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Den Brexit-Prozess erklären: Neuland für die EU-Forschung | Europäische Baustellen | bpb.de

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Den Brexit-Prozess erklären: Neuland für die EU-Forschung

Martin Große Hüttmann

/ 19 Minuten zu lesen

Am 29. März 2017 übergab Sir Tim Barrow, der EU-Botschafter des Vereinigten Königreiches, Donald Tusk, dem Präsidenten des Europäischen Rates, einen sechs Seiten langen Brief. Mit diesem Schreiben teilte die britische Premierministerin Theresa May den europäischen Staats- und Regierungschefs formell mit, dass ihr Land die Mitgliedschaft in der Europäischen Union nach mehr als vier Jahrzehnten beenden werde. Neun Monate waren seit dem Brexit-Referendum am 23. Juni 2016 vergangen, bei dem sich eine knappe Mehrheit von 51,9 Prozent der Wählerinnen und Wähler für den Abschied ihres Landes von der EU ausgesprochen hatten.

Brüssel, 29. März 2017: Der Moment nach der Übergabe des britischen "Scheidungsbriefes": links Donald Tusk, Präsident des Europäischen Rates, rechts Sir Tim Barrow, Botschafter des Vereinigten Königreiches bei der EU. (© picture-alliance, AP Images, Yves Herman)

Erst mit der Übergabe des "Scheidungsbriefes" konnte die Trennung offiziell starten. Der formelle Akt läutete einen Prozess ein, der sehr viel länger dauern und noch mehr Fragen und Probleme aufwerfen sollte, als die meisten Beobachterinnen und Beobachter sich zu diesem Zeitpunkt vorstellen konnten. In einigen britischen Medien, die sich für den Brexit stark gemacht hatten, wurde der Briefübergabe geradezu entgegengefiebert; jedes noch so unwichtige Detail schien eine Meldung wert. Reporter hatten nachgezählt und berichtet, dass Sir Barrow 342 Schritte von der Ständigen Vertretung seines Landes zum Europa-Gebäude gehen müsse. Es gab sogar wilde Spekulationen darüber, dass die Zustellung in letzter Sekunde von "Remainers", Befürwortern eines Verbleibs in der EU, sabotiert werden könnte; deshalb würden Ort und Uhrzeit auch geheim gehalten. Donald Tusk ließ jedoch rasch die Luft aus diesen Gerüchten, indem er die Daten kurzerhand veröffentlichte. Die Berichte gaben einen kleinen Vorgeschmack auf das, was in den kommenden Monaten an medialer Begleitung des Verhandlungsprozesses noch folgen sollte. Das konservative Boulevardblatt "Daily Mail" titelte am Tag nach der Übergabe mit nur einem Wort: "Freedom". Anders dagegen der linksliberale "Guardian", dessen skeptische Schlagzeile lautete: "Britain steps into the unknown".

Schritt ins Ungewisse – auch für die Wissenschaft

Aus heutiger Sicht traf der "Guardian" die Sache besser, denn er brachte die Unwägbarkeiten und die teilweise chaotischen Entwicklungen und überdrehten Debatten bis zum vollzogenen Brexit am 31. Januar 2020 auf den Punkt. Aber nicht nur das Vereinigte Königreich und die EU haben mit dem Brexit unbekanntes politisches Terrain betreten – auch die politikwissenschaftliche EU-Forschung ist dadurch gezwungen, sich auf Neuland zu begeben.

Wissenschaftliche Theorien, die sich unterschiedlicher Konzepte, Modelle und Begriffe in ihren Analysen bedienen, sollen Zusammenhänge aufdecken und nachvollziehbare Erklärungen liefern für das, was auf den ersten Blick rätselhaft erscheint. Sie sollen – soweit dies in den Sozialwissenschaften möglich ist – eine "objektive" Bewertung ermöglichen, die in der oftmals hektischen öffentlichen Debatte zu kurz kommt. Theorien sind nach einem Bonmot des Philosophen Karl Popper ein "Netz", das "wir auswerfen, um die ‚Welt‘ einzufangen – sie zu rationalisieren, zu erklären und zu beherrschen". Das Bild vom Fischer, der sein Netz auswirft, verdeutlicht, dass die Wahl einer Theorie gut überlegt und begründet sein sollte. Denn eine Wissenschaftlerin oder ein Wissenschaftler wird ganz unterschiedliche Dinge "fangen", je nachdem, wie das Netz geknüpft ist. So werfen die einen ein weit geknüpftes Netz aus und richten ihr Augenmerk auf das große Ganze, also die sogenannten Makrostrukturen, und arbeiten mit Kategorien wie Staat, Gesellschaft oder Ökonomie. Andere dagegen gehen engmaschiger vor und nehmen die Mikroebene in den Blick; sie beschäftigen sich mit Individuen, zum Beispiel mit der Erforschung des individuellen Wahlverhaltens. Wieder andere konzentrieren sich auf die Mesoebene, die zwischen Makro- und Mikroebene liegt und mit diesen verbunden ist; hier werden zum Beispiel Zusammenschlüsse von Individuen zu Gruppen und kollektiven Akteuren untersucht, etwa politische Parteien oder soziale Bewegungen.

