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Prekarität und Prekariat - Signalwörter neuer sozialer Ungleichheiten

Berthold Vogel

/ 17 Minuten zu lesen

Veränderungen der Arbeitswelt haben neue soziale Ungleichheiten zur Folge: Prekarität und Prekariat. Damit im Zusammenhang stehen Fragen des gesellschaftlichen Zusammenhalts und der politischen Gestaltung des Sozialen.

Einleitung

Gibt es noch ein Proletariat? wurde Ende der 1960er Jahre in einer Sendereihe des Bayerischen Rundfunks gefragt. Die Beiträge zu dieser Sendung sind in einem kleinen und heute immer noch sehr lesenswerten Aufsatzband dokumentiert. Antworten auf diese Frage lieferten bekannte Autoren wie der Göttinger Soziologe Hans Paul Bahrdt oder der linkskatholische Publizist Walter Dirks. Im Ergebnis vertraten sie mehr oder weniger einhellig die Auffassung, dass zwar die Verelendung - die Proletarisierung - breiter Bevölkerungsgruppen der Vergangenheit angehöre, aber viele abhängig Beschäftigte immer noch ein Leben am Rande des Existenzminimums und in ökonomischer Unsicherheit führten.


Daran habe auch der umfangreiche Ausbau sozialer Sicherungssysteme in den Nachkriegsjahrzehnten nichts geändert. Vielmehr seien im Zuge der Expansion des Wohlfahrtsstaates für die arbeitenden Klassen sogar neue Formen der Abhängigkeit von Institutionen und Apparaten entstanden. Die politische Hausaufgabe des 19. Jahrhunderts - die Aufhebung der Proletarität der Arbeiterschaft, die aus unterschiedlichen Motiven und in grundverschiedener Sprache, aber in ähnlicher Intensität von Papst Leo XIII. oder Karl Marx gestellt wurde - konnte nach Überzeugung der Autoren des zitierten Bandes bis in die zweite Hälfte des 20.Jahrhunderts hinein noch nicht befriedigend gelöst und bewältigt werden.

Und heute? Sicher würde aktuell kaum jemand die Frage nach der Existenz des Proletariats stellen. In unseren Breitengraden rechtlich gesicherter und staatlich organisierter Wohlstandsgesellschaften ist die Frage nach der Existenz und Wirkkraft der sozialen Klasse der Proletarier von der gesellschaftspolitischen Agenda verschwunden. Doch das gilt nicht nur mit Blick auf das ganz und gar unzeitgemäße Reizwort des Proletariats, das vom Geist klassenkämpferischer Tage umweht wird. Bemerkenswerterweise ist die Arbeiterschaft selbst als soziale Klasse und politischer Akteur aus dem Aufmerksamkeitshorizont der gesellschaftlichen Öffentlichkeiten gerückt. Die Arbeiter, ob in Großindustrie oder im mittelständischen Betrieb, haben ein Repräsentations- und Sichtbarkeitsproblem. Die großen Industriegewerkschaften bekommen das zu spüren, aber auch der tendenzielle Bedeutungsverlust der Industriesoziologie in den Sozialwissenschaften gehört in diesen Zusammenhang. Die beiden französischen Soziologen Stephan Beaud und Michel Pialoux haben diesen Prozess des allmählichen Verschwindens der Arbeiterklasse in ihrer Studie "Die verlorene Zukunft der Arbeiter" eindrucksvoll beschrieben und analysiert. Tritt das Prekariat nun an die Stelle der Arbeiterschaft? Zumindest finden die prekär Beschäftigten aller Branchen und Berufe verstärkt publizistische und fachwissenschaftliche Aufmerksamkeit. Prekär beschäftigt sind nach einer bewährten Definition der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) diejenigen, die aufgrund ihres Erwerbsstatus nur geringe Arbeitsplatzsicherheit genießen, die wenig Einfluss auf die konkrete Ausgestaltung ihrer Arbeitssituation haben, die nur partiell im arbeitsrechtlichen Schutzkreis stehen und deren Chancen auf materielle Existenzsicherung durch Arbeit in der Regel schlecht sind. Klingen nicht in diesen Begriffsbestimmungen des "Prekariats" ähnliche gesellschaftspolitische Sorgen an, wie wir sie aus den vergangenen Debatten um die Existenz und das Potential der Arbeiterklasse kennen - die Sorge um die Verfestigung materieller und kultureller Benachteiligung sowie jene um die Ausweglosigkeit sozialen Handelns und das damit verknüpfte politische Risiko einer tendenziell wachsenden gesellschaftlichen Abkoppelung und Spaltung? Zugleich schwingt neben den besorgten Tönen in der Debatte um das Prekariat immer auch ein Stück Hoffnung mit - die nervöse Erwartung der Politisierbarkeit eines neuen gesellschaftlichen Kollektivs.

