Die neue EU-Kommission unter Ursula von der Leyen hat sich dem Ziel eines klimaneutralen Kontinents bis 2050 verschrieben. Da der von ihr angekündigte "Green Deal" nicht nur die EU umfasst, sondern von Europa spricht, ist dabei sowohl die Binnen-, als auch die Außendimension zu berücksichtigen. Die Ende November 2019 gewählte Kommission möchte in ihrer Amtszeit bis 2024 eine globale Führungsrolle der EU umsetzen und geopolitisch agieren. Der "Green Deal" steht außerdem für die neue Wachstumsstrategie der EU. Die Energietransformation in Europa ist somit ein prioritäres Ziel, denn dort sind große Einsparungen klimaschädlicher Emissionen zu erreichen.
Diese Baustelle ist nicht neu: Schon unter von der Leyens Vorgänger Jean-Claude Juncker war die Energieunion eine der zehn Prioritäten der Kommission. Der Blick zurück verdeutlicht die Herausforderungen, vor denen die EU-Kommission in der Energiepolitik steht, denn häufig überdecken Formelkompromisse substanzielle Differenzen nur unzureichend. Der Blick nach vorn ist durch die Corona-Pandemie getrübt, die die Uneinigkeiten in Europa noch verstärken kann, das Prinzip der Solidarität weiter aufgeladen hat und deren Bewältigung große politische und finanzielle Ressourcen binden wird.
Große Herausforderungen
Mit dem europäischen "Green Deal"
Zu den Hauptkomponenten zählen 2020 ein Vorschlag für ein Klimagesetz, das das Ziel der CO2-Neutralität bis 2050 festschreibt; der Just Transition Mechanism, der auch einen Fonds umfasst, der die Folgen der wirtschaftlichen Umstellung auf Klimaneutralität und Kreislaufwirtschaft abfedern soll. Vor allem aber sieht der European Sustainable Investment Plan die Bereitstellung von Finanzmitteln von einer Billion Euro in den Umbau des Wirtschafts- und Energiesystems bis 2030 vor.
In der engeren Energie- und Klimapolitik ist geplant, bestehende Mechanismen nachzujustieren: So sollen die Reduktionsziele bei den klimaschädlichen Emissionen bis 2030 auf minus 50 Prozent gegenüber dem Emissionsniveau von 1990 nach oben gesetzt, das Emissionshandelssystem (ETS) in der EU "wo nötig" im Energie- und Industriesektor überprüft und eventuell auf den Transport- und Gebäudesektor ausgeweitet sowie die Ziele der Mitgliedstaaten in Sektoren außerhalb des ETS überprüft werden. In die Mobilitätsstrategie sollen weitere Maßnahmen integriert werden, die den Transport über Land, Wasser und Luft nachhaltiger gestalten – unter anderem durch sauberere Kraftstoffe sowie den Ausbau der Elektroladeinfrastruktur und des Schienentransports.
Außerdem nimmt der "Green Deal" die Nahrungsmittelproduktion und Landwirtschaft sowie die Chemieindustrie in den Fokus. Nicht zuletzt müssen darüber hinaus noch Strategien und Maßnahmen zur Förderung grüner Investitionen aus privater und öffentlicher Hand entwickelt werden. Kurz: Es geht es um eine neue Wachstumsstrategie, die die europäische Wirtschaft nachhaltiger und resilienter machen und sie in Einklang mit den Pariser Klimazielen bringen soll. Die EU steht damit vor einer "großen Transformation" in einer Art und Weise, wie sie der Wirtschaftshistoriker und Sozialwissenschaftler Karl Polanyi beschrieb – sie soll und wird das politische, wirtschaftliche und soziale Miteinander von Grund auf verändern und ist mit enormen Strukturbrüchen, Umverteilungseffekten und Systemumwälzungen verbunden.
Angesichts der präzedenzlosen Umbauaufgabe schlagen hohe Vorab-Investitionen zu Buche, auch wenn die langfristigen Transformationsdividenden von menschlicher Sicherheit und Gesundheit bis zu geringen operativen Kosten von erneuerbaren Energien reichen, die quasi zum Nulltarif zu ernten sind. Hier stellt sich die Frage nach europäischer Wettbewerbsfähigkeit ganz akut, während auf lange Sicht aus einem erfolgreichen grünen Wachstumsmodell große Chancen erwachsen. Der europäische "Green Deal" erfolgt in einer Zeit, in der die Weltwirtschaft durch wachsende geoökonomische Rivalitäten und vor allem US-amerikanisch-chinesische Konkurrenz geprägt ist. Das trägt nicht nur zur wachsenden Erosion der liberalen Ordnung und ihres Regelsystems bei, sondern auch zur Orientierung auf kurzfristige relative Wettbewerbsvorteile.