Der Brexit lässt sich auf all diesen Ebenen erforschen und ist in vielerlei Hinsicht ein besonderer Untersuchungsgegenstand. Das fängt schon damit an, dass Anfang und Ende gar so nicht leicht zu bestimmen sind. Wer sich mit dem Thema beschäftigt, ist mit einem in der EU-Forschung typischen Moving-target-Problem konfrontiert. Das heißt, man läuft Gefahr, mit einer dynamischen Entwicklung kaum Schritt halten zu können. Mit dem Ausscheiden Großbritanniens aus der EU am 31. Januar 2020 hat der Brexit-Prozess zwar eine wichtige Etappe erreicht, aber noch längst nicht die Zielmarke des "echten", also kompletten Ausstiegs.

Der britische Austritt liefert der EU-Forschung eine lange Liste von Themen, Fragen und "Rätseln", mit denen es sich zu beschäftigen lohnt. Inzwischen sind ganze Regalmeter mit wissenschaftlicher Brexit-Literatur gefüllt, es gibt eine kaum mehr überschaubare Zahl an Büchern, Aufsätzen in Fachzeitschriften und Policy-Papieren aus den einschlägigen Thinktanks in London, Brüssel oder Berlin. Was die Brexit-Entscheidung aus Sicht der EU-Befürworter so rätselhaft macht, ist der "Angriff auf den modernen europäischen Dreifachkonsens". Jochen Buchsteiner, der London-Korrespondent der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung", hat diesen Konsens so beschrieben: "dass die EU als zivilisatorisches Fortschrittsprojekt, als ‚immer engere Union‘, wie es im Gründungsvertrag heißt, weiterzuentwickeln ist; dass es den Nationalstaat zu schwächen und nicht zu stärken gilt; und dass aufgeklärte demokratische Gesellschaften Wohlstand über kulturelle Identität stellen". Der Brexit werde von vielen wahrgenommen als "Anschlag auf das, was der überwältigende Teil der europäischen Eliten als Vernunft begreift".

Im Brexit scheinen sich viele Herausforderungen, mit denen demokratische Gesellschaften aktuell konfrontiert sind, wie unter einem Brennglas zu verdichten. Auch das erklärt, weshalb der britische EU-Austritt zu einem Megathema wurde und nicht nur die britische Politik beherrschte. Auch die Politik und Berichterstattung auf dem Kontinent waren wochenlang von den Debatten und Abstimmungen über das Austrittsabkommen im britischen Unterhaus dominiert. Die öffentliche Faszination für den britischen Parlamentsbetrieb und seine historischen Traditionen und Akteure wie den Speaker John Bercow, der mit seinen "Order"-Rufen berühmt wurde, und auch die Live-Berichterstattung zur Frage, wie die EU auf die politischen Winkelzüge in Westminster reagieren könnte, erklärt sich mit der These, die der Politikwissenschaftler Tim Oliver aufgestellt hat: Wer den Brexit verstehe, begreife einerseits, wie die britische Politik tickt, und andererseits, wie die EU funktioniert.

Die politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Themen und Herausforderungen, die sich im britischen EU-Austritt verdichten und in der Forschung aufgegriffen wurden, scheinen unerschöpflich. Da geht es zunächst um das Thema Europäische Integration als solche, etwa die Frage, welche Auswirkungen der Brexit auf die Zukunft und Reformperspektiven der EU, auf die europapolitischen Debatten und ihre Narrative ("Vereinigte Staaten von Europa") haben kann. Eine offene Frage ist auch, wie sich die Machtbalance innerhalb der EU verändern wird, wenn ein politisch, militärisch und wirtschaftlich so einflussreicher Staat wie das Vereinigte Königreich die EU verlässt. Zudem stellen sich mit dem Brexit Fragen nach der wechselseitigen Abhängigkeit und "Verwundbarkeit" von Staaten, ihren Gesellschaften und Ökonomien. Von zentraler Bedeutung ist dabei, wie die engen Verflechtungen der britischen mit der kontinentaleuropäischen Wirtschaft (Handelsbeziehungen, Produktions- und Lieferketten) gesichert werden können und welche Formen der Anbindung an den europäischen Binnenmarkt künftig möglich sein werden.