Trotz der zunehmenden Aufmerksamkeit für Fragen der Prekarität bleibt unklar, an welchen Orten der Gesellschaft wir die Prekarier finden können. Finden wir sie inmitten unserer Arbeitsgesellschaft oder eher an deren Rändern, in Industriebetrieben als Leiharbeiter und Aushilfsjobber oder in Dienstleistungsbranchen unter Scheinselbstständigen und Ich-AGs? Wohnt das Prekariat in suburbanen und kreditbelasteten Einfamilienhäusern oder in den großstädtischen Hochhaussiedlungen? Handelt es sich eher um Alleinerziehende oder um Familien in Einverdienerhaushalten? Treffen wir das Prekariat morgens in der S-Bahn oder am späten Vormittag im Billigmarkt? Auch wenn wir nicht alle diese Fragen im Detail beantworten können, so fällt bei der Suche nach Antworten doch auf, dass mit der Debatte um prekäre Arbeits- und Lebensformen soziologische und sozialpolitische Fragen verknüpft sind, über das Soziale in veränderter Weise nachzudenken. Prekarität und Prekariat sind Signalwörter neuer sozialer Ungleichheiten, deren Ausgangspunkte in den Veränderungen der Arbeitswelt liegen. Verschiedene Vorstellungen und Bilder der Neuordnung gesellschaftlicher Ungleichheitsverhältnisse lassen sich mit Blick auf die Debatte um Prekarität identifizieren: Einmal dreht sich die Debatte um die Herausbildung einer neuen Unterschicht, ein anderes Mal um die These einer verunsicherten Mittelschicht bzw. einer verstärkten Diffusion sozialer Gefährdungen. Interessant ist schließlich eine empirische Perspektive: Der Begriff der Prekarität weist auf die Entwicklung einer Zwischenzone uneindeutiger Erwerbsverläufe, unsicherer sozialer Perspektiven und rascher biographischer Veränderungen hin.

Diese unterschiedlichen sozialwissenschaftlichen Perspektiven werden wir zunächst in den Blick nehmen. Im Anschluss geht es darum, anhand empirischer Befunde typische Muster und Konstellationen der Prekaritätserfahrung nachzuzeichnen. Der Sozialtypus des Grenzgängers, der sich in prekären Arbeitswelten herausbildet, wird in diesem Zusammenhang vorgestellt. Zum Abschluss werden einige gesellschaftliche Folgewirkungen angesprochen, die mit den Veränderungen hin zu einer differenzierten und vielgestaltigen Arbeitswelt verbunden sind - und wir werden die Frage stellen: Gibt es schon ein Prekariat?

