London, Mitte Mai 2020: Das Wembley-Stadion ist geschlossen, und auch die Betonlandschaft rund um das englische Nationalstadion ist menschenleer. Statt dem üblichen Fluglärm erfüllt seit Wochen vor allem Vogelgezwitscher die Luft. Hier sollte eigentlich am 12. Juli das Finale der Fußball-Europameisterschaft stattfinden. Doch selbst wenn die berühmte Kurve der Infektionen mit dem neuartigen Coronavirus bis dahin ihren Höhepunkt erreicht haben und sich endlich nach unten neigen sollte, ist längst entschieden: Die EM wird um ein Jahr verschoben. Aber auch 2021 dürfte das Turnier ein ganz anderes werden, als man sich ursprünglich gedacht hatte. Alles hängt von epidemiologischen Fakten ab, die derzeit noch keineswegs feststehen. Zugleich hält die britische Regierung noch immer an ihrer Fantasie vom zweiten diesjährigen Londoner Finale fest, nämlich dass die Übergangsphase bis zum endgültigen Brexit planmäßig am 31. Dezember 2020 enden muss. Die letzte Entscheidung darüber soll im Juni getroffen werden. Genau wie beim Fußball wird jedoch das Virus darüber bestimmen, was als nächstes geschieht.
Im November 2018 gingen Experten der britischen Verwaltung davon aus, dass die britische Wirtschaft, gemessen am Bruttoinlandsprodukt, durch einen Brexit ohne Abkommen mit der EU in 15 Jahren um 7,7 Prozent schrumpfen würde. Im Vergleich zur vermuteten Entwicklung mit einem Abkommen wäre das eine schlechte, aber keine katastrophale Perspektive, hieß es damals. Und sogar noch im März 2020 war vom britischen Rechnungshof zu hören, dass es durch Steueranreize und einen höheren Mindestlohn möglich wäre, in diesem Jahr ein Wirtschaftswachstum von 1,1 Prozent zu erreichen, trotz Coronavirus. Inzwischen haben wir alle Prognosen in den Wind geschlagen. Die Weltwirtschaft ist auf einer steilen Talfahrt. Zwar hat die britische Regierung 330 Milliarden Pfund für zinsgünstige Darlehen und unbegrenzte Mittel zur Aufstockung der Löhne von Arbeitern und Angestellten zugesichert, aber über das ganze Jahr gesehen könnte die britische Wirtschaftsleistung 2020 um sieben Prozent zurückgehen. Das fiskalische und geldpolitische Arsenal, das eigentlich für eine Krise nach einem harten Brexit gedacht war, ist längst überstrapaziert. Genau wie die Bestände an Masken und Medikamenten, die derzeit durch das Gesundheitsministerium verteilt werden, war es ursprünglich für einen harten Brexit gedacht.
Schon für eine wachsende Wirtschaft wäre es ein perverser Akt der Selbstverletzung, freiwillig eine langfristige Wachstumseinbuße von sieben Prozent hinzunehmen. Dies sogar mit einer schrumpfenden Wirtschaft zu tun, die durch finanzielle Schockwellen akut gefährdet ist, grenzt an Wahnsinn. Doch genau das ist das Problem: Der Wahnsinn hat dieses Land inzwischen fest im Griff, und er wütet nicht nur in der politischen Klasse, sondern er hat auch große Teile der Bevölkerung erfasst. Premierminister Boris Johnson war davon ausgegangen, dass er durch die Abspaltung von der EU die Weltmärkte mit der Brechstange neu ordnen könne. Tatsächlich ist es nun ein Fledermausvirus, das diese Neuordnung in Angriff genommen hat, und wieder einmal ist das Schicksal des Vereinigten Königreiches wohl oder übel von der weiteren Entwicklung des europäischen Projekts abhängig.
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Der erste britische Covid-19-Fall wurde am 31. Januar 2020 diagnostiziert. Die erste Regierungserklärung zu dem Virus hörten wir am 3. März, nachdem Boris Johnson eine Sitzung des Zivilschutz-Krisenstabs COBRA geleitet hatte. Voller Stolz sagte er zu Journalisten: "Ich gebe Leuten die Hand. Ich war gestern Abend im Krankenhaus, da gab es wahrscheinlich Coronavirus-Patienten, und ich habe allen die Hand gegeben – und das werde ich auch weiterhin tun."
