Einleitung
Der 10. Parteitag der Kommunistischen Partei Vietnams (KPV) im April 2006 signalisierte politische Aufbruchstimmung. Die auf diesem Parteitag ans Ruder gekommene neue Führungsmannschaft unternahm enorme Anstrengungen, um auf innen- wie außenpolitischer Ebene Dynamik und Effizienz unter Beweis zu stellen. Obgleich es im Vorfeld des Parteitags Debatten darüber gegeben hatte, ob Nong Duc Manh, der amtierende Generalsekretär der KPV, wiedergewählt werden sollte, machte ihm auf dem Parteitag niemand diese mächtigste Position im politischen System Vietnams streitig. Veränderungen ergaben sich bei den führenden Positionen im Regierungsapparat: Nguyen Tan Dung wurde zum Ministerpräsidenten, Nguyen Minh Triet zum Staatspräsidenten und Nguyen Phu Trong zum Vorsitzenden der Nationalversammlung nominiert.
Auf den ersten Blick fällt auf, dass die wichtigste Person der neuen Führungsriege, der Generalsekretär der KPV, eine eher zurückgezogene Rolle spielt. Zwar verkündet er die politischen Richtlinien und bestätigt dadurch die führende Stellung der Partei, aber er ist nicht der allgegenwärtige Macher, der die Tagespolitik bestimmt und sie vorantreibt. Vor allem Ministerpräsident Dung hebt sich sehr deutlich vom Parteichef ab. Er erscheint täglich in den Medien, stößt persönlich groß angelegte Reformprojekte an, kümmert sich um die Alltagssorgen der Bürgerinnen und Bürger und vertritt sein Land im Ausland mit beeindruckender Energie und Überzeugungskraft. Wurde er vor seiner Amtsübernahme nur als Mann des Apparats gesehen, der es versteht, im Hintergrund die Fäden zu ziehen, so entwickelte er sehr bald erstaunliches Talent, sich im Rampenlicht der Öffentlichkeit zu bewegen.
Ebenso beschränkt sich der neue Staatspräsident und frühere Partei-Chef von Ho-Chi-Minh-Stadt Triet nicht auf die repräsentativen Funktionen seines Amtes, sondern äußert sich oft sehr konkret zu innenpolitischen Problemen, findet offensichtlichen Gefallen an Auslandsreisen und der Anerkennung, die er als Staatsoberhaupt der Sozialistischen Republik Vietnam auf dem Gipfeltreffen der Organisation APEC (Asia-Pacific Economic Cooperation) oder als Gast des Weißen Hauses erfährt. Im Vergleich zu seinen mächtigen und dynamischen Kollegen wirkt der Vorsitzende der Nationalversammlung Trong blass. Obgleich ihm nach dem Protokoll die zweite Position nach dem Präsidenten zukommt, hat er bislang kaum eigene Initiativen auf den Weg gebracht. Ihm obliegt es mehr, Entscheidungen zu verkünden, als sie zu treffen oder durchzusetzen.
Das nach außen hin am deutlichsten sichtbare Reformprojekt waren Umstrukturierungen und Neubesetzungen im Regierungsapparat. Auch hier kam der KPV eine Vorreiterrolle zu. Sie hatte bereits Anfang 2007 die Anzahl der Abteilungen des Zentralkomitees von neun auf sechs reduziert, indem sie sechs Abteilungen zu drei neuen zusammengefügt hatte. Diesem Beispiel folgte die Nationalversammlung einige Monate später, indem sie der Verschlankung des Regierungsapparats und der Nominierung neuer Minister zustimmte:
Das Durchschnittsalter des neuen Kabinetts liegt erheblich unter dem des alten. Hoang Trung Hai, 47 Jahre alt, ist der jüngste Stellvertretende Ministerpräsident, den Vietnam je hatte. Er wie auch sein neuer Kollege Nguyen Thien Hung haben sich als Wirtschaftsexperten und erfahrene Technokraten einen Namen gemacht. Vertreter des Militär- und Sicherheitsapparates, die lange Zeit die Politik des Landes maßgeblich geprägt hatten, sind dagegen in dem obersten Führungszirkel der fünf stellvertretenden Ministerpräsidenten nicht mehr vertreten. Mit beachtlichem Geschick ist es dieser Regierung gelungen, Geschlossenheit an den Tag zu legen und interne Reibungskonflikte, die in der Vergangenheit oft deutlich erkennbar waren, auf ein Mindestmaß zu reduzieren.