Sozialwissenschaftliche Perspektiven der Prekaritätsdebatte

Die Vorstellung der Prekarität als neues Proletarität erhielt mit der Veröffentlichung der Sinus-Milieustudie im Herbst 2006 öffentliche Aufmerksamkeit. Die Prekarier sind in diesem Forschungskontext die Repräsentanten einer neuen Unterschicht der Abgehängten und Aussichtslosen. Sie können mit den Beschleunigungen kapitalistischer Modernität nicht Schritt halten und sind wohlfahrts- und sozialpolitisch behandlungsbedürftige Modernisierungsverlierer. Der Zugang zu stabiler Beschäftigung ist ihnen verwehrt, sie verfügen über keine verwertbaren Bildungsabschlüsse, ihre Sozialbeziehungen sind nicht gefestigt oder entsprechen nicht den Vorstellungen der sie beobachtenden, versorgenden und regulierenden Mittelklasse. Die Orientierung dieser Prekarier an Leistung, Fortkommen und Disziplin lässt aus der normativen Perspektive der Mehrheitsgesellschaft zu wünschen übrig. Spezifische Erwerbsbiographien und Mentalitäten der Abkoppelung vom gesellschaftlichen Ganzen sind die Folge. Der entscheidende Unterschied zwischen Prekariat und Proletariat ist freilich, dass den Prekariern politisch nichts zugetraut wird. Bei ihnen handelt es sich um eine anonymisierte, zersplitterte Masse, ein Exemplum der "negativen Individualisierung", die "in Begriffen des Mangels - Mangel an Ansehen, Sicherheit, gesicherten Gütern und stabilen Beziehungen - durchdekliniert werden kann." Während das Proletariat als soziale Klasse mit allerlei Heilserwartungen oder politischen Verbesserungsphantasien befrachtet wurde, eignet sich das Prekariat heute eher als neue Projektionsfläche politischer Ressentiments und sozialer Resignation. Das Prekariat scheint in dieser Perspektive ein Ort sozialer Aussichtslosigkeit zu sein.

Einflussreiche und stilprägende Beiträge zur Prekaritätsdebatte weisen in eine andere soziale Richtung. Prekarität ist hier Chiffre der Zersplitterung und der Fragmentierung der sozialen Mitte. Soziale, rechtliche, materielle und berufliche Unsicherheiten breiten sich immer weiter aus. Die Vorläufigkeit und Widerrufbarkeit von Beschäftigungsverhältnissen tritt in den Vordergrund. In der Arbeitswelt setzt sich eine Kultur des Zufalls als betriebliche Organisations- und Herrschaftsform durch. Leben und Arbeit werden in dieser soziologischen Lesart mehr und mehr zur Bürde erzwungener Mobilität und Individualität. Das Diktat des Relativen und das Lob der Beweglichkeit entwickeln sich zu Leitbildern sozialer und wirtschaftlicher Organisation. Statusgefährdungen konzentrieren sich keineswegs mehr allein auf soziale Randzonen, sondern dringen tief in die Kernbereiche der Arbeits- und Sozialwelt ein. Eine Fragmentierung der Arbeitnehmergesellschaft ist die Folge. Das Prekariat wird in dieser Interpretation der Veränderungen des Sozialen zu einem Ort sozialer Ängste und Verunsicherungen. Die Prekarier repräsentieren die Abstiegsbedrohten und die durch Deklasssierung Gefährdeten; mithin alle diejenigen, die unter einer veränderten Marktordnung und der Neujustierung des Politischen zu leiden haben. Status und Wohlstand der Mittelklasse stehen unter Druck. Das Prekariat scheint aus dieser Perspektive ein Ort des sozialen Missvergnügens und der Skepsis zu sein.