Erst Tage später verstanden die
Journalisten, dass die offiziellen Notfallpläne in ihrer farblosen Verwaltungssprache eine hoch umstrittene Strategie formulierten, die inzwischen als "Herdenimmunität" bekannt ist. Im Gegensatz zu den meisten anderen Staaten verfolgte Großbritannien nicht – wie von der Weltgesundheitsorganisation empfohlen – das Ziel, durch Tests und Kontaktnachverfolgung die Ausbreitung des Virus einzudämmen. Stattdessen sollten sich nach und nach 60 bis 80 Prozent der Bevölkerung anstecken, wobei die Auslastung der Intensivstationen stets unterhalb der nationalen Kapazitätsgrenze bleiben sollte. Daher gab die Regierung zunächst keine klaren Anweisungen zum Abstandhalten (social distancing) heraus und empfahl lediglich bestimmten Geschäften die Schließung. Doch im Hintergrund tobten die Epidemiologen und Fachleute für öffentliche Gesundheit, die das Land mit dieser Strategie auf dem besten Weg in die Katastrophe sahen. Angesichts der Daten aus Italien kam ein Forscherteam des Imperial College London zu dem Schluss, dass die Beibehaltung dieses Kurses etwa 250.000 Britinnen und Briten das Leben kosten könnte.
Ab dem 16. März kam dann die 180-Grad-Wende: Die Regierung schränkte die persönliche Bewegungsfreiheit massiv ein, zwang die meisten Unternehmen, zu schließen, und verzehnfachte die finanzpolitischen Unterstützungsmaßnahmen für die Wirtschaft. Angesichts der traditionellen Intransparenz britischer Regierungsführung sind diverse Theorien entstanden, warum Johnson erst so spät reagierte. Ich bin der Auffassung, die Weigerung des Premierministers, das neuartige Coronavirus effektiv zu bekämpfen, war eine direkte Folge seines Einsatzes für einen harten Brexit.
Vor dem 3. März hatte Johnson das Coronavirus überhaupt nur zweimal erwähnt: in einer Nachricht an den chinesischen Botschafter und, weitaus bedeutender, am 3. Februar in einer Rede im ehrwürdigen Royal Naval College in Greenwich. In dem Gebäude aus dem 18. Jahrhundert, das den Aufstieg Großbritanniens zur Weltmacht symbolisiert, hatte Johnson seine neue, umstrittene Brexit-Strategie skizziert: Vom Ziel, faire Wettbewerbsbedingungen (level playing field) mit der EU auszuhandeln, war nun keine Rede mehr; vom Tisch war auch die bisher erklärte Absicht, im Rahmen eines neuen Handelsabkommens eine gemeinsame Gerichtsbarkeit zu schaffen. Sollte der EU das nicht schmecken, wäre er bereit, am 1. Juli 2020 den Brexit ohne Deal einzuleiten und somit ab 2021 Handel nach Bedingungen der Welthandelsorganisation (WTO) zu treiben. Der Premierminister war offenbar zu der Überzeugung gelangt, dass die Konfrontation mit dem Europäischen Rat ihm nicht nur Argumente für einen harten Brexit liefern, sondern auch den ersten Schritt hin zu einer Neuordnung des Welthandels ermöglichen würde. "Wenn das Risiko besteht, das neuartige Seuchen wie das Coronavirus Panik auslösen und zu dem Wunsch führen, die Märkte in einer Weise zu trennen, die über das medizinisch begründbare Maß hinausgeht, ja sogar realen unnötigen wirtschaftlichen Schaden anrichtet, benötigt die Menschheit irgendwo auf der Welt eine Regierung, die sich zumindest mit Nachdruck für (…) das Recht der Völker dieser Erde einsetzt, ohne Einschränkungen miteinander Handel zu treiben." Das Vereinigte Königreich sei bereit, diese Rolle zu übernehmen, fuhr Johnson fort. Und um "unnötigen wirtschaftlichen Schaden" zu vermeiden, unterwarf er die britische Bevölkerung einer experimentellen Gesundheitspolitik, die – bis sie auf Anraten von Wissenschaftlern korrigiert wurde – das Potenzial barg, eine Viertelmillion Menschen zu töten.