Auch die Rolle und Funktionsweise der öffentlichen Verwaltung ist ein Thema für die Wissenschaft: Der britische Civil Service gilt im internationalen Vergleich bis heute als einer der effizientesten Verwaltungsapparate. Angesichts der massiven Probleme bei der Umsetzung der Brexit-Beschlüsse stellt sich Beobachterinnen und Beobachter nun aber die Frage: Ist die britische Brexit-Politik ein "Fiasko", oder ist es schlicht unmöglich, die sich teilweise widersprechenden Brexit-Ziele unter einen Hut zu bekommen? Der Politikwissenschaftler Nicolai von Ondarza etwa spricht von einem "Nordirland-Trilemma", weil sich das Ziel des vollständigen Austritts aus dem europäischen Binnenmarkt und der Zollunion nicht gleichzeitig mit den anderen beiden Zielen vereinbaren lässt, dass es keine Grenze a) zwischen Nordirland und dem Rest des Vereinigten Königreiches und b) zwischen Nordirland und der Republik Irland geben soll. Nordirland wurde damit zur "Gretchenfrage" eines Brexit-Abkommens.

Weitere Fragen, die sich für die Wissenschaft ergeben haben, sind die nach der Organisation der Austrittsverhandlungen sowie die Rolle politischer Führung (leadership). In Artikel 50 des EU-Vertrages ist das Verfahren, nach dem die Verhandlungen laufen sollen, nur in allgemeiner Form geregelt. Die Details wurden in den "Leitlinien des Europäischen Rates" vom 29. April 2017 festgeschrieben. Da es bei den Verhandlungen vor allem um Fragen der Handelspolitik ging und dieses Politikfeld zu den wenigen Bereichen gehört, in denen die Mitgliedstaaten der EU die Kompetenzen vollständig übertragen haben, war die Europäische Kommission die Verhandlungspartnerin für die Regierung in London. Ein gegenseitiges Ausspielen der 27 EU-Staaten war damit kaum möglich. Mit Michel Barnier, dem Verhandlungsführer auf EU-Seite, und Sabine Weyand, seiner Stellvertreterin, saßen ein ausgewiesener Experte und eine ausgewiesene Expertin für Handelspolitik am Tisch. Die Strategie der EU, alle Verhandlungsdokumente ins Internet zu stellen, trug ebenso dazu bei, dass der britische Ansatz, in bilateralen Unterredungen mit Berlin und Paris die strittigen Fragen zu klären und entsprechende Deals auszuhandeln, ins Leere lief. Und da die britische Regierung unter Theresa May innerparteilich und innenpolitisch kaum Handlungsspielräume besaß, sondern zwischen den Anhängern eines "harten" und "weichen" Brexit hin- und hergerissen war und darüber hinaus unter massivem Druck der UK Independence Party (UKIP) unter Nigel Farage stand, hatte die EU die deutlich besseren Karten in der Hand – sie wurde damit auch zur treibenden Kraft in den Verhandlungen.

Als die May-Regierung bei der Wahl 2017 ihre Mehrheit im Unterhaus verlor und eine Koalition mit der nordirischen Democratic Unionist Party (DUP) eingehen musste, verkleinerte sich der politische Spielraum für May vor allem in der Nordirland-Frage. Denn die DUP konnte, unterstützt von den "Brexiteers" in der Konservativen Partei, den mit der EU ausgehandelten Brexit-Vertrag nicht akzeptieren. Der Stein des Anstoßes war die sogenannte Backstop-Regelung, eine Rückversicherung für die nordirische Provinz, dass sie solange Teil des europäischen Binnenmarktes und der Zollunion bleiben würde, bis das neue Freihandelsabkommen zwischen EU und Großbritannien ausgehandelt war. Mit der DUP hatte May einen zusätzlichen "Verhandlungspartner", der ihr das Leben schwer machte und am Ende dazu beigetragen hat, dass sie aufgeben musste und Boris Johnson an ihre Stelle trat. Schon die Bandbreite an Themen und Fragen, die im Zusammenhang mit dem Brexit diskutiert werden, verdeutlicht, dass es auf keine dieser Fragen eine einfache oder umfassende Antwort gibt.