Die Debatte um Prekarier als Repräsentanten einer neuen Unterschicht oder als Akteure einer gefährdeten arbeitnehmerischen Mitte verbleibt in weitgehend bekannten Vorstellungswelten des Sozialen. Im Unterschied dazu weist eine eher empirisch orientierte Lesart des Prekariats auf die Herausbildung einer neuen, durch die aktuellen Veränderungen der Arbeitswelt geprägten Soziallage hin. Im Prekariat spiegelt sich die strukturelle, erwerbsbiographische, rechtliche und betriebliche Verstetigung unsicherer Lebens- und Beschäftigungsformen. Hier kommt eine neue gesellschaftliche Zwischenschicht in den Blick, in der die Angst vor dem Abstieg ebenso präsent ist wie die Hoffnung auf Stabilität und Aufstieg. Das Prekariat ist weder Statthalter des Proletariats, noch steht es für den Anfang vom Ende der Mittelschichten. Die Dinge liegen in diesem Fall viel unspektakulärer, aber sind dennoch für die Entwicklung des sozialen Ganzen wirkungsvoll. Aktuelle empirische Befunde einer Studie zu Entwicklung und Verlauf "prekarisierter Erwerbsbiographien" zeigen die allmähliche Herausbildung eines neuen Arbeitsmarktakteurs, der Grenzgänger am Arbeitsmarkt. Wir können die Prekarier mithin als Grenzgänger einer veränderten Arbeitswelt beschreiben. Sie bewegen sich durch das unwegsame Gelände von Minijobs, Praktika, Leiharbeit, befristeten Tätigkeiten und staatlichen Unterstützungsleistungen. Sie stehen nicht mehr nur sporadisch oder periodisch, sondern dauerhaft zwischen Arbeitslosigkeit und Erwerbstätigkeit. Sie pendeln zwischen geförderter und nicht geförderter Beschäftigung, sie sind zwischen auskömmlicher Tätigkeit und Armut trotz Erwerbstätigkeit hin- und her geworfen, sie kämpfen um die Aussicht auf stabile Beschäftigung und gegen berufliche bzw. arbeitsweltliche Ausschlussdynamiken. Die strukturelle Ausprägung dieser Grenzzonen der Arbeitswelt wirft Folgefragen auf. Welche Erfahrungen machen die Prekarier respektive Grenzgänger? Von welcher Beschaffenheit müssen die (wohlfahrtsstaatlichen) Institutionen sein, um adäquat auf neue Soziallagen und Mentalitäten reagieren zu können? Sind wir schließlich durch das Prekariat aufgefordert, die Zukunft des Sozialen stärker vom Rande her zu denken - nicht von der Normalität und Stabilität der Mitte, sondern von der irritierenden und anspruchsvollen Ungewissheit der Ränder? Kurzum, vieles spricht dafür, dass wir unter der Formel der Prekarität neue Arrangements des Sozialen antreffen. Diese Arrangements sind inkonsistent und widersprüchlich. Sie bedürfen empirischer Aufklärung.

Der Sozialtypus des Grenzgängers

Was wissen wir über die Erfahrungen derjenigen, die sich als prekäre Grenzgänger auf den Arbeitmärkten bewegen? Zunächst zeigt sich, dass diese Grenzgänger längst nicht mehr nur aus der angelernten Arbeiterschaft stammen oder aus den Wirtschaftsbranchen, in denen einfache Dienstleistungen angeboten und niedrige Löhne für einfache Tätigkeiten gezahlt werden, in denen Schwarzarbeit und Gelegenheitsjobs zur Normalität gehören, oder in denen rechtliche Standards weniger Geltungskraft als anderenorts besitzen. In diesen Branchen und Segmenten der Arbeitswelt war die Prekarität ja schon immer zu Hause. Zu denken ist hier insbesondere an Hilfsarbeiter in Industrie und Handwerk, aber auch an die zahlreichen schlecht bezahlten und rechtlich oft vogelfreien Frauenjobs im Reinigungs- und Gaststättengewerbe, im Supermarkt oder bei den Pflegediensten. Seit einiger Zeit beginnt sich allerdings das soziale Profil der Grenzgänger zu verändern. In den rechtlich deregulierten und materiell knappen Zonen des Arbeitsmarktes finden sich immer häufiger auch qualifizierte Facharbeiter und Fachangestellte. Die Fragilität und Unsicherheit von Beschäftigung hält Einzug in die stabilen Kernbereiche der Arbeitsgesellschaft - Branchen, die man einst mit besten Karrierechancen und sozialer Sicherheit gleichsetzte: die Autoindustrie, den Maschinenbau, Banken und Versicherungen oder auch die öffentlichen Dienste. Längst ist auch die arbeitnehmerische Mitte der qualifizierten Arbeitnehmer und der in ihren Berufen und Betrieben einst fest verwurzelten Beschäftigten betroffen. Prekarität ist keineswegs überall, aber sie gewinnt für einen Gutteil der auf Sicherheit und Vorwärtskommen orientierten Arbeitnehmerschaft an bedrohlicher Normalität.