Die hastige und chaotische Umsetzung der Ausgangsbeschränkungen sowie das Konjunkturpaket, dessen Kosten bisher noch niemand berechnen kann, sind nur die unmittelbaren negativen Folgen. Auf lange Sicht werden der Wirtschaftseinbruch und die sich abzeichnende Fragmentierung des Welthandels auch die gesamte Brexit-Strategie von Boris Johnson über den Haufen werfen. Die Hard-Brexit-Drohung hätte nur dann Aussicht auf Erfolg, wenn zugleich alle anderen Freihandelsabkommen und Handelsblöcke aufbrächen, über die WTO hinaus und einschließlich der EU. Als relativ unbedeutender geopolitischer Player wäre Großbritannien für die Durchsetzung eines solchen Ziels auf die Hilfe der US-Regierung angewiesen. Doch es ist inzwischen offensichtlich, dass die Krise den globalen Handel kurzfristig enorm beeinträchtigen wird: In ihrem schlimmsten Szenario geht die WTO für das laufende Jahr davon aus, dass der Welthandel um 32 Prozent schrumpft. Viel entscheidender ist jedoch etwas, das uns sämtliche Konjunktureinbrüche der Vergangenheit lehren: Selbst wenn das Wachstum wieder einsetzt, erholt sich dadurch noch lange nicht der Handel. Mittelfristig ist davon auszugehen, dass diese Krise auf allen Ebenen zu einer Neuordnung führt: Der Reiseverkehr wird sich verändern, ebenso die Lieferketten und der Grad an Offenheit der Märkte – all dies könnte das gesamte multilaterale System schwer beschädigen.
Das neuartige Coronavirus ist weder ein Unglücksfall, den wir isoliert betrachten können, noch ein "exogener Schock": Im Zusammenspiel mit dem Klimawandel, den alternden Gesellschaften, der Globalisierung und der Unruhe auf den Finanzmärkten sollten wir es vielmehr als integralen Bestandteil einer allgemeinen Krise des Kapitalismus betrachten.
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Für mich begann die Lockdown-Phase schon vergleichsweise früh. Am Tag der Johnson-Rede in Greenwich verließ meine Frau nach einer Routineoperation das Krankenhaus, allerdings mit einem viralen Lungeninfekt, der sich zu einer Lungenentzündung auswuchs. Obwohl wir dreimal wegen ihrer Atembeschwerden in der Notaufnahme waren, wurde sie nie getestet – wir wissen also nicht, ob es sich um eine Infektion mit dem neuartigen Coronavirus handelte. Dafür wissen wir jetzt aber, wie es ist, eine halbe Stunde auf den Rettungswagen zu warten, während man kaum noch Luft bekommt. Während die Tragödie in China, Iran und Italien ihren Lauf nahm, entschieden wir, uns Lebensmittel nur noch liefern zu lassen. Wir ließen die alte Arbeitertradition wieder aufleben, einen Milchmann zu bestellen, der im Morgengrauen Eier, Brot, Milch und Joghurt an der Türschwelle abstellt. Wir fanden auch einen lokalen Metzger, der trotz der Gentrifizierung unseres Londoner Wohnviertels noch nicht aufgegeben hat und unsere Bestellungen aufnahm.
Über unseren Köpfen wurde die Einflugschneise von Heathrow jeden Tag etwas leiser und das Gezwitscher etwas lauter. Neue Vogelarten tauchten auf: Ein Stieglitz kam in unseren winzigen Garten; über unseren Köpfen zog ein Sperber unverfroren seine Kreise – und das keine halbe Meile von Westminster. Bei einem Babyboomer wie mir weckte diese neue Langsamkeit und Stille vergessen geglaubte Erinnerungen. Denselben Effekt hatten die traditionellen englischen Gerichte, die ich plötzlich aß, und die Gesundheitshinweise der Regierung, die es in der Ära des schlanken Staates nicht mehr gegeben hatte. Während der zwei Wochen "Pseudo-Ausgangssperre" ab der zweiten Märzwoche wurden die Menschen aufgerufen, daheim zu arbeiten, doch die Pubs und Cafés in unserem Viertel waren voller junger Menschen mit Laptops. Sie genossen die unerhörte Langsamkeit dieser neuen Lebensweise, und unsere Nachbarn fingen wenig später an, uns frisch gebackenes Brot über den Gartenzaun zu reichen, für das wir uns mit Steckzwiebeln revanchierten.
