Einleitung
Seit Jahrzehnten sind die Vietnamesen von Ho Chi Minh umgeben - dargestellt auf Papier, in Filmen, von Schauspielern aus Fleisch und Blut, eingraviert in Holz oder Stein oder in Metall gegossen. Ausländische Besucher wundern sich über diese Allgegenwart des "Vaters der Nation". Ist sie das Produkt spontaner Äußerungen, oder entspricht sie der Umsetzung einer politischen Absicht? Ist diese Gewohnheit der Vietnamesen das Ergebnis von Routine, oder erklärt sie sich durch eine tiefe, intime Vertrautheit? Diese Fragen führen uns dazu, Antworten im ikonographischen Lebensweg von "Onkel Ho" zu suchen, während wir die Funktionen, die dieser nacheinander oder auch gleichzeitigbekleidet hat, und ihre Metamorphosen, aber auch die Abweichungen oder einen vermeintlichen Sinneswandel zu berücksichtigen wissen.
Im großen Bilderalbum der vietnamesischen Nationalhelden haben zwei Fotos von Nguyen Ai Quoc
Von 1929 bis 1934 kam es zu Ereignissen, die ihm in die Hände spielten und den Keim für die kommende Legende legten. 1929 wurde Quoc "wegen Mordes und Plünderung unter Anwendung von Waffengewalt" angeklagt und in Abwesenheit von einem imperialen Gericht wegen Mordes verurteilt.
Vater der Nation
Am 2. September 1945 wurde vor den Augen der Einwohner Hanois die Legende Wirklichkeit. Tausende hatten sich versammelt, um von Ho Chi Minh die Botschaft über die Gründung der Demokratischen Republik Vietnam zu vernehmen. Ho hatte sich eine Persönlichkeit verliehen, die das physische und das moralische Portrait in einen autobiographischen Kontext stellte:
Gegenüber seinen Landsleuten präsentierte sich Ho wie ein Vater: "Er hatte das Verhalten eines Vaters zu seinen Kindern. Wenn er die Menge fragte: Versteht Ihr mich? waren sich alle der väterlichen Liebe des Präsidenten Ho für die Masse bewusst."
Am neuralgischen Punkt der Jahre 1945/46 geriet das französische Indochina in einen Sturm, der neun Jahre dauern sollte. Mit dem Auftrag, die besiegte japanische Armee zu entwaffnen, besetzten die nationalchinesischen Truppen den Norden des Landes; die französische Armee hatte im Süden mit der Mission Fuß gefasst, "die französische Souveränität wiederherzustellen". Die Zeit wirkte wie angehalten, und die Vietnamesen, wie jedes andere Volk in einer derartig zugespitzten Krisensituation, erwarteten den Erlöser. Ho erklärte sich zum "Präsidenten aller Vietnamesen" und wandte sich auch an alle nichtkommunistischen Nationalisten, an die Katholiken und an die nichtvietnamesischen Ethnien; er bezeichnet sie auf der Versammlung in Dai Doàn ket als "Große Union".
Fortan operierte der selbsternannte Präsident der Demokratischen Republik Vietnam an vorderster Stelle. Er verhandelt mit den Franzosen, deren Regierung seine Macht legitimiert und ihn nach Paris einlädt, wo er in der ersten Reihe auf der offiziellen Festtribüne beim Vorbeimarsch des 14. Juli 1946 erscheint. Von dieser Reise und den dortigen Treffen sind eine Fülle audiovisueller Dokumente erhalten geblieben, die sein Prestige erhöhten und ihm internationales Ansehen verschafften. Vom 19. Dezember 1946 an, mit der Ausweitung der militärischen Auseinandersetzungen auf die gesamte Halbinsel Indochinas, wird "Onkel Ho" zum Sinnbild des nationalen Widerstandes. Er entgeht einer versuchten Gefangennahme durch Luftlandetruppen, er zeigt sich der Bevölkerung an der Seite der Kampftruppen und ab 1950 mit den Versorgungseinheiten, als sich der Bewegungskrieg im Norden des Landes in einen Guerillakrieg wandelt. Seine Rolle sowie sein Renommee sind weiter im Wachsen begriffen, als er 1951 auf die Tribüne des Obersten Sowjet der Sowjetunion steigt, Seite an Seite mit Stalin und Mao Tse-tung: Er ist nicht nur das Sinnbild des vietnamesischen Widerstandes, er hat das Podium der großen Führer erklommen, die man als "sozialistisches Lager" bezeichnete.