Diese Veränderungen der Arbeitslandschaften haben sehr unterschiedliche sozialstrukturelle und biographische Konsequenzen. Die Lebensläufe der prekären Grenzgänger folgen zwar keinem einheitlichen Muster, aber es finden sich doch einige typische Formen und Verläufe.

Exemplarisch können drei Typen genannt werden. Sie stehen für die Verfestigung der Randlagen der Arbeitswelt, für die Dynamik sozialen Abstiegs und beruflicher Entwertung und für neue Strategien des Überlebens und der Selbstbehauptung.

  • Da sind erstens die Jobnomaden, die sich als Grenzgänger im Unterholz der Erwerbsarbeit und in den Randlagen des Arbeitsmarktes gut auskennen. Das bedeutet nicht, dass es ihnen gut geht. Sie haben zwar bestimmte Fertigkeiten entwickelt, die ihnen ihre Rolle als Grenzgänger erleichtern, aber sie sehen sich ständig unter Druck und befinden sich in dauerhaft angespannter finanzieller Lage. Die Jobnomaden wissen sich im Umgang mit den Ämtern zu helfen, aber sie müssen oft auch staatliche Hilfe in Anspruch nehmen, um ihren Lebensunterhalt bestreiten zu können. Sie erhalten über ihre sozialen Kontakte Hinweise auf Jobmöglichkeiten, aber dieses Springen von Job zu Job verfestigt auch ihre Randlage. Viele Kämpfernaturen finden sich hier, die dem öffentlichen Ressentiment wohlfahrtsstaatlich genährter Passivität keineswegs entsprechen. Sie sind sozial sehr beweglich und zeigen eine hohe Kompetenz, mit den Anforderungen komplizierter Arbeitsmärkte fertig zu werden. Wir treffen unter den Jobnomaden auf sehr unterschiedliche soziale und berufliche Milieus. Das Spektrum umspannt Hilfsarbeiter und Akademiker. Arbeitsmarkt- und beschäftigungspolitisch sind sie freilich oft ein schwieriger Fall. Sie entziehen sich gerne den amtlichen Beschäftigungsangeboten und lassen sich ungern therapeutisch und pädagogisch "bearbeiten"; oft hat man den Eindruck, dass sie am besten alleine zu Recht kommen, obgleich sie oft darüber klagen, auf sich alleine gestellt zu sein.

  • Zweitens haben wir es in den prekären Grenzregionen mit Arbeitsmarktdriftern zu tun, die nach einer Biographie sozialen und beruflichen Abstiegs mehr und mehr von der Vielfalt der Wege und von der Uneindeutigkeit der Wegmarken verwirrt sind. Es fällt ihnen schwer, für sich einen Weg in der veränderten Erwerbslandschaft zu finden, der Stabilität in ihre berufliche und soziale Abstiegsgeschichte bringt. Die neuen und vielfältigen Arbeitswelten und Statusformen der Beschäftigung bieten ihnen keine biographischen Anhaltspunkte, an denen sie sich positiv orientieren könnten. Die Arbeitsmarktdrifter haben etwas verloren - ihre betriebliche Position und berufliche Stellung sowie ihr über die Erwerbsarbeit definiertes Selbstwertgefühl. Sie haben zudem ihre materielle Sicherheit eingebüßt, die es ihnen erlaubt, auch als Konsumenten mit anderen mithalten zu können. Statuszerfall und Abstiegserfahrung prägen ihre Erfahrung, obwohl sie noch längst nicht vom Arbeitsmarkt abgehängt sind. Den Abstand zwischen ihrer aktuellen Lage und ihrer Vorstellung von einer gelungenen beruflichen Laufbahn empfinden sie als soziale Beschämung. Sie können nicht nur den Ansprüchen der anderen, sondern auch ihren eigenen Maßstäben nicht gerecht werden. Sie sind die Gruppe, die am meisten beschäftigungspolitischer Unterstützung bedürfen, und sie benötigen Wegmarken, die ihnen neue Stabilität geben.