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Doch schon bald sollte sich die Situation zuspitzen. Anfang April starben in Großbritannien erstmals mehr Menschen an einem Tag infolge einer Coronavirusinfektion als in Italien. Die Polizei begann, in den Parks Streife zu laufen und Sonnenanbeter heimzuschicken. Und der Premierminister, der sich selbst mit Covid-19 angesteckt hatte, musste für eine Woche auf die Intensivstation. Mit den gewohnten Freiheiten schienen auch die meisten volkswirtschaftlichen und weltpolitischen Gewissheiten zu schwinden. Sicher, sobald die Pandemie nachlässt, werden die Menschen auch eine Rückkehr zur "Normalität" fordern. Doch diese Normalität wird kaum wiederkommen, da diese Krise Teil etwas Größeren ist, das weit über Epidemiologie oder Volkswirtschaftslehre hinausgeht.
Sowohl der Brexit als auch das europäische Projekt stehen vor einer ungewissen Zukunft. Der plötzliche Wegfall jeglicher physischen Interaktion kann die vorhandenen Probleme nur verschärfen. Auf der persönlichen Ebene erlebe ich, wie sich mein Kalender zu einer Art Mahnmal für all die ausgefallenen Reisen und Vorträge entwickelt. Videokonferenzen können das zwar auffangen, aber sie drehen sich zunehmend um innenpolitische Themen: um unsere Regierungskrise, die Notlage unseres Gesundheitswesens, die Zukunft der Labour Party, das Wohlergehen von Freunden und Familienmitgliedern. Paradoxerweise hat man selbst als Internationalist kaum noch Gründe, das grenzübergreifende Gespräch zu suchen, wenn man von überall doch nur hört: "Hier ist es genauso wie bei euch."
Im Vereinigten Königreich ist die proeuropäische Linke politisch besiegt und die proeuropäische Mitte – außer in Schottland – regelrecht zerstört. Auch wenn sich die hinter einem harten Brexit stehende "Logik" derzeit in Luft auflöst: Die fremdenfeindlichen und autoritären Gefühle, die Boris Johnson in die Downing Street verhalfen, sind auch in der Coronakrise noch quicklebendig. Aus den kleinen Arbeiterstädten, in denen viele Wählerinnen und Wähler bei der Unterhauswahl im Dezember 2019 zu den Konservativen gewechselt sind, berichten Labour-Aktivisten von völlig anderen Reaktionen auf das Virus, als man sie in den Großstädten beobachten kann. Wenn Labour-Vertreter hier auf den katastrophalen Mangel an Tests und Schutzausrüstung hinweisen, werden sie beschuldigt, die Krise politisch auszuschlachten. Der jüngere, ethnisch buntere und besser ausgebildete Teil der Erwerbsbevölkerung in den Großstädten hingegen kritisiert die Regierung genau deshalb aufs Schärfste. Daher ist nicht damit zu rechnen, dass Keir Starmer, der neue Vorsitzende der Labour Party, Johnsons Strategie aktiv infrage stellen wird – eher wird er dabei zuschauen, wie sie sich durch die vom Premierminister gesetzten Fristen selbst ad absurdum führt.
Unterdessen können die Euroskeptiker angesichts der unkoordinierten europäischen Antwort auf die Krise jubilieren: So gab es erneut Streit zwischen den EU-Mitgliedsländern über die Vergemeinschaftung von Schulden, die ungarische Regierung missachtet die rechtsstaatlichen Prinzipien der EU auf das Frechste, und Griechenland hat das Asylrecht vorübergehend aufgehoben.
