Einleitung
Auf die Meldungen über den "3. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung" reagierten Parteienvertreter zwar auf unterschiedliche Weise, aber sie schienen sich in einem Punkt einig zu sein, nämlich nicht über die konkreten sozialen Situationen zu sprechen, die sich hinter den Zahlen verbargen. Das ähnelte der Situation im Herbst 2006, als der SPD-Vorsitzende Kurt Beck von "Unterschichten" sprach und damit eine zeitweilig heftige Diskussion darüber auslöste, ob es in Deutschland überhaupt eine Unterschicht gebe. Die meisten Beteiligten führten diese Diskussion unter falschem Vorzeichen. Typisch dafür war die Aussage des SPD-Politikers Franz Müntefering, der öffentlich bekannte, in Deutschland keine Unterschicht zu kennen. Er musste sich die Aufforderung gefallen lassen, er solle doch mal einen Lebensmittel-Discounter oder eine Fußgängerzone aufsuchen.
Dabei bot die repräsentativ angelegte Untersuchung der deutschen Wählerschaft
Die Ermittlung der politischen Milieus erfolgte nicht wie die der sozialen Milieus auf der Grundlage soziostruktureller Faktoren und lebensweltlicher Kriterien, sondern auf Basis politischer und anderer Einstellungen in drei Wertekonflikten.
Erst nachdem die neun politischen Milieus identifiziert waren, wurden sie auf sozialstrukturelle Merkmale, politische Orientierungen und anderes hin untersucht und beschrieben.
"Drei-Drittel-Gesellschaft"
Die neun Milieus lassen sich zu drei Gruppen zusammenfassen, die jeweils ungefähr ein Drittel der Gesellschaft ausmachen. Es kann daher in Abgrenzung zu dem gängigen Begriff der "Zwei-Drittel-Gesellschaft" von einer "Drei-Drittel-Gesellschaft" gesprochen werden, wobei das obere "Drittel" 45 Prozent, das mittlere "Drittel" 29 und das untere "Drittel" 26 Prozent der Bundesbürgerinnen und -bürger umfasst (vgl. Tabelle 1 der PDF-Version).
Die schichtspezifische Zusammensetzung ist eine wichtige Grundlage für das Konzept der "Drei-Drittel-Gesellschaft": Im oberen gesellschaftlichen Drittel dominieren die obere Mittelschicht und die Oberschicht und im unteren Drittel die untere Mittelschicht und die Unterschicht.
Der Typ des "Abgehängten Prekariats" im unteren Drittel fand deshalb besondere Aufmerksamkeit, weil dieses Milieu quasi als Bodensatz der deutschen Gesellschaft, als ihre Unterschicht, angesehen wurde. Als Unterschicht werden jedoch umgangssprachlich soziale Gruppen bezeichnet, deren Angehörige beispielsweise geringe Einkünfte haben, deren Lebensbedingungen wie Wohnsituationen schlecht sind oder die geringe formale Bildungsabschlüsse und demzufolge keine oder nur schlecht bezahlte und oft unsichere Jobs haben und eine Lebensweise pflegen, die sich von der des "Bürgertums" deutlich unterscheidet. In der Soziologie wird der Begriff "Unterschicht" wenig gebraucht, in der Alltagssprache dagegen häufiger; die Angehörigen der Mittelschicht verwenden ihn, um sich "nach unten" abzugrenzen.
Das Heidelberger Sinus-Institut hat Ende 2006 an Hand von vier Kriterien ermittelt, dass 3,9 Millionen Deutsche im Alter ab 14 Jahren zur sozialen Unterschicht zu rechnen sind. Es hat mit seiner Definition verdeutlicht, dass es zwar Schnittmengen zwischen dem "Abgehängten Prekariat" im unteren Drittel der Gesellschaft und der sozialen Unterschicht gibt, beide aber nicht identisch - und prekäre Situationen auch in anderen Milieus zu finden sind.
