Einleitung
Als Joschka Fischer im Mai 2000 mit seiner Rede in der Berliner Humboldt-Universität die europäische Verfassungsdebatte eröffnete, stellte er den Begriff der "Finalität" europäischer Integration in den Mittelpunkt: Nach fünfzig Jahren der Integration in kleinen Schritten, so Fischer, sei es nun an der Zeit, sich über den Endzustand des Integrationswerks Gedanken zu machen.
Zumindest vorerst muss die EU auf Grundlage der umständlichen Regeln des Vertrags von Nizza weiter funktionieren. Selbst wenn der Lissabonvertrag noch in Kraft treten sollte, dürfte er auf absehbare Zeit die letzte grundlegende Reform des europäischen Vertragswerks gewesen sein. Weitergehende Visionen sind nicht länger Gegenstand öffentlicher Debatten.
Die Ratifizierungskrise des Lissabonvertrags ist vor diesem Hintergrund ein Anlass, die Frage nach dem Demokratiedefizit der EU erneut aufzuwerfen: Verfestigt sich durch die Reformunfähigkeit der EU ein Gemeinwesen, in dem technokratische Regulierung und intergouvernementales Verhandeln die Selbstbestimmung der Bürgerinnen und Bürger so weit zurückdrängen, dass nicht mehr als ein bedeutungsloses Frustventil in Gestalt der Europawahlen übrig bleibt? Oder ist die Union demokratischer als ihr Ruf? Welche Demokratisierungsschritte brächte der Lissabonvertrag, welche wären darüber hinaus noch denkbar? Mein Beitrag wendet sich diesen Fragen in drei Schritten zu: Zunächst gibt er einen Überblick über die bestehenden Möglichkeiten demokratischer Einflussnahme in der EU; dann bewertet er, inwiefern diese defizitär zu nennen sind; schließlich diskutiert er Potenziale für eine weitere Demokratisierung europäischer Politik.
Drei Kanäle demokratischer Einflussnahme
Zu Beginn einer Analyse über Demokratie in der EU sollte man sich klar machen, dass die Union keineswegs das undemokratische Monstrum ist, als das sie in bestimmten euroskeptischen Diskursen dargestellt wird. Vielmehr existieren eine ganze Reihe von Verfahren, über die die Bürgerinnen und Bürger Einfluss auf EU-Entscheidungen nehmen können. Drei Kanäle demokratischer Einflussnahme sind zu unterscheiden:
(a) Der offensichtlichste Kanal verläuft über das direkt gewählte Europäische Parlament, das ausdrücklich konzipiert ist zur Repräsentation der Bürgerinnen und Bürger auf europäischer Ebene. Die Kompetenzen des Parlaments bei der Verabschiedung europäischer Rechtsakte sind in den vergangenen Vertragsreformen stetig ausgeweitet worden, und der Lissabonvertrag sieht eine weitere Ausweitung vor. In den meisten Politikbereichen ist das Parlament mittlerweile im Mitentscheidungsverfahren am Gesetzgebungsprozess beteiligt, was bedeutet, dass gegen seinen Willen kein Rechtsakt zustande kommen kann.
Wo unterscheiden sich die Kompetenzen des Europäischen Parlaments überhaupt noch von denen nationaler Parlamente? Erstens kann es Rechtsakte nicht formell initiieren; dies ist das Monopol der Europäischen Kommission. Zweitens gibt es nach wie vor Bereiche, in denen es nicht die volle Gesetzgebungskompetenz besitzt, sondern vom Ministerrat überstimmt werden kann. Auch bei Inkrafttreten des Lissabonvertrags gälte dies etwa für die Steuerharmonisierung, die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, sowie bestimmte Bereiche der Innen- und Justizpolitik. Drittens hat das Parlament nur eingeschränkte Befugnisse hinsichtlich der Wahl und Kontrolle der Europäischen Kommission: Zwar muss es die Kommission mehrheitlich bestätigen, es kann aber keinen direkten Einfluss auf die Nominierung ihrer Mitglieder nehmen und eine einmal ins Amt gewählte Kommission nur mit Zweidrittelmehrheit abwählen.
Diese Kompetenzmängel des Europäischen Parlaments sind aber nicht das Hauptproblem dieses Kanals demokratischer Einflussnahme. Vielmehr ist es vor allem der Charakter der Europawahlen, der einen Schatten auf die demokratische Qualität des Parlaments wirft. In Europawahlen treten nationale Parteien an, die Wahlkämpfe sind dominiert durch nationale Themen, und die Wählerinnen und Wähler nutzen diese Wahlen vor allem zur Abrechnung mit nationalen Regierungen (wenn sie sich überhaupt beteiligen).
