Einleitung
Viele gegenwärtige Gesellschaften versuchen, leistungssportliche Eliten systematisch auszuwählen und zu fördern.
Die Struktur der systematisierten Siebung, möglichst erfolgreichen Entwicklung und notwendigen Auffrischung einer sportlichen Leistungselite lässt sich idealtypisch zwischen zwei mehrdimensional beschreibbaren Polen verorten. Diese Pole kann man als Laisser-faire und als rigides System der Sportförderung kennzeichnen.
Die rigide Struktur ging im Fall der geschlossenen DDR-Gesellschaft mit zentraler Lenkung des Sports nach dem Prinzip des demokratischen Zentralismus einher. Der Leistungssport wurde intensiv mit Ressourcen ausgestattet, deren großer Umfang über den staatlichen Auftrag zur Demonstrierung sozialistischer Überlegenheit mit Mitteln des sportlichen Erfolges gerechtfertigt wurde. Dabei kam es zur Anwendung von Mitteln und Maßnahmen, die nur vor dem Hintergrund eines totalitären Systems möglich waren und sind.
Die in der DDR zum Einsatz gelangten Mittel einer institutionalisierten Sportförderung wie Sportclubs, Kinder- und Jugend-Sportschulen, Rahmentrainingspläne usw. wurden teilweise im Zuge der deutschen Wiedervereinigung in einer Art nachträglicher Konvergenz ohne gründliche Prüfung, ob sie überhaupt mit den Werten und Strukturen einer offenen Gesellschaft vereinbar sind, in das gesamtdeutsche Sportsystem übernommen. Damit kam es zwangsläufig zu typischen Problemen, denn die Prinzipien der Förderinstitutionen standen der Bewahrung individueller Freiheit in einer offenen Gesellschaft zum Teil diametral entgegen.
Insgesamt ist deshalb nicht verwunderlich, dass der am DDR-Leistungssport orientierte Versuch einer systematisch gesteuerten Leistungsentwicklung in der offenen Gesellschaft Gesamtdeutschlands aufgrund nicht beabsichtigter Effekte keineswegs problemlos verläuft.
Unsere Fragen lauten also: Inwieweit erlaubt im Vergleich offener Gesellschaften die genaue Kenntnis von ausgewählten Rahmenbedingungen Prognosen auf das kollektive sportliche Erfolgsniveau? Und: Welche Unterschiede treten zwischen Prognosemodell und tatsächlichem Erfolgswert auf, und welche Einflüsse lassen sich dahinter vermuten?
Implizit kann damit auch die Frage abgeschätzt werden, in welchem Maß Unterschiede im sportlichen Erfolgsniveau im Vergleich offener Gesellschaften überhaupt von den Mitteln der Sportförderung abhängen und inwieweit sie grundsätzlich in wesentlichem Umfang beeinflussbar sind. Gleiches gilt für die Frage, inwieweit rationale Entscheidungen hinsichtlich der Mittelwahl und des Mitteleinsatzes zu den entscheidenden Bedingungen für den sportlichen Erfolg einer Nation zählen - ob diese Bedingungen also überhaupt beeinflussbar sind.
Sozioökonomische und demographische Determinanten
Soziale, ökonomische und demographische Variablen beeinflussen den sportlichen Erfolg von Nationen bei Olympischen Spielen.
1. Mit hoher Wahrscheinlichkeit sind anlage- und umweltbedingte Leistungsvoraussetzungen für eine Sportart in einer Bevölkerung normal verteilt. Die Wahrscheinlichkeit, dass Personen mit seltenen genetischen und sonstigen Voraussetzungen, wie sie Voraussetzung für sportliche Spitzenleistungen sind, in einer Bevölkerung vorkommen, ist damit abhängig vom Umfang der Population.
2. Bereits auf regionalem und nationalem Wettkampfniveau kann der Sport Athleten zu Ansehen, aber auch zu finanziellen Einkünften in einem jeweils nationalen Sportmarkt verhelfen, wobei die Medien mit ihrer Sportberichterstattung eine wichtige vermittelnde Funktion einnehmen. Mit wachsendem Umfang der Wohnbevölkerung und zunehmender Größe des Marktes steigen auch die Chancen für Sportler, an Popularität zu gewinnen und mehr Geld zu verdienen. Durch die höheren Anreize sollte es in der Folge auch zu einer höheren "Ausschöpfung" der relevanten Bevölkerung (der sog. "Risikopopulation") kommen, das heißt, es ist zu erwarten, dass mehr Menschen einer Bevölkerung Sport treiben.
3. Die Qualifikation zur Teilnahme an Olympischen Spielen wird meist über den Nachweis hervorragender Leistungen in internationalen Wettkämpfen erworben. Zur Teilnahme an Olympischen Spielen sind jedoch zuvor bei begrenzter Zahl von Teilnehmerplätzen je Nation die Gegner im jeweiligen nationalen Sportsystem zu schlagen. Bei gleicher Ausschöpfung der Risikopopulation hängt aber die Zahl leistungsfähiger Konkurrenten ausschließlich von der Größe der Gesamtbevölkerung ab. Je größer also die Wohnbevölkerung eines Landes, desto rigider dieser Konkurrenzdruck, weshalb sich Athleten aus bevölkerungsreichen Ländern im nachfolgenden internationalen Vergleich durch höhere Erfolgswahrscheinlichkeiten auszeichnen sollten.