Prekariat bezieht sich auf Prekarität. Damit beschrieb der französische Soziologe Pierre Bourdieu die Situation von Menschen in unsicheren Beschäftigungsverhältnissen. Hierzu zählen Zeitarbeit, Leiharbeit, Teilzeit- oder befristete Jobs, Praktika oder auch Scheinselbstständigkeit. Diese Beschäftigungsverhältnisse gibt es in den verschiedensten Bereichen: in den Medien, im Kulturbetrieb, in der Wissenschaft oder in verschiedenen Branchen des Dienstleistungsgewerbes, aber auch im produzierenden Gewerbe. Die Betroffenen haben zwar einen Arbeitsplatz oder Auftrag, aber sie sind, und das macht die Prekarität aus, ohne Gewissheit und Verfügungsmacht über ihre Zukunft.
TNS Infratest Sozialforschung hat diese, auf die gefährdete berufliche Existenz bezogene Bezeichnung verwendet, um einen Milieutyp zu beschreiben, dessen Angehörige ein bestimmtes Gefühl über ihre Lebenslage kennzeichnet. Der neue Begriff des "Abgehängten Prekariats" bezeichnet somit einen Typ eines politischen Milieus, der in erster Linie durch Einstellungen und Werte und erst in zweiter Linie durch sozialstrukturelle Merkmale konstituiert wird. Insofern ist ein politisches Milieu etwas anderes als ein soziales Milieu
Die demographischen Schwerpunkte des "Abgehängten Prekariats" sind:
ein niedriger gesellschaftlicher Status, 49 Prozent gehören zur sozialen Unterschicht sowie zur unteren Mittelschicht;
häufig gesellschaftlicher Abstieg, 18 Prozent stammen aus der Oberen Mittelschicht und 6 Prozent aus der Oberschicht;
eine überwiegend einfache bis mittlere Schulbildung;
der höchste Arbeitslosenanteil;
der höchste Anteil an Arbeitern, darunter viele Facharbeiter;
viele einfache Angestellte sowie
ein sehr hoher Männeranteil.
Dieses Milieu ist in Ostdeutschland am stärksten vertreten (dort leben rund zwei Drittel der Angehörigen), und insgesamt besonders häufig in Großstädten sowie im ländlichen Raum zu finden.
In diesem Milieu wird die gesamte Lebenssituation als ausgesprochen prekär empfunden. Es herrschen besonders große Zukunftssorgen; die Furcht konzentriert sich darauf, nicht aus der Arbeitslosigkeit herauskommen zu können oder wieder arbeitslos zu werden: Rund 90 Prozent der Erwerbstätigen dieses Milieus befürchten, demnächst ihren Job wieder zu verlieren. Selbst wenn sie aus dem Arbeitslosengeld II (ALG II) wieder in einen Job gekommen sein sollten, bedeutet das für sie keine Sicherheit.Das untere Drittel der Gesellschaft und die Parteien
Die Parteien registrieren in den Milieus der jeweiligen Drittel sowohl Schwerpunkte als auch Repräsentationsmängel (vgl. Tabelle 2 der PDF-Version).
Die Verteilung der Parteianhänger zeigt, dass das untere Drittel insgesamt keine Domäne der Partei Die Linke, sondern der rechtsextremen Parteien ist, und dass in den beiden Milieus, deren Angehörige sich nicht als abgehängt betrachten, der Union mehr Zustimmung entgegengebracht wird als der SPD. Das unterscheidet sich jedoch von Milieu zu Milieu, wie es der spezifische Blick auf die einzelnen Milieus des unteren Drittels deutlich macht. Dort verteilen sich die Parteianhänger wie in Tabelle 3 dargestellt (vgl. PDF-Version).
Bei dieser Betrachtung fallen einige Besonderheiten auf. In dem Milieu, das eher der unteren Mittelschicht zuzurechnen ist, finden die beiden großen Parteien noch eine relativ hohe Zustimmung. Demgegenüber haben sie im Autoritätsorientierten Milieu jeweils weniger Anhänger als die rechtsextremen Parteien; die Grünen bekommen dort "keinen Fuß auf die Erde". Für das Abgehängte Prekariat spielen CDU/CSU und SPD faktisch keine Rolle; da ist diesen sogar die FDP überlegen. Hier dominieren die Anhänger der Rechtsextremen und der Linken.