Verwaltungsreform
Die Umstrukturierung und Neubesetzung von Spitzenpositionen stellte indes nur einen Schritt eines sehr umfassenden Programms mit dem Ziel dar, die Regierung "zu vereinheitlichen und zu modernisieren". In einer Rede vor der Nationalversammlung wies Ministerpräsident Dung auf einen weiteren wichtigen Programmpunkt hin: "Die bedeutendste und spannendste Aufgabe (...) der Regierung wird es sein, eine starke und transparente Verwaltung aufzubauen, die frei von Überbürokratie, Korruption und Verschwendung ist."
Eine solche Reform der öffentlichen Verwaltung steht seit langem auf der Tagesordnung vietnamesischer Regierungen. Wie die thailändische Vietnam-Expertin Thaveeporn Vasavakul überzeugend dargelegt hat, haben sich seit Beginn der 1990er Jahre eine Reihe von vietnamesischen Regierungen mit dieser Aufgabe beschäftigt; bislang mit mäßigem Erfolg.
Bereits im Januar 2007 war auf einer Sitzung des ZK entschieden worden, dass sich die Armee und das Ministerium für öffentliche Sicherheit von allen kommerziellen Aktivitäten trennen sollten, deren Gewinne in diese Institutionen, aber auch in die privaten Taschen ihrer führenden Vertreter flossen.
Eine weitere Finanzierungsquelle lokaler Verwaltungsstellen sind "Steuern" und "Gebühren", die sie nach eigenem Ermessen und ohne gesetzliche Grundlage erheben. Mit der im November 2007 veröffentlichten "Direktive Nr. 24" untersagte der Ministerpräsident diese Praxis. Da diese zusätzlichen Einnahmen aber einen nicht unerheblichen Teil des Einkommens und der Macht der lokalen Kader darstellen, wird sie nicht ohne eine umfassende Reform des Entlohnungs- und Versorgungssystems im öffentlichen Dienst durchzusetzen sein - eine Forderung, die bereits zu Beginn der Reformpolitik erhoben worden war, aber bisher nicht einmal in Ansätzen verwirklicht wurde.
Korruption und Obstruktion
Um landesweit alle gegen Korruption gerichteten Maßnahmen zu koordinieren und auszuwerten, war im Oktober 2006 das "Zentrale Leitungskomitee zur Abwehr und Kontrolle der Korruption" eingerichtet worden. Kein geringerer als der Ministerpräsident steht dieser hierarchisch strukturierten Institution vor, die auf Provinzebene von den Vorsitzenden des Volkskomitees der Provinz geleitet wird. Der wohl spektakulärste Erfolg des Kampfes gegen die Korruption war die im August 2007 erfolgte Verurteilung hoch rangiger Mitarbeiter des Transportministeriums zu langjährigen Haftstrafen, da sie öffentliche Gelder veruntreut und die Aufdeckung ihrer Straftaten durch Bestechung zu vereiteln versucht hatten.
Um ihre Entschlossenheit zu demonstrieren, "die Korruption in Vietnam ein für alle Mal zu beseitigen",
Der Erfolg solcher Reformmaßnahmen hängt in hohem Maße von der Fähigkeit der neuen Regierung ab, den hartnäckigen Widerstand der unteren Verwaltungseinheiten zu brechen und jene oft beklagte Fragmentierung der öffentlichen Verwaltung zu überwinden. Auf den untergeordneten Ebenen hat man jedoch im Laufe der Jahrzehnte ein erstaunliches Talent dafür entwickelt, Interessen und Besitzstände zu wahren, ohne vorgesetzte Dienststellen offen herauszufordern. Da die Methoden und Maßnahmen, mit welchen die Regierung die Umstrukturierung umzusetzen versucht, nicht allzu innovativ sind, können die betroffenen Kader auf jenen Schatz von Erfahrungen und Techniken zurückgreifen, mit denen es ihnen bislang gelungen ist, Befehle von oben entgegenzunehmen, ihren Wünschen anzupassen oder sie ins Leere laufen zu lassen.