Jene Briten, die sich eine solide Beziehung zum Binnenmarkt, einheitliche Wettbewerbsbedingungen, institutionalisierte Sicherheitsbeziehungen sowie eine gewisse gerichtliche Kontrolle wünschen, wittern jetzt Morgenluft: Sie haben die Hoffnung, dass ein Scheitern von Johnsons hartem Brexit und die negativen ökonomischen Folgen in den nächsten zwei Jahren die Umsetzung ihrer Agenda begünstigen werden. Doch ein politisches Hindernis bleibt bestehen: Für das, was wir uns wünschen, gibt es in der Wählerschaft keine Mehrheit, und das Zustandekommen einer proeuropäischen Regierung ist nicht in Sicht.
Wie der Historiker Charles P. Kindleberger festgestellt hat, kommt es nach einer wirtschaftlichen Talfahrt, wie sie uns bevorsteht, nicht nur auf die Entschlossenheit an, Sparprogramme zu verhindern, sondern darauf, dass eine Weltmacht die Führung übernimmt. Solange sich kein Land findet, das willens und in der Lage ist, finanziellen Druck auszugleichen, Verhaltensstandards zu setzen und durchzusetzen sowie den Welthandel und das internationale Finanzsystem am Laufen zu halten, besteht ständig die Gefahr, dass eine Rezession zur Depression wird.
Weder China noch die USA sind momentan in der Lage, auf globaler Ebene diese Rolle auszufüllen. Naheliegender ist es, zu fragen, ob die drei G7-Staaten im Herzen der Eurozone – Deutschland, Frankreich und Italien – bereit wären, diese Rolle zumindest in der EU stärker an sich zu ziehen.
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Dabei ist eine Depression noch nicht einmal das schlimmste Szenario. Wir erleben derzeit eine "Krise des neoliberalen Selbst": Der typische Sozialcharakter, der in den Jahren der freien Marktwirtschaft entstanden ist, hat eine gefährliche Neigung zum Fatalismus entwickelt und ist daran gewöhnt, die Initiative anderen zu überlassen.
Wir haben 40 Jahre lang so getan, als sei der Markt eine unfehlbare Maschine, intelligenter als ein Mensch es je sein kann, ausgestattet mit dem Recht, gegen menschliche Entscheidungen über unsere sozialen Prioritäten sein Veto einzulegen. Doch 2008 erlitt diese Maschine einen Totalschaden. Die Wirtschaft wurde daraufhin an den Tropf gehängt. Aber mit einer Ideologie kann man das nicht machen, weil die entstehenden Widersprüche zum Himmel schreien würden.
In das so entstandene Vakuum stießen die autoritären Konservativen, die Rechtspopulisten sowie eine radikale Linke, die aber nach kurzer Zeit scheiterte. Die weitverbreitete Anfälligkeit für Desinformation während der Pandemie, übertriebene Ängste im Hinblick auf Gesichtsmasken, chinesische Besucher oder 5G-Funkmasten, die bereitwillige Duldung des Lockdowns demokratischer Normen und Freiheiten – all das lässt sich auf eine tiefe Orientierungslosigkeit zurückführen. Die Menschen haben jahrzehntelang gehört, sie sollten den Märkten gehorchen. Doch nun, da der Markt nicht mehr in der Lage ist, sie erfolgreich zu führen, haben sich viele einfach auf die Suche nach einer neuen Instanz gemacht, der sie gehorchen können. Das schlimmste Szenario sieht also so aus, dass sparwütige Politiker uns eine lang anhaltende Rezession aufzwingen, die in einigen westlichen Ländern dazu führen könnte, dass sich ein Großteil der Wählerschaft ohne Zögern antidemokratischen politischen und ideologischen Angeboten zuwendet.