Die Verteilung der Parteianhänger auf die Milieus zeigt, welcher Anteil der Partei welchem Milieu zuzurechnen ist; die Zusammensetzung der Milieus nach Parteianhängern erklärt, wie ein Milieu nach Parteianhängern strukturiert ist. Dieser Blick ist allerdings stark durch die Größenverhältnisse der Parteien im Bundesdurchschnitt bestimmt, das heißt, größere Parteien haben eben größere Anteile (vgl. Tabelle 4 der PDF-Version).
Diese Struktur zeigt, dass die Union die stärkste Partei bei den Selbstgenügsamen Traditionalisten - dort hat sie eine relative Vormachtstellung - und bei den Autoritätsorientierten Geringqualifizierten ist; der Vorsprung vor der SPD ist da eher bescheiden. Die Linke wiederum ist die stärkste Partei im Abgehängten Prekariat; nur hier hat sie eine relative Vormachtstellung. In diesem Milieu ist das Lager der Nichtwähler stärker als in den beiden anderen Milieus, und zugleich ist der Abstand zwischen Union und SPD am geringsten, während er bei den Selbstgenügsamen Traditionalisten zehn Prozent beträgt. Die SPD hat in keinem der Milieus des unteren Drittels eine Mehrheitsposition.
Während sich in den Milieus im oberen sowie im mittleren Drittel eher positiv gestimmte Einstellungen zur Politik und zu den Parteien finden, wird im unteren Drittel die Enttäuschung über das Handeln der Parteien stärker sichtbar. Dort zeigen sich einige Übereinstimmungen und zugleich deutliche Differenzen hinsichtlich der Fragen des politischen und des Wahlverhaltens sowie der Einstellungen zur Politik und zu den Parteien.
So wurde im Abgehängten Prekariat der höchste Nichtwähleranteil bei der Bundestagswahl 2005 verzeichnet. Es gab bei den Wählerinnen und Wählern deutliche Präferenzen für linke bzw. rechte Randparteien. Die Linkspartei/PDS erhielt einen Anteil von 26 Prozent der Zweitstimmen, rechtsextreme Parteien noch 6 Prozent und damit mehr, als das Gesamtergebnis auswies. 2005 errang die SPD den höchsten Stimmenanteil (32 %) und das Ergebnis für die Union (26 %) verweist auf ihr gegenüber bestehende Vorbehalte. Doch seither sind ausweislich der Umfragen nach der Wahlbereitschaft ("Sonntagsfrage") Verluste für die SPD und ein sprunghafter Anstieg für Die Linke sowie für rechtsextreme Parteien zu verzeichnen. Die Parteineigungen sind unterdurchschnittlich und gelten vor allem der Partei Die Linke, aber auch der SPD.
Angehörige des Milieus der Autoritätsorientierten Geringqualifizierten stimmten bei der letzten Bundestagswahl mehrheitlich für konservative bürgerliche Parteien (55 %, für die CDU/CSU allein 49 %) und zeigten noch eine gewisse Offenheit für die SPD (36 %); die größte Distanz herrschte gegenüber den Grünen (0 %). Die Wahlbeteiligung war leicht unterdurchschnittlich und hinsichtlich der Wahlteilnahme herrschte große Unentschiedenheit. Die langfristige Parteineigung ist durchschnittlich und gilt besonders häufig der SPD.
Auch die Selbstgenügsamen Traditionalisten, waren auf die Volksparteien fixiert: 49 Prozent votierten für die CDU/CSU und 40 Prozent für die SPD. Zugleich gab es einen hohen Anteil von Nichtwählern, eine ausgeprägte Unsicherheit hinsichtlich der Parteipräferenz und starke Zweifel daran, ob es bei der nächsten Wahl zu einer Beteiligung kommen würde. Die Unsicherheiten hinsichtlich der Parteipräferenz wirkten sich nachteilig für die SPD aus. In diesem Milieu existieren starke Parteibindungen vor allem an die Union, aber auch an die SPD.
Differenzen zwischen den Milieus des unteren Drittels zeigen sich ebenfalls im institutionalisierten politischen Engagement, im Politikinteresse sowie im politischen Kommunikations- und Teilhabeverhalten (vgl. Tabelle 5 der PDF-Version).