Ein "verzwicktes Problem"

In den 1970er Jahren entwickelten die Verwaltungs- und Planungsforscher Horst Rittel und Melvin Webber das Konzept der wicked problems. Solche "verzwickten Probleme" (man könnte wicked auch mit "vertrackt", "diffizil" oder "böse" übersetzen) stellen politische Akteure und Planer vor gewaltige und im Prinzip unlösbare Herausforderungen. Sie sind deshalb kaum zu lösen – zumindest nicht mit den üblichen Verfahren und Instrumenten –, weil sie nicht wie schwierige Schachprobleme oder mathematische Ableitungen sind, für die es in der Regel irgendeine Form von Lösung gibt, sondern weil sie eher an die sprichwörtliche Quadratur des Kreises erinnern: "Das Problem lässt sich so lange nicht definieren, bis die Lösung gefunden ist. Die Beschreibung eines vertrackten Problems ist das Problem! Der Prozess, ein Problem zu definieren und eine Lösung (beziehungsweise eine bessere Lösung) zu entwickeln, sind identisch; denn jede Definition und genaue Beschreibung, was das Problem ist, ist gleichzeitig eine Entscheidung für die Richtung, in die die Problemlösung geht." Ob eine Problemdefinition stimmt und eine gefundene Lösung dann tatsächlich zum Erfolg führt, lässt sich – wenn überhaupt – erst mit größerem zeitlichen Abstand beurteilen. Alle Lösungsversuche haben darüber hinaus den Effekt, dass sie unumkehrbar sind. Für derartige Probleme gibt es also nicht nur keine eindeutigen Lösungen, sondern auch keinen Pool an Lösungsmöglichkeiten, sodass es auch keine Musterlösungen geben kann. Daraus resultiert ein hohes Maß an Risiko und Unsicherheit für alle, die sich um eine Lösung bemühen.

Überträgt man diese Annahmen auf den Austrittsprozess des Vereinigten Königreiches aus der EU und die damit verbundenen, ganz unterschiedlichen politischen, rechtlichen und wirtschaftlichen Herausforderungen, dann liegt es auf der Hand, den Brexit als wicked problem zu beschreiben. Der Brexit-Prozess war von Anfang an mit einer Reihe von unknowns verbunden. Viele Fragen und Themen waren "unbekannt" oder nur teilweise bekannt, und oft wusste man zunächst gar nicht, was man nicht wusste – das sind die sogenannten unknown unknowns. Das heißt, viele Fragen und Probleme zum Brexit sind erst im Laufe der Zeit aufgekommen und erst dadurch wurde deutlich, was man trotz der Planungen und Szenarien zunächst übersehen hatte. Die Dauer des gesamten Prozesses, die Art des Austrittsabkommens, die Frage, ob sich das Abkommen an den bekannten Modellen von Freihandelsverträgen orientieren wird (Schweiz-, Kanada- oder Norwegen-Modell), war lange Zeit unklar. Die Frage, ob das Austrittsgesuch von britischer Seite wieder zurückgenommen werden könnte, wurde erst durch ein entsprechendes Urteil des Europäischen Gerichtshofes im Dezember 2018 geklärt. Auch die Frage, ob die britischen Wählerinnen und Wähler an den Europawahlen 2019 teilnehmen oder ob es ein zweites Referendum geben würde – alle diese Fragen kamen erst nach und nach auf.

Schon die Frage, was genau mit "Brexit" gemeint ist, lässt unterschiedliche Antworten zu. Hinter dem Begriff verbirgt sich sehr viel mehr als nur der Austritt des Vereinigten Königreiches aus der EU, der zu einem bestimmten Zeitpunkt erfolgt. Der 31. Januar 2020 markiert zwar formal den politischen Austritt, nicht jedoch den Abschied in wirtschaftlicher Hinsicht. Auf den ersten Blick scheint sich kaum etwas geändert zu haben: Für die Zeit des Überganges (transition) bleibt Großbritannien Teil des europäischen Binnenmarktes – also bis zum Jahresende 2020, sollte es nicht zu einer Verlängerung kommen. In politischer Hinsicht aber hat sich sehr viel geändert: Die britische Regierung hat ihre Vertreter aus den EU-Gremien zurückgezogen, sie nehmen nicht mehr an den Beratungen des Europäischen Rates, des Ministerrates und seinen Ausschüssen teil, das Vereinigte Königreich hat keinen Vertreter mehr in der EU-Kommission, und auch die britischen Abgeordneten im Europäischen Parlament haben ihre Sachen gepackt und Brüssel den Rücken gekehrt. Auf Landkarten der EU ist Großbritannien nun wie die Schweiz oder Norwegen als Drittstaat ausgewiesen, und vor den EU-Gebäuden weht kein Union Jack mehr.

Wie lässt sich der Brexit theoretisch fassen?

