zu haben, wurde er zur "Umerziehung durch Arbeit" aufs Land geschickt und durfte erst nach elf Jahren nach Hanoi zurückkehren.

Die "gereinigte" und "geglättete" Geschichtsversion wird bis heute in den Geschichtswerken in Vietnam verbreitet. In neueren Parteigeschichten wird zwar der Analyse der Fehler größerer Raum beigemessen, doch ist die Diskussion der Frage, wie viele Opfer die Kampagne gefordert hat, und die Schilderung individueller Schicksale und persönlicher Tragödien, die bis heute in den Dörfern Nordvietnams nachwirken, nach wie vor tabu.

Erst 2005 und 2006, also mehr als fünfzig Jahre nach den Ereignissen, erschienen mit dem Roman Ba nguoi khac (Drei andere) von To Hoai und dem Tagebuch des Schriftstellers Nguyen Huy Tuong (1912 - 1960) in Vietnam zwei Bücher, welche die Landreform zum ersten Mal ohne jede relativierende Beschönigung als das präsentierten, was sie war: eine der folgenreichsten Umwälzungen und Tragödien, welche die ländliche Gesellschaft Nordvietnams seit der Machtübernahme durch die KP erlebt hat.

Die Veröffentlichung des Romans "Drei andere" des bekannten Schriftstellers To Hoai war eines der größten Ereignisse in der vietnamesischen Literaturszene. Das Institut für Literatur in Hanoi veranstaltete sogar einen Workshop zum Erscheinen des Buches. Zahlreiche Artikel feierten den Roman von To Hoai, der in den 1950er Jahren die Kampagne als junger Kader in einem Landreformteam miterlebt hatte, als erste realistische literarische Auseinandersetzung mit einer sensiblen und bis dahin weitgehend tabuisierten Thematik. Ein vietnamesischer Literaturkritiker formulierte: "Ein halbes Jahrhundert nach der Landreform beginnt sich die Geschichte in der Literatur zu manifestieren."

Ähnlich wie To Hoai berichtet auch Nguyen Huy Tuong im dritten Band seiner Tagebücher über die Exzesse bei der Landreform. Insbesondere die Schilderung von Einzelschicksalen, etwa von verdienten Parteigenossen, die in den Strudel der Landreform gerieten und plötzlich - als Großgrundbesitzer und "Landesverräter" eingestuft - vor dem Erschießungskommando endeten, oder von Frauen und Kindern, die gezwungen wurden, vor dem Volkstribunal ihren eigenen Mann bzw. Vater anzuklagen, machen seine Tagebücher zu einem wichtigen Zeitdokument. Die Brisanz dieser Veröffentlichung sprach sich in Hanoi in Windeseile herum: in den Buchhandlungen der Hauptstadt war die erste Auflage der Tagebücher innerhalb weniger Tage ausverkauft.

Der Roman "Drei andere" von To Hoai und die Tagebücher von Nguyen Huy Tuong sind wichtige Bestandteile der sich in den vergangenen Jahren entwickelnden Erinnerungslandschaft in Vietnam. Anders als die meisten anderen Memoiren und literarischen Werke sind sie keine Produkte der von der kommunistischen Partei kontrollierten "Erinnerungsmaschine", sondern stellen "Gegenerinnerungen" zum orthodoxen Geschichtsbild dar.

Die "zehn verlorenen Jahre" (1975 - 1986)

Der Einmarsch nordvietnamesischer Truppen in Saigon am 30. April 1975 markierte das Ende einer der längsten militärischen Auseinandersetzungen des 20. Jahrhunderts. Für Nordvietnam und die Nationale Befreiungsfront Südvietnams (NLF) bedeutete der Tag den Triumph über einen scheinbar übermächtigen Gegner, die Supermacht USA. Die Republik Vietnam, die von den USA zu einem Bollwerk gegen die "kommunistische Bedrohung aus dem Norden" aufgebaut worden war, hatte der Übermacht der nordvietnamesischen Truppen und der NLF nicht standhalten können. Die Führung in Hanoi und große Teile der Bevölkerung waren voller Hoffnung, dass das Land nun, da endlich Frieden herrschte, schnell wiederaufgebaut werden würde und die Zeit der Entbehrungen überwunden sei.