Wenn das geschieht, werden wir keine Neuauflage der 1930er Jahre erleben, wie manchmal gemutmaßt wird. Damals konnten die autoritäre Rechte und die staatsgläubige Linke durch Kredite, Ausgaben und Inflation die Produktion rasch wieder ankurbeln und die Arbeitslosigkeit reduzieren. Bei den technischen Innovationen und der menschlichen Entwicklung gab es damals noch sehr viel Spielraum. Wir hingegen haben die endgültigen Grenzen der kohlenstoffgetriebenen Wirtschaft erreicht. Wenn wir nicht bis 2050 die Dekarbonisierung bewältigen, werden die chaotischen Folgen des Klimawandels, wie sie bereits am Abschmelzen des arktischen Eises, den Schwelbränden in der russischen Tundra und der Zerstörung australischer Regenwälder erkennbar sind, der menschlichen Kontrolle vollends entgleiten. Aus all diesen Gründen ist es angebracht, in dieser Zeit von einer "allgemeinen Krise" zu sprechen, und zwar nicht im Sinne der Zeit von 1929 bis 1934. Viel passender ist der Vergleich mit der Krise des Feudalismus im 14. Jahrhundert.
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In der Geschichtswissenschaft ist lange und intensiv darüber diskutiert worden, was die "allgemeine Krise" ausgelöst haben könnte, die zur Zerstörung des mittelalterlichen Wirtschaftssystems führte. Einige Historiker betonen die Erschöpfung der natürlichen Ressourcen, während andere die Folgen von Klimaveränderungen in den Vordergrund stellen, die in den Jahren nach 1310 katastrophale Ernteausfälle verursachten. Forscher aus der Tradition des historischen Materialismus wiederum interessierten sich vielmehr für die veränderten Beziehungen zwischen Bauern und Landbesitzern sowie für die Verlangsamung der technischen Entwicklung nach 1300. Doch unabhängig davon, wie die inneren Ursachen für den Niedergang des Feudalismus theoretisch erklärt werden, ist es unmöglich, die Auswirkungen eines externen Schocks zu ignorieren: Die Beulenpest-Pandemie Mitte des 14. Jahrhunderts kostete nahezu einem Drittel der Bevölkerung in Europa das Leben. In der Zeit nach dem "Schwarzen Tod" fanden sich Handwerker und Bauern, deren Arbeit damals die Quelle allen Wohlstands war, durch den allgemeinen Arbeitskräftemangel in einer weitaus stärkeren Position wieder. So änderten sich auch die Merkmale ihrer Aufstände: Der Historiker Rodney Hilton schreibt, in diesen Revolten habe sich "nicht mehr nur die Unzufriedenheit wegen der lokal erlebten Unterdrückung gezeigt. Vielmehr wurden sie zum Ausdruck des Aufbegehrens gegen die gesamte Organisationsform der Gesellschaft."
Aus heutiger Sicht hatte die allgemeine Krise des Feudalismus mehrere Ursachen: Klimatische Veränderungen spielten ebenso eine Rolle wie die Erschöpfung eines Wirtschaftsmodells sowie ein Zufallsereignis, das die Schwäche der gesellschaftlichen Strukturen gnadenlos offenlegte. Menschen in ganz Europa wurde klar, dass dieses Gesellschaftssystem mit seinen Institutionen und Ideologien ihnen nicht mehr das Leben ermöglichen konnte, das sie sich wünschten. Sollte es so gewesen sein, sind die Parallelen zur heutigen Zeit eindeutig.
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Noch während wir das Coronavirus bezwingen, ist es die wichtigste Aufgabe der Politiker, eine Vision von einer widerstandsfähigeren Welt zu entwickeln – oder wie der Philosoph Roberto Unger sagt: "Die Vorstellungskraft hat das zu leisten, was sonst eine Krise leisten würde, und zwar ohne, dass es zu dieser Krise kommt."
Wir müssen jetzt schnell im Kopf sein, denn Covid-19 wird nicht die letzte Pandemie sein, so wie die australischen Buschfeuer von 2019 nicht die letzten sein werden und auch die sogenannte Flüchtlingskrise von 2015 nicht die letzte war.