Für die EU hat dies weitreichende Konsequenzen, denn als Rechtsgemeinschaft ist sie auf eine regelbasierte, normgebundene Umwelt ausgerichtet. Zudem ist der EU-Binnenmarkt in die globalisierte Weltwirtschaft, die internationale Arbeitsteilung und wechselseitige Abhängigkeiten eingebunden. Nun aber verstärken sich Tendenzen von Entkopplung, Deglobalisierung und Protektionismus. Wirtschaftliche Stärke und technologische Vorherrschaft werden als Machtwährung verstanden und instrumentalisiert. Vor allem aber kommen der EU die großen Partner für Klimaschutz und Energietransformation abhanden. Die Fokussierung auf nationale Interessen lässt die Zusammenarbeit für das Gemeinwohl und globale öffentliche Güter wie das Klima verkümmern.
Bei der Krise des Multilateralismus fällt vor allem die schwächelnde transatlantische Partnerschaft ins Gewicht. US-Präsident Trump verfolgt einen protektionistischen Kurs des "America First" und hat von der Rolle der Weltordnungsmacht Abschied genommen. Die EU muss deswegen eine Führungsrolle einnehmen, um eine bessere globale Ordnung zu schaffen, für offenen und fairen Handel einzutreten und das Klima zu schützen, was eine geopolitisch denkende und agierende Europäische Kommission erfordert.
Allerdings sah auch schon Jean-Claude Juncker 2016 die Energieunion mit ihrem Binnenmarkt und der Energietransformation nach einem Jahrzehnt der Krisen als eine Grundlage für Wachstum und sozioökonomischen Zusammenhalt.
Eine Baustelle, mehrere Pläne und viele Architekten
Über zwei Jahrzehnte lang war das Leitbild für die EU-Energiepolitik das strategische Zieldreieck von Klima- und Umweltverträglichkeit, Wettbewerbsfähigkeit und Versorgungssicherheit. Mitunter wurde das Dreieck auch eher als Trilemma gesehen, da Maßnahmen, um ein Ziel zu erreichen, ein anderes Ziel konterkarieren können. So wird häufig die Verwendung heimischer Braunkohle mit Versorgungssicherheit begründet, was aber gleichzeitig negative Auswirkungen auf das Klima hat.
Die Mitgliedstaaten haben innerhalb dieses Zieldreiecks unterschiedliche Präferenzen, die die jeweiligen nationalen Ausgangsbedingungen im Energiemix, die historisch-technischen Gegebenheiten und die wirtschaftliche Ausgangslage widerspiegeln.
Hinzu kommt, dass sich die Energiepolitik langsam entwickelt hat und im Laufe der Jahre neue Mitgliedsländer mit unterschiedlichen historischen Erfahrungen und Zukunftsvorstellungen hinzugekommen sind. Stand 1951 am Beginn der europäischen Integration die gemeinsame Kontrolle über die auch militärisch-strategisch bedeutsamen Sektoren Kohle und Stahl sowie 1957 die Europäische Atomgemeinschaft (Euratom), um die Sicherheit und Kontrolle radioaktiver Materialien und die friedliche Nutzung der Kernenergie zu gewährleisten, so geriet die Energiepolitik danach für viele Jahre aus dem Fokus. Die Strom- und Gasinfrastruktur wurde von den Mitgliedstaaten als strategisch wertvolles öffentliches Gut aufgebaut, ausgebaut und betrieben.
Die Umwelt wurde mit dem Vertrag von Amsterdam 1997 zu einem Zuständigkeitsbereich der EU und das Umweltkapitel zum rechtlichen Bezugspunkt für erneuerbare Energien und die Einführung des Emissionshandelssystems 2005. Energiesicherheit schaffte es sehr spät auf die Agenda. Nach der Osterweiterung 2004 trieben die neuen Mitgliedstaaten das Thema voran, und so wurde Energiesicherheit 2005 zu einem gleichrangigen Ziel mit Wettbewerbsfähigkeit und Nachhaltigkeit.
Erst 2009, mit Inkrafttreten des Lissabon-Vertrages, wurde Energie überhaupt ins Primärrecht aufgenommen (Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union, AEUV). Damit ging auch eine Kompetenzverlagerung einher: Seitdem ist die Energiepolitik zu einer geteilten Zuständigkeit zwischen der Union und den Mitgliedstaaten geworden. In Rückbesinnung auf die Ziele des Binnenmarktes sowie der Erhaltung und Verbesserung der Umwelt sind in Artikel 194 Absatz 1 AEUV folgende Ziele festgelegt: a) Sicherstellung des Funktionierens des Energiemarktes, b) Gewährleistung der Energieversorgungssicherheit in der Union, c) Förderung der Energieeffizienz und von Energieeinsparungen sowie Entwicklung neuer und erneuerbarer Energiequellen und d) Förderung der Verbindung der Energienetze.