Entgegen diesen Hoffnungen führte die Nachkriegsepoche Vietnam in eine eklatante Wirtschaftskrise und in die außenpolitische Isolierung. Die Zeitspanne von 1975 bis Mitte der 1980er Jahre war der Höhepunkt des Subventionssystems, in dem die vietnamesische Bevölkerung nur mit viel Improvisationstalent und Ausdauer überleben konnte. Redensarten wie "Ein Gesicht machen, als ob man seine Reismarken verloren hat" zeugen von den wirtschaftlichen Nöten der damaligen Zeit. Erst mit der Einleitung der Reformpolitik 1986 verbesserte sich die wirtschaftliche Situation, außerdem kehrte Vietnam nach einem Jahrzehnt der Isolierung "nach Südostasien zurück". Für die Probleme nach 1975 waren externe (das US-Handelsembargo), aber auch interne Faktoren verantwortlich: Vor allem die Entscheidung der Führung in Hanoi, auch in Südvietnam den Sozialismus aufzubauen (Verstaatlichung des Handels und Kollektivierung der Landwirtschaft ab 1978), hatte fatale Folgen für die wirtschaftliche Entwicklung. Außerdem führte diese Wirtschaftspolitik sowie das harte Vorgehen gegenüber der südvietnamesischen Bevölkerung (vor allem Mitarbeiter der früheren südvietnamesischen Regierung und Angehörige der Armee wurden in Umerziehungslager gesteckt) dazu, dass sich viele Südvietnamesen von den Siegern entfremdeten und ihr Heil in der Flucht über das Südchinesische Meer suchten. Zehntausende ertranken oder wurden Opfer von Piraten.

Die "zehn verlorenen Jahre" (1975 - 1986) gehören der Vergangenheit an und scheinen angesichts des heutigen Wirtschaftsbooms in Vietnam eine weit entrückte Epoche zu sein - eine echte Aufarbeitung und kritische Auseinandersetzung mit den Fehlern, die für die katastrophale Entwicklung nach Kriegsende mitverantwortlich waren, beginnt jedoch erst jetzt. Zum 30. Jahrestag des Kriegsendes 2005 entbrannte in Vietnam und in vietnamesischen Internetforen eine "Erinnerungsdebatte" über die Politik in den Nachkriegsjahren, insbesondere über die Haltung der Sieger gegenüber der südvietnamesischen Bevölkerung. Die Diskussion wurde im selben Jahr durch mehrere Interviews und Beiträge des früheren Ministerpräsidenten Vo Van Kiet befördert. Darin hatte er betont, dass der Sieg von 1975 zwar großartig gewesen sei, aber auch große Opfer gefordert und hohe Verluste gekostet habe. In vielen vietnamesischen Familien habe es Angehörige gegeben, die auf unterschiedlichen Seiten gekämpft hätten. Das Kriegsende sei für Millionen von Vietnamesen mit Freude, für viele andere aber mit Trauer und Schmerz verbunden gewesen.

Nach Vo Van Kiet hätten 1975 gute Voraussetzungen für einen schnellen Wiederaufbau des Landes bestanden: Das ganze vietnamesische Volk sei zum damaligen Zeitpunkt bereit gewesen, einen Beitrag dafür zu leisten; die Geschäftsleute und Intellektuellen in Südvietnam hätten mit ihren Erfahrungen ein großes Potential dargestellt; fast alle Offiziere, Soldaten und Beamte der früheren südvietnamesischen Regierung hätten damals den Wunsch gehabt, ein friedliches Leben zu führen. Nach dem Sieg sei die Führung in Hanoi aber "siegestrunken" und "selbstzufrieden" gewesen. Wenn man sofort nach Kriegsende mit einer Wirtschaftspolitik begonnen hätte, wie sie Vietnam seit Ende der 1980er Jahre verfolgt, so Vo Van Kiet, dann hätte man nicht einen so hohen Preis wie in den "verlorenen Jahren" von 1975 bis 1986 zahlen müssen.