Karlheinz Reif und Hermann Schmitt haben die Europawahlen daher schon zu Beginn der 1980er Jahre als "Wahlen zweiter Ordnung" beschrieben, und diese Analyse behält nach wie vor ihre Gültigkeit.
(b) Der zweite Kanal demokratischer Einflussnahme in der EU verläuft über nationale Wahlen, nationale Parlamente und nationale Regierungen hin zum EU-Ministerrat, der als Entscheidungszentrum noch machtvoller ist als das Parlament. Dieser Mechanismus mitgliedstaatlicher Repräsentation ermöglicht die demokratische Einflussnahme der Bürgerinnen und Bürger über politische Prozesse in den Mitgliedstaaten, jenseits des Europäischen Parlaments.
Auch hier ergeben sich Probleme. Erstens spielen EU-bezogene Themen auch bei nationalen Wahlen keine wichtige Rolle, und sie werden in den Medien nicht mit größerer Breitenwirkung diskutiert. Zweitens haben mitgliedstaatliche Regierungen selbst bei Themen, die in der Öffentlichkeit Interesse erregen, einen großen Handlungsspielraum im Ministerrat. Denn nationale Parlamente, die Kerninstitutionen mitgliedstaatlicher Demokratie, haben oft Probleme, Entscheidungsverfahren auf EU-Ebene nachzuvollziehen und schrecken zudem davor zurück, die eigene Regierung durch allzu detaillierte Vorgaben im Prozess der Aushandlung europäischer Rechtsnormen einzuschränken.
(c) Neben dem Europäischen Parlament und nationalen politischen Prozessen verläuft ein dritter Kanal demokratischer Einflussnahme über die europäische Zivilgesellschaft, die besonders von der Europäischen Kommission gezielt in EU-Entscheidungsprozesse eingebunden wird. Viele Autorinnen und Autoren erkennen ein erhebliches demokratisches Potenzial in solchen Verfahren der policy-spezifischen, funktionellen Repräsentation, die die von einer Entscheidung betroffenen Interessengruppen frühzeitig beteiligen.
Auch bei diesem Einflusskanal ist zweifelhaft, ob er eine unverzerrte Verbindung zwischen den Präferenzen der Bürgerinnen und Bürger und EU-Entscheidungen sicherstellt. Erstens sind die von der Kommission konsultierten Interessenvertreter in aller Regel professionelle Lobbyistinnen und Lobbyisten, deren Positionen nicht unbedingt eine Abbildung gesellschaftlicher Interessen darstellen. Zweitens bleibt es letztlich der Kommission überlassen, wie sie auf die im Konsultationsprozess zum Ausdruck gekommenen Positionen tatsächlich reagiert.
Positionen zum europäischen Demokratiedefizit
Jeder der drei Kanäle europäischer Demokratie ist also mit spezifischen Problemen behaftet. Stellt ihr Zusammenspiel trotzdem ein angemessenes Maß an Demokratie sicher? Eine Antwort auf diese Frage hängt davon ab, wie man Demokratie definiert. In der gegenwärtigen wissenschaftlichen Diskussion argumentieren vor allem Vertreterinnen und Vertreter zweier Stränge der Demokratietheorie gegen die These eines Demokratiedefizits der EU:
Erstens ist die sogenannte "realistische" Demokratietheorie zu nennen, die in der EU-bezogenen Diskussion vor allem von Giandomenico Majone und Andrew Moravcsik vertreten wird.
Zweitens kommen auch einige Vertreterinnen und Vertreter der deliberativen Demokratietheorie, etwa Charles Sabel und Klaus Eder, zu einem positiven Fazit über die demokratische Qualität der EU.
Aus meiner Sicht beruhen diese Positionen jedoch auf einer verkürzten Konzeption von Demokratie. Denn Demokratie sollte mindestens zweierlei bedeuten: Erstens müssen alle Bürgerinnen und Bürger die Möglichkeit haben, an Prozessen der kollektiven Selbstbestimmung als Gleiche zu partizipieren - und das bedeutet auch, nach dem Prinzip one person, one vote an Entscheidungen mitzuwirken.