Die Mitgliedschaft in Parteien ist in allen Milieus des unteren Drittels unterdurchschnittlich. Das gilt, mit Ausnahme der Selbstgenügsamen Traditionalisten, auch für die Mitgliedschaften in Bürgerinitiativen sowie in Nicht-Regierungs-Organisationen (NGOs). Dass in zwei der Milieus die Anteile an Gewerkschaftsmitgliedern leicht sowie deutlich überdurchschnittlich sind, erklärt sich mit den hohen Anteilen an Arbeitern, sowohl Ungelernten (Autoritätsorientierte Geringqualifizierte) als auch Facharbeitern (Abgehängtes Prekariat), und einfachen Angestellten in diesen Milieus. Der hohe Anteil von Rentnern im Milieu der Autoritätsorientierten Geringqualifizierten könnte sowohl die fehlende Akzeptanz für die Bündnisgrünen als auch für eine Mitgliedschaft in einer NGO verständlich machen.
Im Abgehängten Prekariat sind das Politikinteresse sowie das politische Kommunikations- und Teilhabeverhalten unterdurchschnittlich, und die Distanz zu Parteien und Politikern ist groß. Das gilt auch für die Autoritätsorientierten Geringqualifizierten, die zudem wenig Interesse an Politik und an politischer Kommunikation sowie an einem gesellschaftspolitischen Engagement haben. Die Selbstgenügsamen Traditionalisten sind ausgesprochen politikfern und zeigen ein unterdurchschnittliches politisches Interesse sowie Kommunikations- und Teilnahmeverhalten. Viel Staat ist mit den Parteien in diesen Milieus nicht zu machen.
Die Einstellungen zur Politik geben Aufschluss über Faktoren, welche die Haltungen zum politischen System, zur Politik und zu den Parteien erklären. Für das Abgehängte Prekariat mit seinem Anteil von 25 Prozent an der Wählerschaft in Ostdeutschland, acht Prozent sind es bundesweit, gilt die Angleichung der Lebensbedingungen in West- und Ostdeutschland als vorrangige politische Aufgabe. Dort steht man der Idee des Sozialismus eher positiv gegenüber und die Demokratie wird seltener als beste Regierungsform bezeichnet. Mit der Arbeit der Großen Koalition ist man besonders unzufrieden. Es wird große Skepsis gegenüber den Reformen geäußert und der Verlust der sozialen Sicherheit in Deutschland befürchtet. Angehörige dieses Milieus fühlen sich von bisherigen Reformen am stärksten benachteiligt und fordern häufiger Reformpausen. Da kann es wenig erstaunen, dass sich 39 Prozent des Abgehängten Prekariats zu den Verlierern der gesellschaftlichen Entwicklung zählen; im Durchschnitt aller Befragten sind es 14 Prozent.
Im Milieu der Autoritätsorientierten Geringqualifizierten dominiert ein materielles Politikverständnis. Auch hier wird der Sozialismus für eine gute Idee gehalten, was sich jedoch nicht in einer hohen Zustimmung für Die Linke niederschlägt. An die Große Koalition hat man geringe Erwartungen. Auch die Angehörigen dieses Milieus wünschen häufiger Reformpausen, weil Reformen primär als nachteilig empfunden werden. Die Bereitschaft zu finanziellen Einschränkungen als Beitrag zur Sicherung der Sozialsysteme ist gering.