Nach 1975 habe Vietnam außerdem den Fehler begangen, einer engstirnigen, von Vorurteilen bestimmten Politik zu folgen, die eine Versöhnung des gesamten Volkes verhindert habe. Statt das Leid vieler Familien in Südvietnam zu lindern, deren Angehörige vor 1975 gezwungenermaßen für die südvietnamesische Armee gekämpft hätten, seien diese nach Kriegsende diskriminiert worden. Diese Politik stehe, so Vo Van Kiet, im Widerspruch zu den vietnamesischen Traditionen und habe zu großen Spannungen in der Gesellschaft geführt. Mit den früheren Feinden wie den USA habe Vietnam die dunklen Kapitel der Vergangenheit abgeschlossen und sei zur Aufnahme freundschaftlicher Beziehungen bereit, mit vielen der eigenen Landsleute stehe die Wiederversöhnung aber noch aus. Außerdem würdigte Vo Van Kiet den Beitrag der "dritten Kraft" in Südvietnam, Buddhisten, Studenten, Bürgerliche und andere Kräfte, die vor 1975 gegen die Saigoner Regierung gekämpft, aber sich nicht der Befreiungsfront angeschlossen hatten. Ihre Verdienste seien nach 1975 nicht angemessen gewürdigt worden, obwohl auch sie aus Vaterlandsliebe gehandelt hätten, wenn auch aus anderen politischen Überzeugungen.

Vo Van Kiets Äußerungen 30 Jahre nach Kriegsende sind ein Aufruf zur Versöhnung an alle Vietnamesen und eine in ihrer Direktheit beispiellose Abrechnung mit der falschen Politik der KP Vietnams in der Zeitspanne von 1975 bis zum Beginn der Reformpolitik. Sie sind deshalb von großer Bedeutung, weil sie die Unterscheidung in "gute" (die für Nordvietnam bzw. die NLF kämpften) und "schlechte" Vietnamesen (die auf der Seite der Verlierer, der südvietnamesischen "Marionettenregierung", standen) in Frage stellen, die vom nordvietnamesischen Propagandaapparat während des Krieges geprägt wurde und bis heute in den Medien und in Schulbüchern aufrechterhalten wird. Die Reaktionen auf die Äußerungen Vo Van Kiets waren überwiegend positiv. Neben wenigen kritischen Stimmen lautete der Tenor: Endlich habe jemand ausgesprochen, was schon lange viele "im Herzen getragen" hätten.

Die kritischen Anmerkungen Vo Van Kiets sind Teil einer breiteren "Erinnerungsdebatte" über den Vietnamkrieg und die Nachkriegszeit. Exemplarisch hierfür ist ein Artikel des Schriftstellers Nguyen Ngoc, des früheren Chefredakteurs der Kulturzeitschrift Van Nghe, der sich ebenfalls von der früher üblichen dichotomischen Einteilung der Vietnamesen in "gut" und "böse", in "patriotisch" und "unpatriotisch" abwendet und die Politik der Führung in Hanoi nach 1975 gegenüber Südvietnam kritisiert. Ein weiteres Beispiel ist die Diskussion zwischen dem exilvietnamesischen Professor Le Xuan Khoa und dem Journalisten der Parteizeitung Nhan Dan, Nguyen Hoa, über die Neubewertung des Vietnamkriegs, die sich schließlich auf der Internetplattform Talawas zu einer großen Debatte zwischen "Inlands-" und Auslandsvietnamesen entwickelte. Bei allen Meinungsverschiedenheiten traf hier die Behauptung der Vietnamexpertin Sophie Quinn-Judge zu: "Cyberspace seems to be the one place where Vietnamese have successfully achieved reconciliation - thirty years after the collapse of South Vietnam." Bezeichnend für das insgesamt offenere Klima ist auch, dass seit Neuestem in Fernsehsendungen zum Vietnamkrieg von der "Regierung" und der "Armee der früheren Republik Südvietnam" die Rede ist und nicht mehr die vorher üblichen, herabsetzenden Begriffe "Marionettenregierung" und "Marionettenarmee" verwendet werden. Außerdem erlebt die südvietnamesische Literatur der Epoche vor 1975 in Vietnam eine kleine Renaissance, nachdem sie zuvor von der Literaturkritik in Hanoi entweder als "dekadent" abqualifiziert oder völlig ignoriert wurde.

Der große Erfolg der Ausstellung "Hanoi in Zeiten der Subventionswirtschaft" im Ethnologischen Museum in Hanoi im Jahr 2006 fügte sich in die Erinnerungsdebatte über die Nachkriegsepoche ein. Die Ausstellung war vor allem dem Ideenreichtum und dem Geschick der vietnamesischen Bevölkerung gewidmet, mit dem diese die entbehrungsreiche Zeit vom Kriegsende bis zum Beginn der Reformpolitik überstanden hatte. Die Frage, wer für die wirtschaftlichen Probleme verantwortlich war, stand dabei nicht im Vordergrund, doch das Fazit der Ausstellung, "'Subventionswirtschaft' - das ist eine dramatische Zeit und eine Lektion über die Gesetze der sozialen Entwicklung, für die ein hoher Preis bezahlt werden musste", war Anklage genug.