Darüber hinaus wurde das Solidaritätsprinzip in Artikel 122 AEUV zum Bestandteil des europäischen Primärrechts. Gleichzeitig aber behalten die Mitgliedstaaten nach Artikel 194 Absatz 2 AEUV das Recht, souverän über ihren Energiemix zu entscheiden: "Diese Maßnahmen berühren (…) nicht das Recht eines Mitgliedstaats, die Bedingungen für die Nutzung seiner Energieressourcen, seine Wahl zwischen verschiedenen Energiequellen und die allgemeine Struktur seiner Energieversorgung zu bestimmen." Der Artikel 194 AEUV schafft also ein gewisses Spannungsverhältnis, denn Energiepolitik wird immer noch von der nationalen Politik und den Präferenzen der Mitgliedstaaten dominiert, die unterschiedliche Prioritäten, Steuerungsinstrumente und Eigentumsverhältnisse aufweisen.
Im "Green Deal" wird letztlich Energiepolitik nicht mehr in drei gegenüberliegenden Zielen, sondern in überlappenden Kreisen gedacht.
Energieunion: Fundament für den Green Deal?
Die Idee, eine Energieunion zu schaffen, wurde vom damaligen polnischen Premierminister Donald Tusk in Reaktion auf die russische Annexion der Krim 2014 politisch lanciert. Tusk griff eine vier Jahre alte Idee des ehemaligen Kommissionspräsidenten Jacques Delors und des damaligen Präsidenten des Europäischen Parlaments Jerzy Buzek auf, um die mittel- und osteuropäischen Mitgliedstaaten besser in eine gemeinsame Energiesicherheitsordnung zu integrieren.
Im Februar 2015 leitete Jean-Claude Juncker dann die Schaffung der Energieunion ein.
Energiesicherheit sowie Solidarität und Vertrauen;
vollständige Integration des Energiebinnenmarktes;
Verbesserung der Energieeffizienz;
Klimaschutz und Dekarbonisierung der Wirtschaft (nicht zuletzt durch den verstärkten Einsatz erneuerbarer Energien);
Forschung, Innovation und Wettbewerbsfähigkeit.
In der politischen Praxis wurde allerdings immer deutlicher, wie weit die Positionen der Mitgliedstaaten auseinanderlagen, von der Konzentration auf Energiesicherheit bis zur starken Betonung von Energieeffizienz und Klimawandel.
Mit dem sogenannten Winterpaket 2016 "Saubere und sichere Energie für alle Europäer" leitete die Kommission einen Paradigmenwechsel ein: von der Versorgungssicherheit hin zum Endverbraucher. Verbraucherrechte wurden gestärkt, aber auch die Energieeffizienz, zum Beispiel von Gebäuden, wurde stärker in den Fokus genommen. In der Folge wurde bis Anfang 2019 eine ganze Reihe von Verordnungen und Richtlinien verabschiedet.
2016 hatte die Kommission zudem ein Paket zur nachhaltigen Energiesicherheit
Nord Stream 2: Kompetenzgerangel und veränderte Leitprinzipien
Die Ankündigung des "Nord Stream 2"-Projektes im Sommer 2015 durch Gazprom und eine Reihe europäischer Gasfirmen war nicht nur wegen des Zeitpunktes geopolitisch sehr sensibel – die Annexion der Krim war erst ein Jahr her und die Energieunion bereits in Planung –, sondern auch, weil die neue Pipeline, die fast parallel zur "Nord Stream 1" durch die Ostsee verlaufen soll, dazu beitragen wird, den Transit durch die Ukraine zu umgehen oder zumindest zu reduzieren.
Während eine Reihe von Mitgliedstaaten, darunter auch der Anlandestaat Deutschland, immer den wirtschaftlichen Charakter der Pipeline hervorgehoben haben, nahmen andere das Projekt vor allem durch die geopolitische Linse und als widersprüchlich zu den Diversifizierungsbemühungen der EU wahr. Die Konfliktlinien verlaufen tief und quer durch die EU. Polen, die baltischen Staaten und die nordischen Länder wurden in ihren Bemühungen, das Projekt zu stoppen, zum Teil von der Kommission in Brüssel, aber vor allem von den USA unterstützt. Ende 2019 kam denn auch der Bau der Pipeline infolge nochmals verschärfter US-Sanktionen erstmal zum Stopp.