Die Selbstgenügsamen Traditionalisten haben wenig Zutrauen in die Problemlösungskompetenz der Politikerinnen und Politiker und große Probleme damit, deren Sprache zu verstehen. Sie sind durchschnittlich zufrieden mit der Arbeit beider Parteien der Großen Koalition, glauben allerdings weniger an eine positive Entwicklung Deutschlands und an den Erfolg der eingeleiteten Reformen. Wie das Abgehängte Proletariat und die Autoritätsorientierten Geringqualifizierten empfinden sie Nachteile durch die Reformen und plädieren deshalb für eine niedrigere Gangart oder sogar für deren Aussetzung. Innerhalb dieses Milieus befinden sich die Gruppen, die nichts gegen entsprechende Aussagen aus der Politik einwenden.Aussagen von Angehörigen der Milieus des unteren Drittels
Die Ergebnisse der repräsentativen Untersuchungen werden durch Aussagen von Angehörigen sozialer Gruppen, die zum unteren Bereich der deutschen Gesellschaft gehören, bestätigt. Es zeigt sich, dass das Bild der Parteien insgesamt stark von Stereotypen und negativen Vorurteilen geprägt ist, während einzelne Politikerinnen und Politiker oft freundlicher beurteilt werden. Häufig wird die Meinung vertreten, Politiker lebten in eigenen Welten, weshalb die Politik nicht mit der Wirklichkeit übereinstimme, in der die Menschen leben. Politik sei eben "nicht in das normale gesellschaftliche Leben integriert".Daher sei es auch kein Wunder, dass Politiker "wie Blinde von der Farbe [sprechen]. Die müssten mal ein Realitätspraktikum machen." Da die Parteien keine Antworten auf die drängenden Probleme hätten, die gelöst werden müssen, meint man: "Die Parteien sind in ihrer Entwicklung so zurückgeblieben, dass sie keine Antwort auf die Themen haben, die uns wirklich bewegen."
Solche Haltungen illustrieren - neben den Erkenntnissen über politisches Engagement, über Wahlverhalten und über Einstellungen zur Politik - ein weiteres Problem im Verhältnis von Parteien zu den unteren Schichten: Beziehungen zwischen einer Partei und ihren Wählern und Anhängern werden durch langfristige wie durch kurzfristige Faktoren bestimmt. Zu den langfristigen Faktoren zählen beispielsweise Parteibindungen und programmatische Orientierungen, zu den kurzfristigen beispielsweise Einschätzungen des Verhaltens der Parteieliten in bestimmten aktuellen Situationen und Konflikten sowie Bewertungen der Leistungsfähigkeit der Parteien oder führender Personen.
Die Situation wird für die Parteien bzw. die Politik dann kritisch, wenn die Diskrepanzen zwischen Erwartungen an die Politik einerseits und deren Erfüllung andererseits stark auseinanderklaffen. Wenn sich dazu eine gesellschaftliche Stimmung gesellt, die durch Verunsicherung, Ängste vor der Zukunft und vor Armut infolge eines sozialen Absturzes sowie durch Orientierungslosigkeit geprägt ist und in der trotz steigenden Wohlstandes und reduzierter Arbeitslosigkeit - wenn auch in einem geringeren Maß als offiziell verkündet- mehrheitlich das Gefühl wächst, dass die Politik nicht gerecht verfährt und der Einzelne keinen oder nur einen geringen Anteil am wirtschaftlichen Aufschwung hat, dann werden davon die Einstellungen zur Politik und zu den Parteien beeinflusst.
Die Leistungsfähigkeit der Politik wird in Deutschland allgemein kritisch eingeschätzt. So kritisieren 68 Prozent der Befragten, dass sich die Politikerinnen und Politiker zu wenig um die Sorgen und Nöte der Bürgerinnen und Bürger kümmerten. 66 Prozent glauben, dass nicht diese, sondern letztlich die großen Konzerne bestimmen würden, wo es lang gehe. 55 Prozent geben an, die Sprache der Politiker sei unverständlich, und 56 Prozent stimmen der Aussage zu, dass es egal sei, welche Partei man wähle, da sich doch nichts ändere. Zwar meint eine Mehrheit von 57 Prozent, dass die Politik sich bemühe, die bestehenden Probleme zu lösen, aber lediglich 51 Prozent vertreten die Auffassung, dass sie das trotz derer Kompliziertheit könne.