Dessen ungeachtet wird Le Duan, der langjährige Parteichef der KP, der mit seiner orthodoxen Politik einen Großteil der Verantwortung für die negative Entwicklung ab 1975 trug, in der neuesten Hochglanzbiographie nach wie vor als weitsichtiger Führer und sogar als Vorreiter der Reformpolitik ab 1986 gefeiert.

Grenzen der Erinnerung

Die Erinnerungskultur in Vietnam hat sich in den vergangenen Jahren verändert, doch ist der Befund ambivalent. So hat zwar das bislang tabuisierte Thema der Landreform über literarische Verarbeitungen und Tagebücher den Weg in die Öffentlichkeit gefunden, aber eine entsprechende Änderung der gereinigten Version dieses Ereignisses in den Geschichtsbüchern ist bislang nur in Ansätzen erkennbar. Dies gilt auch für die Aufarbeitung der "verlorenen zehn Nachkriegsjahre" und die Politik gegenüber der südvietnamesischen Bevölkerung nach Kriegsende. Bis jetzt beschränkt sich die praktische Umsetzung der "Wiederversöhnungspolitik" der vietnamesischen Führung vor allem auf die Visabefreiung von Auslandsvietnamesen. Ein weiterer Schritt seitens der vietnamesischen Behörden wäre es etwa, den Angehörigen zu erlauben, die Gräber der südvietnamesischen Soldaten zu pflegen und die in Vietnam üblichen Trauerrituale durchzuführen. Bis heute gibt es jedoch zwei Klassen von Gefallenen: diejenigen, die für die "richtige" Seite gekämpft haben und auf Heldenfriedhöfen bestattet sind, und diejenigen, die für das untergegangene Südvietnam ihr Leben gelassen haben und auf Friedhöfen liegen, die nach 1975 verkamen und heute von Unkraut überwuchert sind.

Die neue Offenheit in der Aufarbeitung stößt auch an Grenzen, wenn es um sensible Themen wie die "Anti-Partei-Affäre" geht. Dabei waren 1967 Hunderte von Intellektuellen und Kadern ohne Gerichtsverfahren in mehreren Wellen verhaftet und bis Kriegsende in entlegenen Lagern interniert worden. Die Mehrzahl von ihnen hatte Anfang der 1960er Jahre die militante und "pro-chinesische" Linie der Parteiführung unter Le Duan in der Wiedervereinigungsfrage kritisiert. Die Opfer der Affäre sind bislang nicht rehabilitiert worden, und es ist in nächster Zukunft auch kein offenerer Umgang der Parteiführung mit diesem dunklen Kapitel ihrer Geschichte abzusehen. Der Roman Chuyen ke nam 2000 (Die Geschichte über das Jahr 2000) von Bui Ngoc Tan, die bisher einzige literarische Aufarbeitung der Affäre, wurde kurz nach seinem Erscheinen in Vietnam verboten. Dieses Verbot steht im Einklang mit Versuchen des Kulturministeriums, die Veröffentlichung von Memoiren überhaupt zu kontrollieren und einzuschränken.

Somit ist die Erinnerungskultur in Vietnam derzeit von zwei gegenläufigen Tendenzen bestimmt. Auf der einen Seite steht das unveränderte Bemühen des Staates und der Partei, die überkommene Version der jüngsten Geschichte als eines heroischen Kampfes unter Führung der Kommunistischen Partei aufrechtzuerhalten. Dies schließt den Monopolanspruch der Partei auf die "Lorbeeren" des Sieges über die französische Kolonialmacht und die USA ein und die Anerkennung der Verdienste anderer Parteien aus.

Auf der anderen Seite gibt es in der Öffentlichkeit Bestrebungen, die Geschichte der Deutungshoheit parteikonformer Historiker zu entziehen. Dies hat der kürzlich verstorbene Dichter Le Dat treffend formuliert, der nach der Beteiligung am Aufbegehren von kritischen Intellektuellen 1956 mit 30 Jahren Berufsverbot belegt worden war: "Niemand kann sich der Geschichte bemächtigen, weil die Geschichte länger lebt als ein Mensch (und) länger als ein System." Entscheidend ist aber, dass die Klagen über die Verbreitung von orthodoxen Geschichtsbildern und die Tabuisierung von bestimmten Themen nunmehr in den vietnamesischen Medien und nicht mehr (nur) im Ausland geführt werden.