Die Grenzen der Demokratie in der EU werden deutlich, wenn man die drei Kanäle demokratischer Einflussnahme an diesen Kriterien misst. In den ersten beiden Kanälen - Europäisches Parlament und mitgliedstaatliche Politik - ist durch allgemeine und gleiche Wahlen auf europäischer und nationaler Ebene immerhin die gleiche Partizipation der Bürgerinnen und Bürger sichergestellt, auch wenn der substanzielle Einfluss dieser Partizipation auf die letztlich erzielten Politikergebnisse zweifelhaft sein mag.
Probleme ergeben sich jedoch insbesondere hinsichtlich der Gewährleistung von Rechenschaftspflicht. Bei Mitgliedern des Europäischen Parlamentes wird diese dadurch unterminiert, dass es in Europawahlen in aller Regel gar nicht um deren Beitrag zu europäischen Entscheidungen geht, sondern um nationale Politik. Bei mitgliedstaatlichen Regierungen ist die Rechenschaftspflicht für die imMinisterrat getroffenen Entscheidungen ebenfalls begrenzt, da sich intergouvernementale Verhandlungsprozesse wie geschildert einer Kontrolle durch nationale Parlamente und Öffentlichkeiten oft entziehen.
Beim dritten Kanal demokratischer Einflussnahme, der funktionellen Repräsentation von Interessen durch die europäische Zivilgesellschaft, ist sogar keines der beiden Demokratiekriterien erfüllt: Die Beteiligung von Interessenverbänden und zivilgesellschaftlichen Organisationen in den Konsultationsverfahren der Europäischen Kommission gewährleistet keine gleichgewichtige Partizipation aller Bürgerinnen und Bürger. Rechenschaftspflicht ist ebenfalls nicht sichergestellt, denn die Kommission ist nicht verpflichtet, die Positionen der konsultierten Gruppen tatsächlich in Entscheidungsvorschläge einfließen zu lassen.
Eine zusätzliche Komplikation ergibt sich daraus, dass die meisten Entscheidungen in der EU nicht von einer der drei Kerninstitutionen - Parlament, Ministerrat und Kommission - allein getroffen, sondern zwischen den drei Institutionen ausgehandelt werden. Das hat den Vorteil, dass für ein und dieselbe Entscheidung alle drei Kanäle demokratischer Einflussnahme relevant werden können. Der Nachteil ist jedoch, dass die wichtigsten Streitfragen europäischer Politik letztlich erst in Vermittlungsverfahren zwischen den drei Institutionen entschieden werden - hinter verschlossenen Türen und in Verfahren, die weder die direkte Partizipation der Bürgerinnen und Bürger noch die Herstellung von Rechenschaftspflicht ermöglichen. Mit anderen Worten: Wenn es wirklich ernst wird, halten politische Eliten in der EU das Heft fest in der Hand. All dies bedeutet nicht, dass sie ohne Kontrolle schalten und walten können: Parlament, Ministerrat und Kommission kontrollieren sich gegenseitig, und auch die Medien nehmen von der EU mehr Notiz als noch vor wenigen Jahren. Aber wie bereits gesagt: Die Kontrolle von Macht allein bedeutet noch keine Demokratie.
Optionen einer Demokratisierung der EU
Diese Überlegungen führen zu der Frage, welche Möglichkeiten es gibt, um dem europäischen Demokratiedefizit abzuhelfen. Welche Veränderungen sieht der Lissabonvertrag in dieser Hinsicht vor? Welche weiteren Optionen wurden in diesem Vertrag nicht aufgegriffen? Erneut ist es sinnvoll, die drei Kanäle demokratischer Einflussnahme zu betrachten:
(a) Wie die bisherige Analyse gezeigt hat, kann die Rechenschaftspflicht europäischer Entscheidungsträger über das Europäische Parlament nur dann effektiver sichergestellt werden, wenn die Bürgerinnen und Bürger ihr Partizipationsverhalten ändern. Denn letztlich hängt es von den Wählerinnen und Wählern ab, ob Europawahlen Wahlen zweiter Ordnung bleiben, oder ob Parteien gezwungen werden, Europawahlkämpfe über europäische Themen zu führen. Für ein besseres Funktionieren des Europäischen Parlamentes als demokratischer Vertretung der Bürgerinnen und Bürger kommt es also weniger auf institutionelle Reformen an als auf die Ausbildung europäischer Identitäten und eines europäischen politischen Interesses in der Bevölkerung. Wenn dies gelänge, wäre die volle Parlamentarisierung der EU möglich - das Europäische Parlament könnte auf Kosten der anderen Einflusskanäle wirklich zur zentralen Institution europäischer Demokratie werden.