Die Erwartungen an die Parteien sind ganz eindeutig. Quer durch alle Milieus wird die Auffassung vertreten, dass Parteien einen direkten Beitrag zum Niveau der Lebensführung zu leisten hätten. Zwischen 67 und 79 Prozent der drei Milieus des unteren gesellschaftlichen Drittels und 65 bzw. 69 Prozent der beiden Milieus des mittleren Drittels stimmen der Aussage zu, "Letztendlich messe ich eine Partei daran, was sie tut, um meinen persönlichen Lebensstandard zu sichern bzw. zu verbessern". Im oberen Drittel bekundet eine knappe Mehrheit der "Leistungsindividualisten" (55 %) und der "Etablierten Leistungsträger" (51 %) materielle Einstellungen gegenüber den Parteien, während die "Kritischen Bildungseliten" und das "Engagierte Bürgertum" mit nur 33 bzw. 44 Prozent Zustimmung vergleichsweise starke nicht-materielle Erwartungen gegenüber den Parteien hegen.Reaktionen der Parteien
Angesichts ihrer materiellen Situation sowie der persönlichen Zukunftserwartungen vieler Angehöriger der Milieus im unteren Drittel ist die hohe Zustimmungsquote zu der oben genannten Aussage nicht weiter erstaunlich. Diese Milieus signalisieren den Parteien damit bestimmte Hoffnungen, die von diesen jedoch lediglich mit allgemeinen Aussagen wie der, dass alle am Aufschwung oder am Wohlstand teilhaben sollten, beantwortet werden. Auch Forderungen wie beispielsweise solche nach einer längerer Bezugsdauer von Arbeitslosengeld I, nach höheren Unterstützungen für die Empfänger von Arbeitslosengeld II sowie nach der Einführung von Mindestlöhnen oder höheren Renten zum Schutz vor Altersarmut sind in den Milieus, wenn auch unterschiedlich stark, populär. Wenn die Parteien darauf antworten, dann tun sie das oft mit symbolischen Gesten - Verlängerung des Arbeitslosengeldes I (SPD), Zusage eines höheren Rentenbezugs trotz geringer Einzahlung nach Prüfung des Einzelfalls (CDU) - oder, wenn sie in der Opposition sind, mit populistischen Vorschlägen zur Erfüllung dieser Wünsche (Aufhebung von Hartz IV, Rückkehr zur alten Rentenformel - Die Linke). Beide Reaktionen tangieren die Glaubwürdigkeit der Parteien, denn die einen wie die anderen Antworten stellen keine Alternativen oder grundsätzliche Problemlösungen dar. Oder die Parteien legen Vorschläge - wie gegenwärtig - zur Steuer- und Abgabenpolitik vor, von denen angenommen wird, sie würden sich auf Forderungen zur Verbesserung der Lage der unteren Schichten beziehen. Tatsächlich jedoch bedienen sie damit je nach Zielrichtung unterschiedliche soziale Gruppen und Schichten, seltener jedoch die Menschen, die zu den Einkommensschwachen im unteren Drittel des unteren Drittels der deutschen Gesellschaft gehören und die weniger von niedrigen Steuern, sondern mehr von der Senkung von Abgaben profitieren würden. Dazu gesellt sich das Problem der Kommunikation. Zum einen gehören weder "Unterschicht" noch "Prekariat" zum Vokabular der Parteien; in deren Programmen wird von "sozial Benachteiligten" gesprochen, deren Lage verbessert - oder zumindest nicht verschlechtert werden soll. Zum anderen wird in der Regel im Kontext des herrschenden Reformverständnisses nicht auf die grundsätzliche Dimension der Kritik geantwortet, nämlich auf die Frage, welcher Staat und wie viel Staat erforderlich ist, um welche Reformen zu wessen Nutzen durchzuführen. Zwar sind es gerade die Milieus des unteren Drittels, die eine aktive Rolle des Staates bei der Sicherung ihrer sozialen Situation fordern, die den Eingriff des Staates in die Wirtschaft verlangen, aber sie sind es nicht allein. Die Einstellung, dass beispielsweise die Politik den Wohlfahrtsstaat bewahren bzw. wieder herstellen sollte, findet sich auch in den Milieus des mittleren und oberen Drittels. Denn es wäre unzutreffend, nur im Zusammenhang mit dem unteren Drittel von Exklusion, Desintegration, Prekarität oder Modernisierungsverlieren zu sprechen und vom Rest der Gesellschaft anzunehmen, es handele sich bei diesem um zufriedene Gewinner der sozioökonomischen und politischen Entwicklung. Vielmehr sind längst auch die Milieus des mittleren und teilweise sogar die des oberen Drittels durch den wirtschaftlichen und technologischen Wandel und die damit verbundenen Risiken - jedenfalls gefühlsmäßig - unter Druck geraten, weshalb sich auch dort Verunsicherung, Gefühle der Benachteiligung und der Exklusion finden.