Für Politiker und Wirtschaftsführer ist es bereits heute zwingend erforderlich, sich ein Wirtschaftssystem jenseits fossiler Energieträger vorzustellen. Aber wie können wir es schaffen, diese Vision zu erweitern – und uns eine Welt ohne Armut, Slums, Diktatoren und räuberische Agrarwirtschaft vorzustellen, die natürliche Lebensräume zerstört? Zunächst müssen wir alle Dogmen der vergangenen 40 Jahre, wie Finanz- und Geldpolitik sowie Investitionen auszusehen haben, über Bord werfen. Staaten, die sich das leisten können, sollten jetzt Kredite aufnehmen, und zwar nicht nur, um die Zigmilliarden kurzfristigen Zusagen einzuhalten, die notwendig sind, um einen tiefen Wirtschaftseinbruch zu verhindern. Vielmehr sollten Sie langfristig in kohlenstofffreie Technologien, Umschulungen und eine intelligente Reindustrialisierung der hochentwickelten Länder investieren. Die Rechnung hierfür wird letztlich in Form von Schulden an künftige Generationen weitergereicht. Aber die Alternative wäre, unseren Enkelkindern eine zerstörte Demokratie und ein fragmentiertes globales System auf einem zunehmend unbewohnbaren Planeten zu vererben.
Wir müssen verstehen, dass wir uns in einer langen Übergangsphase befinden.
Wir entwickeln uns weg vom Kohlenstoff, weg von der Vorherrschaft der Finanzwirtschaft, weg von der Ausbeutung von Arbeitskräften und Ressourcen. Es kommt nun darauf an, dass wir die unkontrollierbare Dynamik akzeptieren, die diese Entwicklung mit sich bringt.
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Momentan – ich schreibe dies noch in der akuten Phase der Pandemie – sollten wir vor allem ein Inventar der verlorenen und wiedergefundenen Dinge erstellen. Auf meinem täglichen Spaziergang komme ich an geschlossenen Pubs, Cafés und Kebabbuden vorbei, doch die Lieferwagen der Onlinehändler fahren pausenlos Lebensmittel und elektronische Geräte durch die Gegend. Auch auf Zoom, der inzwischen allgegenwärtigen Videokonferenzplattform, hat sich die Art des Austauschs verändert. Exhibitionismus und Selbstinszenierung, wie sie bisher in Netzwerken wie Instagram üblich waren, werden in dieser neuen Atmosphäre durch Ernsthaftigkeit und Kooperationsbereitschaft ersetzt – die Menschen hören jetzt lieber zu, als selbst zu sprechen.
Die materiellen Erscheinungsformen des Kapitalismus des 21. Jahrhunderts werden zurückkehren: Der Pub in meinem Viertel wird wieder öffnen, und irgendwann werden wir auch wieder europäischen Fußball auf dem ganz großen Bildschirm sehen. Die Menschen werden sich wieder wie Sardinen in die Londoner U-Bahn quetschen, und das Parlament wird wieder zum Leben erwachen. Doch uns wird stets eine plastische, lebendige Erinnerung an die Stille von 2020 begleiten – und an die neuen Räume, die wir in dieser Zeit geschaffen haben. Ich hoffe, dass die Erinnerung die Vorstellungskraft der Überlebenden dazu anregen wird, sich etwas Neues auszudenken. Ich hoffe, dass wir, wie die Rebellen des 14. Jahrhunderts, aus der Pandemie mit einem festeren Glauben an Wissenschaft, Rationalität und Medizin hervorgehen werden.
Was das Vereinigte Königreich angeht, dessen plötzlicher Bruch mit Europa unter Rahmenbedingungen in die Wege geleitet wurde, die nun nicht mehr existieren, wage ich die Prognose, dass keine kollektive Reue über den Brexit einsetzen wird. Vielmehr wird es, sobald die unvermeidlichen Fragen aufkommen, einen Kampf um Glaubwürdigkeit geben. Das Brexit-Projekt beruhte so stark auf einem unmöglichen Traum von nationaler Größe, auf imperialer Nostalgie und der Bereitschaft, sämtliche Zweifel an einem clownartigen Anführer beiseitezuschieben, dass uns nur die Hoffnung bleibt, der plötzliche Einbruch der Wirklichkeit möge die Menschen wachrütteln.
Anfang Februar schien der harte Brexit in Stein gemeißelt, und es sah so aus, als würde es keinen Deal mit der EU geben. Nun gibt es keine Gewissheiten mehr. Die letzte Hoffnung der Progressiven in dieser Situation ist, dass nach den Pubs, Fußballstadien und Einkaufszentren sich endlich auch die Köpfe der Menschen wieder öffnen.
Übersetzung aus dem Englischen: Jan Fredriksson, Senden.