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Im Zusammenhang mit "Nord Stream 2" gab es zudem Kompetenzgerangel zwischen Berlin und Brüssel hinsichtlich der Frage, ob und wie die Regeln des Dritten Binnenmarktpaketes, das 2009 in Kraft getreten ist, über das EU-Territorium hinaus in Hoheitsgewässern und ausschließlichen Wirtschaftszonen anzuwenden wären beziehungsweise ausgedehnt werden könnten. Während Deutschland davon ausging, dass die Pipeline als ein Interkonnektor, der Russland mit dem EU-Markt verbindet, internationalem Recht auf See und dann deutscher Jurisdiktion unterliegen würde, beharrte die Kommission darauf, die Pipeline den Entflechtungsregeln des Dritten Binnenmarktpaketes zu unterwerfen. Laut diesen Regeln müssen Rohrleitungen unabhängig betrieben werden und Zugang für Dritte gewähren. Deutschland zog sich damit auf den rechtlichen Status quo zurück, die EU Kommission stellte die politischen Ziele der Energieunion von Sicherheit, Solidarität und Vertrauen in den Mittelpunkt. Jenseits des rechtlichen Kompetenzgerangels ging es inhaltlich darum, ob die Pipeline überhaupt gewollt ist und wie der Bau verhindert werden könne beziehungsweise wirtschaftlich unattraktiv würde. Diese Fragen rührten in letzter Konsequenz an Substanz und Ziele von Regulierung. In der Vergangenheit war es um die Schaffung eines integrierten Wettbewerbsmarktes gegangen, nun wurden auch außen- und sicherheitspolitische Erwägungen einbezogen.
"Nord Stream 2" ist somit zu einem Dreh- und Angelpunkt für die diffuse Autorität und geteilte Kompetenzen in der EU geworden:
Im Februar 2019 wurde schließlich eine Änderung der Gasrichtlinie verabschiedet, die das Dritte Binnenmarkpaket entsprechend ausdehnt und drei Möglichkeiten vorsah: entweder seine Umsetzung in den Küstengewässern der EU, eine Freistellung von der Regulierung oder eine Ausnahmegenehmigung für geplante Pipelines. Im Ergebnis überbrückte die Kommission die Kluft zwischen den Mitgliedstaaten, aber auf Kosten der Politisierung des regulatorischen Instrumentariums und der Ausweitung ihrer Autorität auf die externe Energiesicherheit.
"Nord Stream 2" ist auch mit Blick auf die Verrechtlichung des Solidaritätsprinzips von Bedeutung: Im Rahmen des Pakets zur nachhaltigen Energiesicherheit wurde in der neuen Verordnung über Maßnahmen zur Gasversorgungssicherheit das Solidaritätsprinzip erstmals in das Sekundärrecht eingeführt.
In der Debatte um "Nord Stream 2" gewann auch die Diskussion, inwieweit neue fossile Infrastrukturen angesichts des Pariser Klimaschutzabkommen überhaupt noch gebaut werden sollten, vor allem in Deutschland an Fahrt.
Ausblick
Aus dem Blick zurück Schlüsse für die Zukunft zu ziehen, fällt angesichts der Pandemie und der damit verbundenen großen Unwägbarkeiten schwer. Mit Ausblick auf die kommenden Monate und Jahre lässt sich aber sagen, dass das skizzierte Spannungsverhältnis zwischen "Green Deal" und "Nord Stream 2" in seinen Facetten die Energiepolitik der EU weiterhin prägen wird.
Der "Green Deal" bietet die Möglichkeit, Klima-, Energie-, Industrie- und Technologiepolitik strategisch zusammenzudenken. Gleichzeitig muss auch für den Übergangszeitraum die Versorgung mit fossilen Brennstoffen weiter gewährleistet werden, ohne diese zu perpetuieren. Nun hat die Pandemie die Kommission zurück in den Krisenmodus des vergangenen Jahrzehnts geworfen. Aber es gibt dennoch und umso bessere Gründe, Nachhaltigkeit und Resilienz zu wichtigen Kriterien für den geforderten Marshall-Plan zu machen. Gerade wenn staatliche Gelder in Industrien und Sektoren fließen, werden transparente Umwelt- und Klimakriterien zugrunde gelegt werden müssen.
Die EU muss sich in einer zunehmend von Rivalitäten geprägten Weltwirtschaft behaupten. Solidarität wiederum bedingt eine gerechte Energiewende, die dem Versprechen vom grünen Wachstum und grünen Jobs auch Fakten folgen lassen muss. Für die Zukunft Europas ist das unabdingbar. Die liberale Ordnung ist nicht nur global unter Druck, sondern wird auch im Inneren der EU ausgehöhlt, und allzu oft fallen die Konfliktlinien Nationalismus und Populismus mit Klimaskepsis und konservativer Energiepolitik zusammen.