Somit wird der Zustand des Verhältnisses zwischen den Parteien - die noch Teile ihrer sozialen Basis in den unteren Schichten der deutschen Gesellschaft haben - und diesen Schichten durch mehrere Rahmenbedingungen bestimmt; dazu gehört die Konkurrenz der Schichten um Leistungen von Seiten der Politik. Die unteren Schichten reagieren auf die Haltung der großen Parteien in dieser Frage ganz eindeutig: Sie entziehen ihnen, insbesondere der SPD, ihre Gunst. Die großen Parteien, das zeigen Analysen der Bundestags- sowie der Landtagswahlen seit 1998, verlieren in den unteren Schichten mehr und mehr an Zustimmung. Insbesondere im Abgehängten Prekariat wächst die Neigung, entweder überhaupt nicht wählen zu gehen oder sich linken wie rechten Parteien zuzuwenden, um diese als Vehikel für ihren Protest und Agenten ihrer Interessen zu nutzen. Diese Entwicklung wird dadurch gefördert, dass sich insbesondere bei den Menschen dieses Milieus die Erkenntnis verbreitet, mit ihren Wünschen von der Politik nicht wahrgenommen oder sogar vorsätzlich ignoriert zu werden.Die zunehmende Diskrepanz zwischen angekündigten Vorhaben der Parteien einerseits und den tatsächlichen Leistungen andererseits führt zur verstärkten Kritik an den Parteien, zu Parteien- und Politikverdruss und im weiteren zur Kritik an der Leistungsfähigkeit des demokratischen Systems. Auf diese Weise schaffen die Parteien - entsprechend der weit verbreiteten Auffassung, dass Wahlen in der Mitte der Gesellschaft gewonnen werden würden - die Voraussetzungen dafür, dass Politikverdruss in Systemverdruss umschlagen kann. Sie tragen somit dazu bei, die Legitimität der Grundlagen des Systems, in dem sie agieren, zu beschädigen. Ihre rechten wie linken Konkurrenten, die davon leben, dass sie sich der sozialen Widersprüche in dieser Gesellschaft annehmen und meinen, sie mit relativ schlichten Maßnahmen auflösen zu können, profitieren zwar zeitweilig von diesen Stimmungen und Haltungen, können aber grundsätzlich kein Interesse an deren Veränderung haben, da sie sich dann der Grundlagen berauben würden, die sie begünstigen. Deshalb ist es für alle demokratischen Parteien wichtig zu begreifen, dass sie zu einer Politik verpflichtet sind, die gesellschaftlich integrativ und gegen soziale Resignation wirkt, die sozial gerecht ist und zur Aufhebung der sozialen Spaltung beiträgt. Zwar bedeutet dass auch, Forderungen aus den mittleren und oberen Schichten, in denen in der Regel noch Ressourcen zur Bewältigung partieller kritischer Situationen vorhanden sind, zu Gunsten der unteren Schichten zurück zu weisen. Da diese Schichten in allen Parteien die Zusammensetzung der Eliten dominieren, wird sich diese Erwartung kaum erfüllen, obwohl das grundsätzliche Interesse der Parteien im Wettbewerb berührt wird, Wählerinnen und Wähler zu halten. Die Tatsache, dass gegenwärtig fast alle Parteien Wähler aus den unteren Schichten an eine andere Partei verlieren, kann jedoch kein hinreichendes Motiv für die Zuwendung zu den Problemen der Menschen in den unteren Schichten sein. Dieses sollte durch die Erkenntnis bestimmt sein, dass Reformpolitik integrativ und innovativ wirken, das heißt institutionelle, materielle und soziale Voraussetzungen für die uneingeschränkte Zugehörigkeit zur Gesellschaft und Gelegenheiten zur Entwicklung individueller Fähigkeiten - für beides sind Arbeit und Bildung zentrale Politikfelder - auf der Grundlage eines differenzierten Verständnisses von sozialer Gerechtigkeit schaffen muss. Deshalb sollten die Parteien den unteren Schichten ihr Gesicht - nicht den Rücken - zuwenden.