4. Sportorganisationen wie Vereine und Verbände, aber auch private und andere öffentliche Sportanbieter, richten entsprechende Angebote nur dann ein, wenn damit zu rechnen ist, dass eine ausreichende Zahl an Personen mit übereinstimmenden Sportinteressen dieses Angebot auch wahrnimmt. Die Bevölkerungsdichte eines Landes sollte also einen Einfluss darauf haben, wie viele verschiedene Sportarten in diesem Land ausgeübt werden und wie vielen Bürgern des Landes die jeweilige Sportstätteninfrastruktur zugänglich ist. Beide Effekte sollten wiederum über die Ausschöpfung der Risikopopulation - also darüber, wie viele Menschen einer Bevölkerung zu erfolgreichen Sportlern werden, - auf das kollektive Erfolgsniveau der Athleten wirken. Der Effekt der Bevölkerungsdichte könnte dabei überlagert werden durch die Anteile der Bevölkerung, die in Städten als typische Verdichtungen von Bevölkerungen leben.
5. Mit steigendem Anteil der täglichen Arbeitszeit, die man zur physischen Existenzsicherung einsetzen muss, sinkt die Bereitschaft, in der Freizeit Sport zu treiben. Sport sollte also prinzipiell umso häufiger als Freizeitaktivität in einem Land auftreten, je niedriger die Belastung durch die Kosten zur Sicherung der Existenz sind. Damit sollte also auch das Niveau des allgemeinen Wohlstandes mittelbar über die Ausschöpfung der Risikopopulation auf das Erfolgsniveau Einfluss haben.
Über die hier skizzierten Einflussmechanismen hinaus kann der Grad der Ausschöpfung der relevanten Bevölkerung innerhalb eines Landes auch durch eine höhere Rigidität legaler Zugriffe politischer und administrativer Stellen auf die Menschen gesteigert werden. Für das Sportfördersystem in Deutschland stellt sich aber die Frage, welche Effektivität (Grad der Zielerreichung) und welche Effizienz (Input-Output-Relation und Frage des Nutzens der alternativen Verwendung eingesetzter Mittel) es unter den aktuell gegebenen Ausprägungen politischer und bürgerlicher Freiheitsrechte erreicht. Aus diesem Grund werden für die folgenden Analysen zum Vergleich ausschließlich diejenigen Länder herangezogen, die im Analysezeitraum über ein ähnliches Niveau bürgerlicher Freiheitsrechte verfügten wie Deutschland.
Die diskutierten Einflussfaktoren stellen durchweg aus der Sicht eines Spitzensportfördersystems unbeeinflussbare Rahmenbedingungen dar, unter denen im jeweiligen Land die Förderung des Spitzensports organisiert werden muss. Sofern diese Determinanten tatsächlich das sportliche Erfolgsniveau von Athletenkollektiven mit bestimmen, ließe sich zum Beispiel für das Spitzensportfördersystem in Deutschland ermitteln, welches Erfolgsniveau (1.) unter den für ein Fördersystem aufgrund der Ausprägung bürgerlicher Freiheitsrechte grundsätzlich gegebenen Beschränkungen und (2.) angesichts der Ausprägung der genannten Einflussfaktoren zu erwarten ist.
Zur Eingrenzung der Analyse auf diejenigen Teilnehmerländer, in denen die Ausprägung bürgerlicher und politischer Freiheitsrechte gleich derjenigen in Deutschland ist, wurde der Freedom House Index
Als Methode wurde die Multiple Regressionsanalyse gewählt. Diese erlaubt es, den Einfluss mehrerer Einflussfaktoren auf ein davon abhängiges Phänomen, hier die Zahl der Medaillen, abzuschätzen. Die schrittweise Vorgehensweise macht es dabei möglich, die Anzahl der betrachteten Variablen auf diejenigen mit tatsächlich nachweisbarem Einfluss zu reduzieren.
Bekannte Störvariablen stellten die Altersstruktur und das Auftreten regionaler Verdichtungen dar, die jedoch aus forschungsökonomischen Gründen toleriert werden mussten. Gleiches gilt prinzipiell für das Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf. Als Maß für den Wohlstand von Individuen in einer Bevölkerung ist es nur begrenzt geeignet, da damit weder die Streuung der ökonomischen Ressourcen in der Bevölkerung noch die spezifische Ausprägung dieser Variablen innerhalb der betreffenden Bevölkerung erfasst wird.