Fünfzehn Jahre später ist das Bild des antiimperialistischen Kämpfers, zehntausendfach reproduziert, zur Marke geworden, und man skandiert von Paris bis Tokio und Berkeley, von Berlin bis Turin seinen Namen: "Ho! Ho! Ho Chi Minh!" Aber der Kontext und der Zweck haben sich grundlegend verändert, als die Jahre begannen, in denen sich die große internationale Kampagne gegen den "Amerikanischen Krieg" entwickelte und, getragen von der romantischen Jugendrevolte der Jahre 1967/68, mit Solidarität für die "Dritte Welt" vermischte. Das charismatische Antlitz von Ho neben dem Maos und Che Guevaras - so war er nicht mehr der einzige symbolische Vertreter einer Protestbewegung, die mehr kultureller als politischer Natur war und die sich als Syndrom eines Unbehagens an der Zivilisation darstellte.
Verwandlung zur vollendeten Ikone
Zwischen dem Ende des ersten Indochinakrieges (1945 - 1954) und dem Beginn des zweiten (1960 - 1975) wurde Ho Chi Minh in seinem Land zu einer Kultfigur, soweit man darunter versteht, dass man ihm durch Gedenkzeremonien huldigt, dass sein Konterfei in der Öffentlichkeit allgegenwärtig ist und dass man, indem man ihn in Versen und Kinderliedern verherrlicht, seine moralische und patriotische Vorbildfunktion hervorhebt. Wenn Ho ein Objekt der Verehrung ist, dann als Stammvater (bac oder cu), "Erfahrener Vater der vietnamesischen Nation" (Cha già cua Zan toc Vietnam) oder als "Großer Held" (Anh hung vi dai); er gilt aber nicht oder noch nicht als Heiliger oder Gottheit (thanh oder than). Die Metamorphose des "Mannes aus Eisen" zum "Mann aus Marmor" führt ihn in die Isolation gegenüber den gewöhnlichen Sterblichen; einmal auf den Sockel gehoben, ist seine Fähigkeit, ins Tagesgeschehen einzugreifen, geschwächt, ebenso wie sein unmittelbarer Einfluss.
Als Ho Chi Minh im September 1969 starb, wurde sein Körper einbalsamiert. Er ruht seitdem in einem Mausoleum wie Lenin, den er einst als Vater und Meister bezeichnete. Seit etwa zwanzig Jahren wissen wir, dass die Szenerie des Mausoleums in Hanoi nach sowjetischer Anregung (Lenin-Mausoleum) gestaltet ist und sich in China (Mao) und Nordkorea (Kim II Sung) wiederholt hat. Die Schaffung dieses Ortes der Erinnerung war eine Entscheidung des Politbüros der Kommunistischen Partei Vietnams und stand im Gegensatz zum Letzten Willen des "Onkels". Der Ort wurde Pilgern und schaulustigen Touristen gewidmet, er materialisiert die "soziale Tugend eines Leichnams", könnte man hinzufügen.