Es kommt nicht von ungefähr, dass Ministerpräsident Dung in seinem Bericht auf der zweiten Sitzung der Nationalversammlung am 22. Oktober 2007 erklärte, dass "vor allem die Verwaltungsreformen (...) die Unterstützung der Öffentlichkeit und der Geschäftswelt gewonnen" hätten, er aber kein Wort über die Reaktion der betroffenen Kader verlor.
Der Erfolg der Verwaltungsreformen wird davon abhängen, wer sich bei den Auseinandersetzungen über den Zugang zu jenen ökonomischen Ressourcen durchsetzen kann, die derzeit den einzelnen Verwaltungseinheiten und Regierungsinstitutionen noch zur Verfügung stehen. Die oben zitierte Forderung des ZK, die Armee und der Sicherheitsapparat sollten sich von ihren kommerziellen Unternehmen trennen, müsste logischerweise auch auf alle anderen staatlichen Institutionen angewandt werden, die als "virtuelle Anteilseigner" über verschiedene "Anteile" an staatlichen Unternehmen verfügen.
Es ist offensichtlich, dass die verschiedenen Ebenen der Verwaltung keinen nachvollziehbaren Grund oder Anreiz haben, jene eigenen Einkommensquellen aufzugeben und damit auch einen relativ hohen Grad an Unabhängigkeit zu verlieren. Sind sie sich doch der Tatsache bewusst, dass die Zentralregierung ohne sie nicht regieren kann. Solange aber der Regierung in Hanoi keine anderen Institutionen und Akteure zur Verfügung stehen, mit deren Hilfe sie ihre Herrschaft ausüben kann, ist die Verhandlungsmacht der unteren Einheiten ziemlich groß. Eine Regierung, die versucht, alle diese dezentralen Einkommensquellen unter ihre zentrale Kontrolle zu bringen, wird daher über neue Anreize für ihre alten Kooperationspartner oder aber über neue Institutionen und Akteure nachdenken müssen, mit denen sie ihre Herrschaft durchsetzen und absichern kann. Derzeit ist weder das eine noch das andere in Sicht.
Opposition und Repression
Im Unterschied zu den Konflikten innerhalb des Verwaltungsapparats wurden die Konflikte mit regimekritischen Oppositionellen sehr offen und öffentlich ausgefochten. Noch im Vorfeld des 10. Parteitags erlebte Vietnam eine lebendige und freimütige Debatte, in der selbst ketzerische Fragen wie die nach der Notwendigkeit von Artikel 4 der Verfassung laut wurden, der das Machtmonopol der KPV festschreibt. Internetbenutzer erfuhren am 8. April 2006, dass sich eine politische Gruppierung, "Block 8406", gegründet habe, die demokratische Freiheiten und ein Mehrparteiensystem in Vietnam fordere.
Zwei Monate später erhielten vier Protagonisten der so genannten "Nhan-Van-Giai-Pham-Affäre"
Aber dieses reichlich späte und indirekte Eingeständnis von "Fehlern" entsprang offensichtlich nur taktischem Kalkül und signalisierte keineswegs eine selbstkritische Überprüfung jener Praktiken, mit denen man gegen "feindliche Kräfte" vorging. Kaum war Vietnam Anfang 2008 Mitglied der Welthandelsorganisation WTO geworden, startete eine Repressionswelle, die von Human Rights Watch als eine der "schlimmsten in den vergangen zwei Jahrzehnten" bezeichnet wurde.
Im Sommer 2007 waren Hunderte von Bauern aus dem Mekong-Delta vor dem Büro der Nationalversammlung in Ho-Chi-Minh-Stadt zusammengekommen, um die Rückgabe von Land und die Bestrafung jener Kader zu fordern, die sich das Land illegal angeeignet hatten.