Für die einzelnen Analysen wurden zu den jeweiligen abhängigen Variablen (Zahl der Medaillen) die Ausprägungen der unabhängigen Variablen aus dem jeweils davor liegenden olympischen Jahr gewählt. Damit wurde der Tatsache Rechnung getragen, dass sich die vermuteten Einflüsse zum großen Teil über längere Zeiträume hin entfalten. Ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen dem Umfang ökonomischer Ressourcen in einer Volkswirtschaft und der Anzahl der zu Olympischen Spielen entsandten Athleten liegt zwar nahe, ist jedoch nur eine mögliche Wirkung der ökonomischen Ressourcen auf das Erfolgsniveau des Athletenkollektivs. Die Einflussfaktoren, die sich auf den Grad der Ausschöpfung der Risikopopulation beziehen, sind dagegen Einflüsse, die sich über längere Zeiträume hinweg erstrecken, wobei die Breite des Zeitintervalls (noch oder prinzipiell) unbekannt ist.
Zur Analyse der Einflusshöhe der Determinanten wurden jeweils für die einzelnen Olympischen Spiele getrennt Regressionsanalysen mit schrittweisem Einschluss der unabhängigen Variablen gerechnet. Anhand dieser Methode, die hier nur ansatzweise skizziert werden kann, kamen wir zu dem Ergebnis, dass der sportliche Erfolg der verschiedenen Länder zu sehr hohen Anteilen auf der Basis der Vorhersagevariablen (BIP pro Kopf, Bevölkerungsumfang und Bevölkerungsdichte) geschätzt werden kann. Im Vergleich mit anderen Analysen
Abbildung 1 (vgl. PDF-Version) macht deutlich, dass das Erfolgsniveau der deutschen Athleten bei den Olympischen Sommerspielen von 2004 (ebenso wie die Werte von 1996 und 2000) deutlich über dem Vorhersagewert lag. Die Bedingungen für den Spitzensport in Deutschland sind also so gestaltet, dass sportliche Erfolge realisiert werden, die allein aufgrund der sozioökonomischen Prognose nicht zu erwarten sind, und dies konstant bereits über einen längeren Zeitraum hinweg. Eventuell zu Beginn des Analysezeitraums noch vorhandene Mitnahmeeffekte der Spitzensportförderung der DDR wurden in der Folgezeit bei teilweise verschärfter internationaler Konkurrenz offensichtlich kompensiert.
Bezogen auf die Winterspiele 2002 und 2006 liegt Deutschland erheblich über dem vorhergesagten Wert (vgl. Abbildung 2 der PDF-Version). Dies legt nahe, dass weitere, bisher nicht identifizierte Einflussfaktoren das Ergebnis bei Winterspielen wesentlich stärker beeinflussen als bei Sommerspielen.
Resümee
Als bedeutendster Einflussfaktor bei den Sommerspielen stellte sich jeweils der Populationsumfang heraus, während die Populationsdichte und das BIP pro Kopf nur in Einzelfällen, und dann auch nur in wesentlich geringerem Umfang (jeweils ca. sechs Prozent), zur Erklärung beitrugen. Bei den Winterspielen stellte sich ausschließlich das BIP pro Kopf als bedeutender Einflussfaktor heraus. Der Grund für diesen Unterschied könnte die in Wintersportarten stärkere Abhängigkeit von der spezifischen Sportstätteninfrastruktur sein, aufgrund der die relevanten Sportstätten nur für einen kleineren Anteil der Wohnbevölkerung leicht zugänglich sind. Damit sinkt der Einfluss des Bevölkerungsumfangs deutlich. Dagegen sind die bei Olympischen Sommerspielen betriebenen Sportarten nur zu einem kleinen Teil typische Natursportarten und nur in geringem Umfang an eine selten zu findende spezifische Sportstätteninfrastruktur gebunden. In diesen Fällen spielt das Niveau des allgemeinen Wohlstandes (und damit auch die hier als vermittelnde Variable angenommene horizontale soziale Mobilität innerhalb der Bevölkerung) nur eine untergeordnete Rolle. Dies bedeutet weiter, dass örtliche Konzentrationen von Athleten in Sportarten, die selten anzutreffende Anlagen voraussetzen, nur dauerhaft erfolgversprechend sind, wenn die individuellen Kosten der Verlagerung des Lebensmittelpunktes an den Ort der Sportstätte durch die Vorteile der Zentralisierung aufgewogen werden. Im Umkehrschluss heißt dies, dass Zentralisierung in denjenigen Fällen, in denen Sport- und Betreuungsstätten vielerorts verfügbar sind, nur bei überragendem Anreiz gelingen dürfte. Inwieweit überhaupt der sportliche Erfolg bei ansonsten gleichen Rahmenbedingungen allein durch eine über das Vereinssystem hinaus gehende Förderung wesentlich beeinflusst werden kann, muss angesichts des nachgewiesenen großen Einflusses von Rahmenbedingungen offen bleiben.
Die verbreitete Einschätzung, das Fördersystem in Deutschland sei dringend reformbedürftig, die gewöhnlich mit einem mangelhaften Erfolgsniveau begründet wird, kann deshalb hier nicht bestätigt werden.