Seinerzeit fand keine Beerdigungszeremonie statt, und es setzte sich auch kein Trauerzug in Bewegung. In einer unverfälschten Fassung seines Testaments, die zwanzig Jahre nach seiner Bestattung aufgefunden wurde, wünschte der Präsident, eingeäschert zu werden, und Urnen mit seiner Asche sollten auf vier bedeutende Stellen des Landes verteilt werden, an denen sich seine Landsleute versammeln könnten. Das, was sich Ho erhoffte, wäre auf der Ebene der Religion erfolgt, wenngleich es nicht um eine religiöse Handlung ging. Das Mausoleum hat hingegen eher Ähnlichkeit mit dem Lincoln Memorial in Washington oder dem Pantheon in Paris. Wenn es denn ein Tempel ist, dann ist es einer der Erinnerung.
Andererseits bringt man "Onkel Ho" heute gut und gerne Verehrung mit religiösem Charakter entgegen, und zwar in zweierlei Kategorien: zum einen nach derjenigen, die ursprünglich Schutzpatronen der Dörfer zugedacht wurde, zum anderen nach jener, die großen Nationalhelden vorbehalten ist. In den 1990er Jahren ist Vietnam in eine Ära der religiösen Renaissance, der so genannten Wiederverzauberung,
Während der so genannten sozialistischen Periode hatte Ho Chi Minh den Platz mehrer Schutzheiliger inne, deren Verehrung in den (Kapellen) oder im dinh (Haus des Lebens und der Gemeindefestlichkeiten) erfolgten und als "abergläubische Praktiken" eingestuft waren. Unter dem Druck bestimmter Gemeinschaften und mit Unterstützung örtlicher, ja sogar zentraler Autoritäten haben die dinh heute ihre traditionelle Bestimmung zurückerhalten, oder sie waren Gegenstand von Transaktionen. Als zum Beispiel in einer etwa zehn Kilometer südlich von Hanoi gelegenen Kommune ein dinh, der bis dahin einem berühmten Wunderheiler, dem zahlreiche Heilungen nachgesagt wurden, geweiht war, dem einzigartigen "Onkel Ho" gewidmet werden sollte, führten die Proteste eines Teils der Bevölkerung zu folgendem Kompromiss: Der Festtagskalender führt abwechselnd Tage zu Ehren von Ho und des seit dem Doi moi wieder zu Ehren gelangten Heilers auf.
Im Norden Vietnams hat Ho Chi Minh die Anhänger der einheimischen Heiligen wieder zusammengeführt, während im Süden seit kurzem eine neue Generation von Kapellen (den tho) in Erscheinung getreten ist; mehrere sind vor allem Ho gewidmet. Allein im Mekong-Delta wurden an die dreißig Kultstätten gezählt.
Man kommt nicht umhin, diese ikonische Dreifaltigkeit mit dem Gedankengut zu vergleichen, das jungen Vietnamesen heute über Ho Chi Minh vermittelt wird und das General Vo Nguyen Giap, seinerzeit militärischer Führer der Viet Minh und bis 1991 stellvertretender Ministerpräsident, als "neue Entwicklung und kreative Anwendung des Marxismus-Leninismus, verbunden mit Patriotismus, der traditionellen Kultur, dem vietnamesischen Humanismus und der Quintessenz der östlichen und westlichen Kulturen" bezeichnet hat.
Schluss
Die Ikone als Bild mit heiliger Prägung und als Zweck eines religiösen Kultes ist keine spontane Schöpfung. Sie ist als Kult um die Person erschaffen worden, um sie zu unterstützen und ihr Bedeutung zu verleihen. Nach seiner internationalen Verbreitung, als es als Symbol einer Sammlungsbewegung für ein sonderbares und widersprüchliches Amalgam von Pazifisten, linken Revolutionären und "Dritte-Welt"-Aktivisten instrumentalisiert wurde, hat das Bild Ho Chi Minhs seinen Charakter, seinen Sinn und seinen Status verändert. Diente es zunächst rituellen Zwecken, so wurde Ho Chi Minh nun zum Objekt andächtiger Verehrung. Sein Erscheinungsbild ist zur Ikone geworden, welche die Person heiligt und ins heimische Pantheon führt, wo sie für immer in die nationale Geschichte Vietnams eingeschrieben ist und damit Unsterblichkeit erlangt hat.