Die Reaktion des Staates ließ nicht lange auf sich warten. Thich Quang Do wurde in einer Pagode erneut unter Hausarrest gestellt, und alle Kontakte zur Außenwelt wurden unterbunden. Sein engster Mitarbeiter Thich Khong Thanh wurde verhaftet, als er Geld an protestierende Bauern verteilte. Andere Anhänger wurden wiederholt zu intensiven Verhören vorgeladen, hatten Hausdurchsuchungen und die Sperrung ihrer Telefon- und Internetverbindungen zu erdulden. Parallel zu diesen Repressionsmaßnahmen lief eine intensive Pressekampagne, in der Thich Quang Do bezichtigt wurde, die "humanitären Aktionen" nur als Vorwand zu nehmen und die Religion zu missbrauchen, um zusammen mit anderen oppositionellen Gruppierungen Unruhe zu schüren und einen Umsturz in Vietnam vorzubereiten. In einigen Artikeln wurde den Regimekritikern sogar unterstellt, dass sie diese Aktivitäten nur deshalb unternehmen würden, weil sie dafür Geld von "reaktionären Organisationen im Ausland" erhielten.
Journalisten, die sich mit der Entlarvung der Korruption in den oberen Rängen der Führung befassen, können dagegen nicht auf solche Ehrungen hoffen. Am 12. Mai 2008 wurden zwei Reporter der Zeitungen des Jugendverbands, Nguyen Van Hai und Nguyen Viet Chien, verhaftet, die im Frühjahr 2006 einen großen Betrugs- und Bestechungsskandal im Transportministerium aufgedeckt hatten. Zwei Kriminalbeamte, welche die polizeilichen Untersuchungen geleitet hatten, kamen ebenfalls in Haft.
Grenzen des Wirtschaftsbooms
Vietnam hatte im vergangenen Jahrzehnt eine durchschnittliche Wachstumsrate zwischen 7 und 8 % aufzuweisen. 2007 war sie auf 8,5 % geklettert, und noch im Januar 2008 zeigte sich Ministerpräsident Dung entschlossen, sie auf 9 % zu schrauben.
Um die Wachstumsziffern nach oben zu treiben, hatte sich Vietnam 2007 um einen massiven Anstieg des Kapitalzuflusses bemüht. Über 20 Mrd. US-Dollar, mehr als 30 % des Bruttoinlandsproduktes (BIP), waren als Direktinvestitionen, Auslandsüberweisungen oder Entwicklungshilfeleistungen ins Land geflossen.
Auf diese alarmierenden Entwicklungen reagierte die Regierung wenig professionell. Anweisungen an die Zentralbank, mal keine vietnamesische Währung, mal keine US-Dollars auszugeben, vergrößerten bestehende Unsicherheiten. Nach wie vor wird ein unkoordiniertes Vorgehen von Staatsbank und Ministerien beklagt. Auch nach zwei Jahren Verwaltungs- und Strukturreform sind den Machtmitteln der Zentralregierung, Etatkürzungen bei den Staatsunternehmen oder auf der Provinzebene durchzusetzen, enge Grenzen gesetzt.
Neuer Politikansatz?
Die angestrebten Umstrukturierungen gehen von der Idee aus, dass der Staat, geführt von der KPV, nicht nur die Aufgabe, sondern grundsätzlich auch die Befähigung habe, den gesamten politischen, gesellschaftlichen und auch wirtschaftlichen Prozess umfassend zu steuern; sei es durch direkte oder indirekte Maßnahmen. Da aber ein zersplittertes, unklar strukturiertes Verwaltungssystem dieser enormen Aufgabe nicht gewachsen ist, muss der gesamte Apparat reorganisiert werden, um eine "demokratische, starke, saubere und moderne Verwaltung"
Das Verhältnis zwischen denen, welche die politischen Entscheidungen treffen, und denen, die sie auszuführen und zu vermitteln haben, wird sehr anschaulich durch die Rolle illustriert, welche die Nationalversammlung spielt. Laut Verfassung ist sie das höchste Organ der Staatsmacht. In der internationalen Presse wurde ausgiebig über die "neue Rolle" der Nationalversammlung, ihre wachsende Unabhängigkeit und ihren zunehmenden Professionalismus spekuliert. Bei der Wahl am 20. Mai 2007 gab es immerhin 875 Kandidaten für die 500 Parlamentssitze. Die gewählten Abgeordneten waren jünger und verfügten über eine bessere Ausbildung als ihre Vorgänger. Doch sieht man sich die Ergebnisse der Parlamentswahl genauer an, so ergibt sich ein weniger optimistisches Bild. Nur ein einziger Kandidat, der sich selbst nominiert hatte, erhielt einen Sitz im neuen Parlament; 1997 waren es noch drei. Der Prozentsatz der Nicht-Parteimitglieder verringerte sich von 14,6 (1997) auf 8,5 Prozent im Jahr 2007. Der Einfluss der KPV auf das Parlament hat damit eher zu- als abgenommen. Hinzu kommt, dass 72 Prozent der neuen Mitglieder zum ersten Mal gewählt worden waren und daher keine Erfahrung mit ihrer zukünftigen Arbeit hatten.