Fussnoten

Fußnoten

  1. In diesem Text wird bei den vietnamesischen Begriffen und Eigennamen auf die Wiedergabe der diakritischen Zeichen verzichtet.

  2. Vgl. Pierre Brocheux, Die Geschichtsschreibung Vietnams, in: www.arte.tv/de/suche/1063658.html (20.4. 2008).

  3. Vgl. David Marr, History and Memory in Vietnam Today: The Journal Xua & Nay, in: Journal of Southeast Asian Studies, 31 (2000) 1, S. 1 - 25.

  4. Vgl. Hue-Tam Ho Tai (Hrsg.), The Country of Memory. Remaking the Past in Late Socialist Vietnam, Berkeley 2001.

  5. Vgl. Marc Frey, Die Geschichte des Vietnamkriegs, Die Tragödie in Asien und das Ende des amerikanischen Traumes, München 2006(8).

  6. Zur Landreform vgl. u.a. John Kleinen, Facing the Future, Reviving the Past. A Study of Social Change in a Northern Vietnamese Village, Singapore 1999; Edwin E. Moise, Land Reform in China and North Vietnam. Consolidating the Revolution at the Village Level, Chapel Hill-London 1983; Pham Quang Minh, Zwischen Theorie und Praxis. Agrarpolitik in Vietnam seit 1945, Berlin 2003.

  7. Seltene fotographische Zeugnisse solcher Volkstribunale finden sich in Franz Faber, Rot leuchtet der Song Cai, Berlin (Ost) 1955.

  8. Vgl. E. Moise (Anm. 6), S. 222.

  9. Vgl. z.B. Tran Phuong (Hrsg.), Cach mang ruong dat o Viet Nam (Die Landrevolution in Vietnam), Hanoi 1968.

  10. Vu Bao, Sap cuoi (Baldige Heirat), Hanoi 1957.

  11. Vgl. Le Bau, Vu Bao va nhung chuyen di doc duong gio bui (Vu Bao und die Reisen entlang windiger und staubiger Straßen), in: www.tienphong.vn/Tianyon/Index.aspx?
    ArticleID=82652&ChannelID=7 (29.4. 2008).

  12. Vgl. z.B. Le Mau Han (Hrsg.), Dai cuong lich su Vietnam, Tap III (Überblick über die vietnamesische Geschichte, Bd. 3), Hanoi 1998(2), S. 139f, und Vien Su hoc, Lich su Vietnam 1954 - 1965 (Institut für Geschichte, Geschichte Vietnams 1954 - 1965), Hanoi 1995, S. 28, S. 36.

  13. Vgl. To Hoai, Ba nguoi khac, Tieu thuyet (Drei andere, Roman), Danang 2005; Nguyen Huy Tuong, Nhat ky, Tap III, Nghe si & cong dan (Tagebücher, Vol. 3, Künstler und Bürger), Hanoi 2006.

  14. Pham Xuan Nguyen, Tuong ao hoa da bay day (Das Theater der Täuschung wird bloßgelegt), in: www.talawas.org/talaDB/suche.php?res = 8856&rb = 0102 (30.4. 2008). Vgl. auch das Interview mit Lai Nguyen An, Co nhung vet thuong khong quen duoc (Es gibt Wunden, die man nicht vergessen kann), in: www.bbc.co.uk/vietnamese/vietnam/story/
    2007/01/070114_lainguyenan_interview.shtml (17.1.2007). Vgl. auch die englischen Übersetzungen einer Reihe von vietnamesischsprachigen Beiträgen zum Roman in: Journal of Vietnamese Studies, 2 (2007) 2, S. 231 - 297.

  15. Vgl. Nguyen Huy Tuong (Anm. 13), S. 113, S. 122, S. 135.

  16. Vgl. ebd., S. 133.

  17. Beobachtung des Verfassers in Hanoi im September 2006.

  18. Vgl. hierzu die Überlegungen von Shawn McHale, Vietnamese Marxism, Dissent, and the Politics of Postcolonial Memory: Tran Duc Thao, 1946 - 1993, in: Journal of Asian Studies, 61 (2002) 1, S. 26f.