So wie es mehrere Theorien zur Expansion des Universums nach dem Urknall gibt, gibt es auch unterschiedliche Theorien und Konzepte zur Analyse des europäischen Einigungsprozesses. Seit den Anfängen der Integration in den 1950er Jahren und mit der Errichtung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (Montanunion) haben sich unter anderem Politikwissenschaftlerinnen und Historiker, Wirtschaftswissenschaftlerinnen und Europarechtler mit der Frage beschäftigt, wie es zu dem freiwilligen Zusammenschluss von zunächst sechs (west-)europäischen Staaten kam. Dieser Prozess des immer engeren Zusammenwachsens wurde schon früh mit dem Begriff "Integration" beschrieben. Integration umfasst in diesem Zusammenhang die regional und (zunächst) auf einzelne Politikfelder beschränkte intensive Zusammenarbeit zwischen Staaten sowie – als Institutionalisierung und Verrechtlichung dieser Kooperation – die Errichtung von "überstaatlichen" Strukturen, Institutionen und Entscheidungsverfahren. Um diesen Prozess der supranationalen Integration erklären und analysieren zu können, hat die Politikwissenschaft, auf die ich mich hier beschränke, früh damit begonnen, Theorien zu entwickeln beziehungsweise klassische Ansätze wie den Funktionalismus zum Neofunktionalismus weiterzuentwickeln. Die verschiedenen Theorien repräsentieren zugleich unterschiedliche "Erzählungen" des Prozesses. Große Projekte in der Integrationsgeschichte, wie etwa der Binnenmarkt, die EU-Reformprozesse seit den 1990er Jahren oder die Osterweiterung in den Jahren 2004 und 2007 boten die Chance, diese Theorien zu testen und neue zu entwerfen. Die Integrationstheorien können entsprechend auch genutzt werden, um den Brexit-Prozess zu erklären oder einzuordnen. Manche sehen im Brexit gar eine "faszinierende Fallstudie" für künftige Generationen von EU-Forscherinnen und Wissenschaftlern, die sich mit der Politik in Großbritannien beschäftigen.

Großtheorien wie der klassische Realismus und – daraus abgeleitet – der liberale Intergouvernementalismus aus dem Bereich der Internationalen Beziehungen gehen davon aus, dass Staaten und ihre Regierungen egoistisch-rational handelnde Akteure sind und das, was sie beziehungsweise ihre gesellschaftlichen und ökonomischen Akteure (etwa Wirtschaftsverbände und Gewerkschaften) als Interessen definieren, in internationalen Verhandlungen durchzusetzen suchen. Eine zentrale Frage in den Brexit-Verhandlungen war der uneingeschränkte Zugang der Finanzdienstleister auf den europäischen Markt. Die Londoner City als das Finanzzentrum, die Regulierungsbehörden und die britische Regierung waren Teil eines "Zwei-Ebenen-Spiels" – sie mussten zunächst in internen Verhandlungen eine Position beziehen, und diese musste, sofern es eine Einigung gab, dann von der britischen Regierung der EU-Kommission, die stellvertretend für die 27 EU-Staaten die Verhandlungen führte, vermittelt werden. Das bedeutet, dass eine Einigung am Verhandlungstisch in Brüssel immer auch davon abhing, ob die britische Regierung den innenpolitischen Rückhalt hatte; denn ohne Mehrheit im Parlament konnte das Austrittsabkommen nicht ratifiziert und umgesetzt werden.

Die Wahrscheinlichkeit einer internationalen Einigung steht und fällt mit dem sogenannten win-set, also der Schnittmenge, die sich aus den unterschiedlichen Präferenzen und Vorstellungen über ein erwünschtes Verhandlungsergebnis ergibt. In diesem staatszentrierten Modell sind die europäischen Regierungen die entscheidenden Spieler. Organisationen wie der EU-Kommission oder dem Europäischen Parlament kommt im Realismus oder Intergouvernementalismus nur eine Nebenrolle zu. Die Annahme, dass politische Akteure grundsätzlich rational handeln oder dass sich traditionell die Interessen von Wirtschaftsverbänden (die in Großbritannien und anderswo mehrheitlich entschieden gegen den Brexit eingestellt waren) durchsetzen, wurde nach Ansicht von Experten durch den Brexit-Prozess widerlegt: Das hohe Maß an Irrationalität und Emotionalität, das den gesamtem Prozess geprägt hat, wird als Argument dafür angeführt, dass Perspektiven, die Fragen der Identitätspolitik und Pro-Brexit-Slogans wie "Let’s take back control" ausblenden, entscheidende Aspekte dieses "verzwickten" Problems nicht erfassen können.