Letztlich sind auch der institutionelle Handlungsspielraum und die Machtbefugnisse der Nationalversammlung stark eingeschränkt. Nationalversammlung, Regierung und Oberster Gerichtshof sind nicht durch ein System wechselseitiger Kontrollen verbunden, sondern ihren eigenen "Selbstregulierungsmechanismen" verpflichtet. Folgt man den Ausführungen des Parteitheoretikers Nguyen Van An, so muss jedes Staatsorgan seine Fehler selbst beheben. Sich auf die Hilfe oder Anweisung eines anderen Staatsorgans zu verlassen, widerspreche den bestehenden Gesetzen.
Nichtregierungsorganisationen
Eine ungeheure Vielfalt von "Gruppen der Zusammenarbeit", "Lokalen Organisationen" und verschiedene Formen von "Nichtregierungsvereinigungen", die sich oft ganz spontan gebildet haben, sind ein integraler Bestandteil der vietnamesischen Gesellschaft. Wie passen sie in eine Politik, die versucht, die politische Macht zu (re-)zentralisieren und die Kontrollen von oben nach unten zu verstärken? Es gibt im Grunde zwei Strategien: Kooptation oder Kriminalisierung. Welche Strategie eingeschlagen wird, hängt von ihrer "Nützlichkeit" ab. Dem Konzept der Vergesellschaftung (xa hoi hoa) - ein Konzept, das auffallende Ähnlichkeiten mit den Ideen des Neoliberalismus und des "Proaktiven Wohlfahrtsstaats" aufweist - liegt die Annahme zugrunde, dass der Staat in der Vergangenheit zu viel Verantwortung und zu viele Aufgaben vor allem im Gesundheitswesen sowie im Bereich von Erziehung und öffentlicher Wohlfahrt übernommen hat. Ihm stehen aber nicht genügend Mittel zur Verfügung, um diese Aufgaben angemessen zu erfüllen. Deshalb können und sollen viele, wenn nicht gar die meisten dieser Aufgaben Selbsthilfegruppen bzw. Nichtregierungsorganisationen (NRO) überlassen werden, sodass der Staat sich auf zentrale Herrschaftsfunktionen konzentrieren kann.
In der Frage, welcher Handlungsspielraum diesen Gruppen und Organisationen eingeräumt werden sollte, gerät die Staatsführung in ein Dilemma. Einerseits muss sie die Grenzen dieses Handlungsspielraums definieren, andererseits will sie diesen Gruppen keine Bestandsgarantien zugestehen. Die Debatte über das "Vereinsgesetz", die seit mehr als fünfzehn Jahren geführt wird, ohne dass es zu einer Verabschiedung gekommen wäre, spiegelt dieses Dilemma, aber auch die Haltung der Staatsführung wider, die in den NRO Freiwillige sieht, die notwendige Reparaturarbeiten ausführen, aber keine Partner mit verbrieften Rechten sind.