Lässt sich auf eine solche Europäisierung von Identitäten und Verhaltsmustern der Bürgerinnen und Bürger gezielt Einfluss nehmen? Die gescheiterte Europäische Verfassung war ein Versuch, genau das zu tun: ein Projekt der Identitätsbildung. Der Name "Verfassung", die wertgeladene Sprache der Präambel, die Verfassungsartikel über die Ziele, Werte und Symbole der Union, der prominente Platz der Grundrechtecharta - all dies sollte die Konturen der EU als politisches Gemeinwesen deutlicher machen, mithin ihre "Finalität" zumindest grob skizzieren, und der Verfassung selbst eine Rolle als Bezugspunkt für ein stärkeres europäisches Bürgerbewusstsein sichern.
Das Scheitern der Verfassung zeigt die Grenzen einer solchen Identitätsbildungsstrategie auf: Ein großer Teil der europäischen Bevölkerung ist (noch) nicht bereit, eine mit den klassischen Insignien des Staates auftretende EU zu akzeptieren. Zudem gibt es erhebliche Unterschiede zwischen verschiedenen nationalen Sichtweisen der europäischen Integration und daraus abgeleiteten Erwartungen an die EU. Diese Unterschiede machen es unmöglich, die Merkmale und philosophischen Grundlagen der Union in Verfassungsartikel zu gießen, ohne Widerstände in bestimmten Mitgliedstaaten oder Bevölkerungsgruppen hervorzurufen. Konstitutionelle Prinzipienerklärungen sind als Mechanismen der Identitätsbildung daher ungeeignet.
Einige Beobachterinnen und Beobachter halten jedoch eine alternative Strategie zurIdentitätsbildung für vielversprechend: Könnte man nicht, so fragen sie, die Kompetenzen des Europäischen Parlaments so radikal ausweiten, dass die Bürgerinnen und Bürger es sich nicht länger leisten können, die Europawahlen zu ignorieren - und somit zwangläufig europäische Identitäten ausbilden?
Auch mit Blick auf diese Strategie einer "Identitätsbildung durch Politisierung" ist Skepsis angebracht. Dies gilt erstens aus historischen Gründen: Seit der ersten Direktwahl des Europäischen Parlaments 1979 sind dessen Kompetenzen stetig gewachsen, die Wahlbeteiligung bei Europawahlen ist aber in den meisten Mitgliedstaaten gesunken. Zweitens ist ein wichtiges theoretisches Argument zu berücksichtigen: Angesichts der Schwäche europäischer Identitäten ist es zweifelhaft, ob Mehrheitsentscheidungen in der EU - sei es in Sach- oder in Personalfragen - auch bei der Minderheit Akzeptanz finden würden. Denn erst das Bewusstsein der Zusammengehörigkeit zwischen Mehrheit und Minderheit stellt sicher, dass solche Entscheidungen von der überstimmten Minderheit nicht als Fremdbestimmung empfunden werden.
(b) Bietet der zweite Kanal demokratischer Einflussnahme, der über die nationalen Regierungen und ihre Rolle im Ministerrat verläuft, bessere Bedingungen für eine Demokratisierung der EU? Eine Demokratisierungsstrategie, die hier ansetzt, hat insbesondere einen Vorteil: Die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für Demokratie sind auf der nationalen Ebene besser als auf der europäischen, weil politische Partizipationsformen und Identitäten der Bürgerinnen und Bürger nach wie vor in erster Linie auf den Nationalstaat ausgerichtet sind.
Welche Möglichkeiten gäbe es aber, die demokratische Rechenschaftspflicht von Regierungen für ihr Verhalten im Ministerrat zu stärken? Zwei wichtige Schritte in diese Richtung sind im Lissabonvertrag enthalten: Erstens soll die Transparenz von Verfahren im Ministerrat dadurch erhöht werden, dass der Rat grundsätzlich öffentlich tagt, wenn er in gesetzgeberischer Funktion tätig ist. Zweitens sollen die Kontrollmöglichkeiten nationaler Parlamente ausgeweitet werden, indem ihnen ein besserer Zugang zu Gesetzgebungsdokumenten und die Möglichkeit eines Einspruch gegen geplante europäische Rechtsakte gewährt werden.