Andere klassische Integrationstheorien wie der Neofunktionalismus setzen hier eigene Akzente und legen den Schwerpunkt auf die Rolle der Brüsseler Akteure. Da die EU-Kommission ein Verhandlungsmandat von den 27 europäischen Regierungen übertragen bekommen hat, hatten Michel Barnier und Sabine Weyand als die Hauptunterhändler auf EU-Seite die Fäden in der Hand und konnten allein schon aufgrund der Vertrautheit mit dem EU-Regelwerk die Verhandlungen dominieren, insbesondere wenn es ums Kleingedruckte ging. Was der EU am meisten zu schaffen machte und in der Theorie des "Zwei-Ebenen-Spiels" nicht vorgesehen ist, war indes eine Regierung, die als Verhandlungspartnerin innenpolitisch so unter Druck stand, dass sie mehr Zeit und Energie für die innerparteiliche Abstimmung zwischen den Anhängern eines "harten" und den Befürwortern eines "weichen" Brexit investieren musste als für die Konsensfindung auf europäischer Ebene. Auch wenn die EU-Mitgliedstaaten in Einzelfragen unterschiedliche Vorstellungen über das Ergebnis der Verhandlungen hatten, gelang es der Kommission immer wieder, Kompromisse zu schmieden.

Karikatur aus der New York Times (© Chapatte, The New York Times, www.chapatte.com)

Der Brexit ist insofern auch ein Testfall für den alten Streit zwischen Intergouvernementalismus und Neofunktionalismus über die Frage, ob die Mitgliedstaaten und ihre Regierungen die alles entscheidenden Akteure in der Brüsseler Politik sind und die EU-Organe nur eine dienende Funktion haben – oder ob supranationale Institutionen wie Kommission und EU-Parlament ihre Spielräume zu nutzen wissen, um gesamteuropäische Lösungen in ihrem Sinne zu ermöglichen. Paradoxerweise spielt gerade auch in der EU-Krisenpolitik, in der die Staats- und Regierungschefs wichtige Themen häufig zur Chefsache machen, der Brüsseler "Maschinenraum" unter Führung der EU-Kommission eine zentrale Rolle. Der Brexit-Prozess hat dies bestätigt, denn die Kommission hat durch ihre Form von leadership maßgeblich dazu beigetragen, dass die EU-27 im Unterschied zur britischen Regierung in den Verhandlungen deutlich geschlossener und überzeugender auftreten konnte. Auch das Europäische Parlament hat sich erfolgreich als Mitgestalter und Begleiter der Brexit-Verhandlungen positioniert. Da das Austrittsabkommen auch vom Straßburger Parlament mehrheitlich unterstützt werden musste, hätte man am Ende, wenn sich die Verhandlungen in eine ungewünschte Richtung bewegt hätten, noch ein Druckmittel in der Hand gehabt.

Ausblick

Der Brexit-Prozess hat viele aufschlussreiche Einblicke in die britische und die EU-Politik gewährt, sodass die oben zitierte These, wer den Brexit versteht, verstehe auch das politische System Großbritanniens und der EU, nachvollziehbar ist. Die vorliegende Forschung zum Thema Brexit hat ihr Augenmerk auf die unterschiedlichen Ebenen (Makro, Meso und Mikro) gerichtet und auch manche blinde Flecken aufgedeckt, wie etwa die Frage nach den Auswirkungen des Brexit auf soziale Rechte für Frauen und die Folgen für die Gleichstellungspolitik in Großbritannien.

Die Erfahrungen des Austritts eines Landes aus der EU werden auch Folgen für den Integrationsprozess insgesamt haben, nicht zuletzt deshalb, weil sich Entwicklungen in der Europapolitik aus den vergangenen Jahren verdichtet und verstärkt haben. Dazu gehört vor allem das Phänomen der "Desintegration": Viele Expertinnen und Experten haben den Brexit aus nachvollziehbaren Gründen als ein Beispiel für die schon länger zu beobachtenden zentrifugalen Kräfte in der EU beschrieben. Gleichzeitig wurde im Zuge des Brexit-Prozesses der Zusammenhalt innerhalb der EU-27 gestärkt – die Sorge, der Brexit werde eine Kettenreaktion auslösen und in anderen Ländern die Debatten um einen Ausstieg aus der EU befeuern, scheint unbegründet gewesen zu sein. Der Brexit-Prozess hat auch ein Schlaglicht auf die britische Politik und Gesellschaft geworfen: Das "Brexit-Drama" und die tiefe Spaltung, die sich in und zwischen den Gesellschaften des Vereinigten Königreiches gezeigt hat, wird die britische Politik noch lange prägen.

Zugleich haben die Verhandlungen um ein Austrittsabkommen gezeigt, dass die EU diese Krise auf den ersten Blick besser bewältigen konnte als die – ebenfalls noch nicht gelösten – Krisen der Eurozone, der Migrationspolitik und der Rechtsstaatlichkeit in Polen und Ungarn. Der Brexit war und ist aber mehr als eine weitere Baustelle, die die EU und vor allem die britische Politik über Monate hinweg in Beschlag genommen hat. Dabei wurden andere Themen, die die Zukunft der EU bestimmen werden, teilweise verdrängt, obwohl sie eng mit dem Brexit zusammenhängen. Zu diesen Herausforderungen zählen das transatlantische Verhältnis, die (sicherheits-)politischen und wirtschaftlichen Beziehungen zu Russland und China, die Zukunft der Weltwirtschaft, Themen wie Zuwanderung, Klimawandel, Konflikte, Digitalisierung, Künstliche Intelligenz, gesellschaftliche Polarisierung und vieles andere mehr. Die Komplexität und Kompliziertheit der Themen und Herausforderungen, die sich hinter dem Begriff "Brexit" verbergen, haben den Scheidungsprozess zu einem echten Stresstest für die britische Politik und die gesamte EU gemacht.