Zivilgesellschaftliche Organisationen wie "Block 8406" oder unabhängige Vertretungen von Arbeitern oder Bauern, die ihre vom Staat zugedachte Rolle nicht akzeptieren und klare politische Rechte einfordern, führen eine mehr als unsichere Existenz. Ob sie ignoriert, schikaniert oder massiv unterdrückt werden, hängt vom gerade herrschenden innenpolitischen Klima und ihrer internationalen Unterstützung ebenso ab wie von ihrer Fähigkeit, Anhänger zu mobilisieren, die sie als aufrechte Vertreter ihrer Interessen anerkennen. Insgesamt ist im vergangenen Jahr eher eine Zu- als eine Abnahme der staatlichen Repression zu verzeichnen. Die Zuweisung bestimmter Arbeitsbereiche an NRO sollte nicht mit dem Aufbau eines pluralistischen Systems unabhängiger Kräfte gleichgesetzt werden, die in einem System klar definierter Regeln und Rechte agieren können. Soziale Gerechtigkeit und gesellschaftlicher Konsens wird nicht als Ergebnis von komplizierten und oft mühsamen Verhandlungen zwischen verschiedenen aber gleichberechtigten Interessengruppen gesehen, sondern als etwas, was eine weise politische Führung festlegt, nachdem sie alle relevanten Probleme sorgfältig studiert und - möglicherweise - die betroffenen Personen und Gruppen konsultiert hat.
Defizite und Grenzen des Restrukturierungsprogramms
Verwaltungsreform, Verschlankung des Regierungsapparates, Verstärkung der Effizienz und Verbesserung der Steuerungskapazitäten stehen seit geraumer Zeit auf der Tagesordnung vietnamesischer Regierungen. Die im Sommer 2007 ins Amt gekommene Regierung hat einen neuen Anlauf genommen, diese Punkte zu verwirklichen, aber sie hat keine wirklich neue Reformstrategie entwickelt, ganz zu schweigen von einem neuen Konzept der Regierungsführung. Das Reformprogramm beruht wie seine Vorgängerprogramme auf der Idee der "Politischen Steuerung". Diese geht von einer strikten Dichotomie zwischen den Subjekten und Objekten dieses Steuerungsprozesses aus und betrachtet den Staat als entscheidenden Akteur in diesem Prozess, der seine Macht nicht im Interesse einer bestimmten gesellschaftlichen Klasse, sondern im Interesse des Allgemeinwohls einsetzt. Der sozialistische Staat in Vietnam, wie auch in der Volksrepublik China, sieht sich als eine solche Steuerungsinstanz, die über den unterschiedlichen und oft sich widersprechenden Interessen in Wirtschaft und Gesellschaft steht und deshalb allein berechtigt und befähigt ist, zu intervenieren oder Kompromisse auszuarbeiten und zu verwirklichen.
Die Erfahrungen anderer Länder haben bewiesen, dass dieses überkommene hierarchische Modell, in dem der Staat den Anspruch erhebt, die souveräne Kontrolle über den politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Prozess auszuüben, die Steuerungskapazitäten des Staates gerade in einer sich rapide verändernden Wirtschaft und Gesellschaft enorm überschätzt und andererseits die Rolle anderer Akteure bzw. deren potenziellen Beitrag zu einer guten Regierungsführung gewaltig unterschätzt.
Drei Voraussetzungen haben sich als unabdingbar erwiesen: Erstens muss den verschiedenen Interessengruppen das Recht zugestanden werden, sich zu organisieren, gemeinsame Positionen zu formulieren und diese in der Öffentlichkeit zu vertreten, wie z.B. durch eine genuine Interessenvertretung der Arbeiternehmer. Ein zweiter und sehr viel komplizierterer Schritt besteht darin, ein System allseits akzeptierter Regeln und Institutionen für die gewaltfreie Interessenaustragung zu schaffen. Dies wird drittens nur in einem ergebnisoffenen Prozess möglich sein, dessen Ausgang nicht durch eine übermächtige Institution gesteuert und vorbestimmt wird.
Da bislang nur wenig darauf hindeutet, dass auch nur eine dieser drei Bedingungen der Realisierung näher kommt, ist davon auszugehen, dass sich gerade in wirtschaftlich schwierigen Zeiten die vorhandenen Konflikte eher verstärken als verringern werden. Die vietnamesische Regierung, die 2007 selbstbewusst verkündet hatte, dass sie die Probleme entschlossen in Angriff nehmen werde, zeigt sich diesen Herausforderungen kaum gewachsen und macht bei der Bewältigung der gegenwärtigen wirtschaftlichen Schwierigkeiten einen eher erratischen denn energischen Eindruck.