  19. Vgl. Gerhard Will, Vietnam 1975 - 1979: Von Krieg zu Krieg, Hamburg 1987.

  20. Vgl. Nghia M. Vo, The Vietnamese Boat People. 1954 and 1975 - 1992, Jefferson, NC 2006.

  21. Vo Van Kiet war von 1991 bis 1997 vietnamesischer Ministerpräsident. Vgl. Nhung doi hoi moi cua thoi cuoc (Die neuen Erfordernisse der aktuellen Situation), in: www.tuoitre.com.vn/Tianyon/Index.aspx? ArticleID=74587&ChannelID=3 (24.4. 2008), und Vo Van Kiet, Dai doan ket dan toc - coi nguon suc manh cua chung ta (Die Solidarität des ganzen Volkes - Ursprung unserer Stärke), in: www.tuoitre.com.vn/Tianyon/Index.aspx?
    ArticleID=95649&ChannelID=3 (26.4. 2006). Eine deutsche Übersetzung des letztgenannten Artikels findet sich in www.fg-vietnam.de/VNK/VoVanKiet.htm (30.4. 2008).

  22. Vgl. Nhung doi hoi moi (ebd.).

  23. Vgl. Dai doan ket dan toc (Anm.21).

  24. Vgl. Nhung doi hoi moi (Anm.21).

  25. Leserkommentar auf www.bbc.co.uk/vietnamese/regionalnews/
    story/2005/08/050831_vovankietarchiv e.shtml; vgl. auch www.bbc.co.uk/vietnamese/vietnam/
    story/2007/04/070427_vo_van_kiet.shtml, (21.5. 2007) und www.tuoitre.com.vn, wo die Beiträge Vo Van Kiets im Netz zu lesen waren.

  26. Vgl. Nguyen Ngoc, Anh S., ban toi (Älterer Bruder S., mein Freund), in: Dien Dan, 160 (2006), S. 15 - 18.

  27. Siehe die Rubrik "Chien tranh nhin tu nhieu phia" (Der Krieg von vielen Seiten aus betrachtet) auf www.talawas.com.

  28. Sophie Quinn-Judge, Who are the Vietnamese in 2005?, in: www.opendemocracy.net/democracy-protest/article_2467.jsp (30.4. 2005).

  29. Vgl. hierzu die Äußerungen des Filmemachers Tran Van Thuy in einer von Vietnam.net veranstalteten Online-Diskussion: Xay dung hinh anh dat nuoc Viet Nam moi (Ein neues Bild von Vietnam entwerfen), in: www.vnn.vn/service/printversion?article_id=620984 (30.4. 2005).

  30. Vgl. Thong Tan Xa Viet Nam. Vietnam News Agency. Tong Bi thu Le Duan, General Secretary Le Duan, Hanoi 2007.

  31. Vgl. Brennon Jones, Tet and remembrance of the dead, in: www.iht.com/articles/2005/02/27/opinion/
    edjones.php (24.4. 2005).

  32. Bui Ngoc Tan war selbst im Zuge der Affäre verhaftet worden. Zur Affäre vgl. Martin Großheim, Dissens in Nordvietnam. Die "Nhan-Van/Giai-Pham- Affäre" (1956 bis 1958) und die "Antipartei-Revisionismus-Affäre" (1963 bis 1967)", in: Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung, Berlin 2007, S. 31 - 57.

  33. Vgl. Lam Dien, Hoat dong viet, xuat ban hoi ky co the bi dieu chinh (Das Schreiben und die Herausgabe von Memoiren wird vielleicht reguliert), in: www.evan.com.vn/News/doi-song-van-nghe/2006/12/3B9AD5DC (24.4. 2008).

  34. Vgl. z.B. den Beitrag in der Armeezeitung: Chi trich ngam ve bai phong van ong Vo Van Kiet? (Versteckte Kritik an dem Interview mit Vo Van Kiet?), in: www.bbc.co.uk/vietnamese/regionalnews/
    story/2005/04/050429_vovankietreaction.shtml (24.4. 2008).

  35. In: www.hopluu.net/tryenhaingoai/thuykhue-ledat.htm (30.4. 2008).

Dr. phil., geb. 1963; wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Humboldt Universität zu Berlin, Institut für Asien- und Afrikawissenschaften, Unter den Linden 6, 10099 Berlin.
E-Mail: E-Mail Link: martin.grossheim@rz.hu-berlin.de