Weil alles gewissermaßen mit allem zusammenhängt und häufig unklar geblieben ist, wie eine Lösung des entstandenen Knotens aussehen könnte, ist der Brexit zu Recht als wicked problem beschrieben worden. Mit der Corona-Pandemie, die seit Anfang des Jahres 2020 die gesamte Welt in Atem hält und sich als ein weiteres "verzwicktes Problem" herausstellt, ist ein neues Thema auf die Tagesordnung gekommen, das den Brexit und die Verhandlungen über die langfristigen Beziehungen zwischen Großbritannien und der EU-27 in den Schatten stellt. Nachdem die beiden Verhandlungsführer auf britischer und EU-Seite, David Frost und Michel Barnier, wegen einer Infizierung mit dem neuartigen Coronavirus wochenlang in Quarantäne waren, konnten die Verhandlungen am 15. April 2020 wieder aufgenommen werden – den Umständen entsprechend als Videokonferenz. Ob solche Online-Formate das Ergebnis und den Erfolg von Verhandlungen in irgendeiner Weise beeinflussen, ist ein interessantes wissenschaftliches "Rätsel" für künftige EU-Forschungen. Zunächst aber bleibt abzuwarten, ob es bis Ende 2020 tatsächlich gelingen wird, die Modalitäten und Einzelheiten der künftigen Partnerschaft auszuverhandeln.

Ich danke Ann-Katrin Watjer für ihre Hilfe bei der Recherche.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Tim Oliver, Understanding Brexit. A Concise Introduction, Bristol 2018, S. 73–98; Sarah Hobolt, The Brexit Vote: A Divided Nation, a Divided Continent, in: Journal of European Public Policy 9/2016, S. 1259–1277; Roland Sturm, Uneiniges Königreich? Großbritannien nach dem Brexit-Votum, in: APuZ 49–50/2016, S. 17–23.

  2. Vgl. Barbara Lippert/Nicolai von Ondarza, Der Brexit als Neuland. Mit dem britischen Referendum beginnt ein komplexer Austrittsprozess – und vielleicht die Erweiterung der EU, Stiftung Wissenschaft und Politik, SWP-Aktuell 42/2016.

  3. Karl Popper, Logik der Forschung, Tübingen 19848, S. 31.

  4. Vgl. Patrick Diamond/Peter Nedergaard/Ben Rosamond (Hrsg.), The Routledge Handbook of the Politics of Brexit, London–New York 2019; Tim Oliver, Brexitology: Delving into the Books on Brexit, in: International Politics Reviews 1/2019, S. 1–24; Kevin O’Rourke, A Short History of Brexit. From Brentry to Backstop, London 2019.

  5. Jochen Buchsteiner, Die Flucht der Briten aus der europäischen Utopie, Reinbek 2018, S. 12f.

  6. Vgl. Oliver (Anm. 4), S. 1. Zum Folgenden vgl. ebd.; Federico Fabbrini (Hrsg.), The Law & Politics of Brexit, Oxford 2017; Kenneth A. Armstrong, Brexit Time, Cambridge 2017.

  7. Vgl. Federico Fabbrini, Brexit and EU Treaty Reform: A Window of Opportunity for Constitutional Change?, in: ders. (Anm. 6), S. 267–291; Uwe Puetter, Brexit and EU Institutional Balance: How Member States and Institutions Adapt Decision-Making, in: ebd., S. 247–265; Max Haller, The Dream of the United States of Europe. An Ambitious Scenario Challenged by the Brexit, Österreichische Gesellschaft für Europapolitik, ÖGfE Policy Brief 22/2019.

  8. Vgl. Jeremy Richardson/Berthold Rittberger, Brexit: Simply an Omnishambles or a Major Policy Fiasco?, in: Journal of European Public Policy 5/2020, S. 649–665.

  9. Nicolai von Ondarza, Tanz auf der Brexit-Klippe, SWP-Aktuell 55/2018, S. 2.

  10. Zu den "roten Linien", die die beteiligten Akteure in den Verhandlungen gezogen haben, vgl. House of Commons Library, Brexit: Red Lines and Starting Principles, Briefing Paper 7938, 21.6.2017, Externer Link: https://commonslibrary.parliament.uk/research-briefings/cbp-7938. Zu den Verhandlungen vgl. den Insiderbericht von Lode Desmet/Edward Stourton, Blind Man’s Brexit: How the EU Took Control of Brexit, London u.a. 2019.