Darüber hinausgehend wären weitere Reformen denkbar, die aber eher auf mitgliedstaatlicher denn auf europäischer Ebene ansetzen müssten. Insbesondere wäre zu überlegen, wie die Kontrolle nationaler Parlamente über das Verhalten ihrer Regierungen im Ministerrat verbessert werden kann - die Möglichkeiten reichen von der Erteilung expliziter Verhandlungsmandate bis zur Beteiligung von Abgeordneten in den nationalen Delegationen.
Zudem ist daran zu erinnern, dass alle Reformen zur Erhöhung der Rechenschaftspflicht jeweils nur hinsichtlich der "eigenen" nationalen Regierung greifen können. Wenn im Ministerrat mit qualifizierter Mehrheit entschieden wird, laufen sie ins Leere: Es gibt keine Möglichkeit, die Regierungen anderer Mitgliedstaaten zu sanktionieren, wenn diese die eigene Regierung überstimmen. Die Ausweitung qualifizierter Mehrheitsentscheidungen ist daher aus demokratietheoretischer Sicht nicht zwingend als Fortschritt anzusehen.
(c) Wie steht es schließlich mit dem dritten Kanal demokratischer Einflussnahme, der europäischen Zivilgesellschaft? Die bestehenden Verfahren zivilgesellschaftlicher Beteiligung sind nur sehr beschränkt geeignet, dem europäischen Demokratiedefizit abzuhelfen. Zwar lässt sich ihre Transparenz und Formalität erhöhen, und die EU-Kommission hat sich in den vergangenen Jahren ernstlich um beides bemüht, indem etwa Konsultationsverfahren nun öffentlich ausgeschrieben werden und Listen von in Brüssel tätigen Vereinigungen im Internet abrufbar sind. Aber die gleiche Partizipation aller Bürgerinnen und Bürger und eine mit Sanktionsmöglichkeiten versehene Rechenschaftspflicht lassen sich auf diesem Wege nicht herstellen.
Vielversprechender erscheint eine andere Form der direkten Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger, nämlich europaweite Referenden. Dabei denke ich ganz ausdrücklich nicht an Verfassungsreferenden über die "Finalität" der europäischen Integration, denn diese führen in erster Linie dazu, Konflikte zwischen widersprüchlichen Zielvorstellungen weiter zu verschärfen. Eher aussichtsreich sind dagegen direktdemokratische Mechanismen zur Entscheidung von Sachfragen europäischer Politik.
Der Lissabonvertrag geht einen kleinen Schritt in diese Richtung mit der Einführung eines europäischen Bürgerbegehrens, das aber wenig mehr ist als eine Möglichkeit zur Äußerung eines Gesetzgebungsvorschlags, über den dann im üblichen Verfahren befunden wird. Das Bürgerbegehren ließe sich ausweiten zu einem vollwertigen Bürgergesetzgebungsverfahren. Noch interessanter ist die Idee von Heidrun Abromeit, nach dem Vorbild der Schweiz ein direktdemokratisches Veto gegen EU-Entscheidungen möglich zu machen.
Fazit
Obwohl die Ratifizierung des Vertrags von Lissabon Fortschritte auf dem Weg zu einer demokratischen Union bedeuten würde, bliebe die demokratische Qualität der EU, bemessen an den Kriterien der Partizipation und der Rechenschaftspflicht, auch nach seinem Inkrafttreten defizitär: Politik auf europäischer Ebene entzieht sich der vollen Kontrolle durch die Bürgerinnen und Bürger. Dieses Fazit ist umso ernüchternder, als es kaum erfolgversprechende Optionen für eine Demokratisierung der EU gibt. Hinsichtlich der direkten Repräsentation der Bürgerinnen und Bürger über das Europäische Parlament sind institutionelle Reformen kontraproduktiv, und es bleibt auf die Ausbildung eines veränderten Partizipationsverhaltens in der Bevölkerung zu hoffen. Hinsichtlich der mitgliedstaatlichen Repräsentation über den Ministerrat ließen sich auf nationaler Ebene parlamentarische Kontrollmöglichkeiten verbessern. Hinsichtlich der Beteiligung der europäischen Zivilgesellschaft ist die Eröffnung zusätzlicher Partizipationsmöglichkeiten über europäische Sachreferenden denkbar. Die "demokratische Finalität" der EU mag somit noch nicht erreicht sein, doch in die noch möglichen Reformen sollten keine übertriebenen Erwartungen gesetzt werden: Die Komplexität von EU-Entscheidungsverfahren, die nötig ist, um der Diversität der europäischen Bevölkerung gerecht zu werden, verschließt sich einfachen Patentlösungen.