  11. Horst W. Rittel/Melvin M. Webber, Dilemmas in a General Theory of Planning, in: Policy Sciences 2/1973, S. 155–169, hier S. 161 (eig. Übersetzung).

  12. Vgl. John Erik Fossum, Can Brexit Improve Our Understanding of "Wicked Problems"?, in: European Policy Analysis 1/2019, S. 99–116.

  13. Vgl. House of Commons Library, Brexit Unknowns (Update), Briefing Paper 8408, 26.9.2018, Externer Link: https://commonslibrary.parliament.uk/research-briefings/cbp-8408.

  14. Vgl. u.a. Hans-Jürgen Bieling/Marika Lerch (Hrsg.), Theorien der europäischen Integration, Wiesbaden 20123; Frank Schimmelfennig, Theorien der europäischen Integration, in: Peter Becker/Barbara Lippert (Hrsg.), Handbuch Europäische Union, Wiesbaden 2020, S. 3–25; Antje Wiener/Tanja A. Börzel/Thomas Risse (Hrsg.), European Integration Theory, Oxford 20193.

  15. Vgl. Ernst B. Haas, The Uniting of Europe. Political, Social, and Economic Forces 1950–1957, London 1958; Ludolf Herbst, Die zeitgenössische Integrationstheorie und die Anfänge der europäischen Einigung 1947–1950, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 2/1986, S. 161–205.

  16. Vgl. Patrick Lequesne, Brexit and the Future of EU Theory, in: Patrick Diamond/Peter Nedergaard/Ben Rosamond (Hrsg.), The Routledge Handbook of the Politics of Brexit, London–New York 2019, S. 290–297; Oliver (Anm. 1), S. 8–11.

  17. Tim Oliver/Alex Boyle, Brexit is a Fascinating Case Study for the Next Generation of Students and Teachers of British and European Politics, 7.7.2017, Externer Link: https://blogs.lse.ac.uk/brexit/2017/07/07.

  18. Vgl. Scott James/Lucia Quaglia, The Brexit Negotiations and Financial Services: A Two-Level Game Analysis, in: The Political Quarterly 4/2018, S. 560–567.

  19. Vgl. Andrew Gamble, Taking Back Control: The Political Implications of Brexit, in: Journal of European Public Policy 8/2018, S. 1215–1232; Theresa Kuhn, Grand Theories of European Integration Revisited: Does Identity Politics Shape the Course of European integration?, in: Journal of European Public Policy 8/2019, S. 1213–1230.

  20. Vgl. Alan McConnell/Simon Tormey, Explanations for the Brexit Policy Fiasco: Near-Impossible Challenge, Leadership Failure or Westminster Pathology, in: Journal of European Public Policy 5/2020, S. 685–702.

  21. Vgl. Derek Beach/Sandrino Smeets, New Institutionalist Leadership – How the New European Council-Dominated Crisis Governance Paradoxically Strengthened the Role of EU Institutions, in: Journal of European Integration, 3.1.2020, Externer Link: https://doi.org/10.1080/07036337.2019.1703966.

  22. Vgl. Ed Turner et al., Negotiating as One Europe or Several? The Variable Geometry of the EU’s Approach to Brexit, in: Contemporary Social Science 2/2019, S. 226–241; Carlos Closa, Inter-Institutional Cooperation and Intergroup Unity in the Shadow of Veto: The Construction of the EP’s Institutional Role in the Brexit Negotiations, in: Journal of European Public Policy 4/2020, S. 630–648.

  23. Vgl. Roberta Guerrina/Annick Masselot, Walking into the Footprint of EU Law: Unpacking the Gendered Consequences of Brexit, in: Social Policy & Society 2/2018, S. 319–330.

  24. Vgl. Frank Schimmelfennig, Brexit: Differentiated Disintegration in the European Union, in: Journal of European Public Policy 8/2018, S. 1154–1173.

  25. Vgl. Thierry Chopin/Christian Lequesne, Disintegration Reversed: Brexit and the Cohesiveness of EU27, in: Journal of Contemporary European Studies, 9.2.2020, Externer Link: https://doi.org/10.1080/14782804.2020.1714560.

  26. Vgl. Fossum (Anm. 12).

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ist promovierter Politikwissenschaftler und Akademischer Oberrat am Institut für Politikwissenschaft der Eberhard-Karls-Universität Tübingen. E-Mail Link: grosse-huettmann@uni-tuebingen.de