  • Eine dritte Gruppe unter den Grenzgängern sind schließlich die Pfadfinder der neuen Unübersichtlichkeit, die die verschlungenen Pfade für sich zu nutzen wissen und die auf überraschenden Wegen zum Ziel kommen. Zu den Pfadfindern zählt die viel diskutierte "Generation Praktikum", aber zu ihr zählen auch Leiharbeitskräfte, die gezielt Leihbetriebe ansteuern, um von dort den Einstieg in begehrte Branchen zu finden, oder "kreative Kombinierer", die staatliche Unterstützungsleistungen nutzen, um bestimmte berufliche Ziele zu erreichen. Arbeitsmarktpolitik wirkt bei ihnen allerdings oft auf andere Weise, als sich das Arbeitsmarktpolitiker vorstellen. Viele dieser Pfadfinder durch die neuen Risiko- und Gelegenheitsstrukturen der Arbeitswelt offenbaren zugleich eine veränderte Form der Subjektivität: Rücksichtslosigkeit und Durchsetzungsfähigkeit. Hier entwickelt sich ein Sozialcharakter des Arbeitsmarktindividualismus und des unbedingten Konkurrenzdenkens; ein Sozialcharakter, der beschäftigungspolitisch durchaus gefördert wird. Auf diese Weise werden auch die Veränderungen erwerbsarbeitsbezogener Mentalitäten sichtbar, die sich bewusst von Strategien der Kollektivierung, der Vereinheitlichung und der Standardisierung abwenden.

    An den Erfahrungen dieser prekären Grenzgänger, der Jobnomaden, der Arbeitsmarktdrifter und der Pfadfinder, zeigen sich die Schwierigkeiten der Abgrenzung eines klar erkennbaren "Innen" und "Außen" der Arbeitswelt. Die Erwerbsverläufe und die Orientierungen dieser Grenzgänger zeichnen sich gerade dadurch aus, dass sie sich nicht ohne weiteres auf einen Nenner der Teilhabe oder des Ausschlusses am Arbeitsmarkt bringen lassen. Charakteristisch ist für sie alle eher die anhaltende biographische Spannung, die eine besondere Form sozialer und beruflicher Belastung markiert. Zugleich geben uns die unterschiedlichen Typen der Grenzgänger Hinweise auf die wachsenden Unterschiede zwischen Erwerbsbiographien und Lebensverläufen. Die aktuelle Entwicklung der Arbeitswelt, die mit den Begriffen der Prekarität und der Prekarier umrissen wird, drängt nicht zur Vereinheitlichung oder zur Formierung klarer Spaltungslinien, sondern zur Vervielfältigung von Arbeitswirklichkeiten und Biographien sowie zu einer gewissen Unübersichtlichkeit von Statusformen und Erwerbspositionen.

    Gibt es schon ein Prekariat?



    Gibt es schon ein Prekariat? Wenn wir die Grenzgänger in prekären Arbeitswelten als eine neue Soziallage von Arbeitsmarktakteuren fassen, dann müssen wir diese Frage wohl mit einem vorsichtigen, da in empirischer Forschung noch näher zu prüfenden "Ja" beantworten. Wichtig ist hierbei, dass das Prekariat keineswegs nur ein Produkt veränderter wirtschaftlicher Marktprozesse oder neuer personalwirtschaftlicher Strategien ist, sondern auch das Ergebnis politischer Forcierung und rechtlicher Ermöglichung. Das Prekariat - die Grenzgänger des Arbeitsmarktes - sind wesentlich ein Produkt politischer Entscheidungen. Die Neujustierung der Arbeitsmarktpolitik ("Hartz-Gesetze"), die ein wesentlicher Teil der Geschichte der Prekarität ist, hat zu einer partiellen (nicht generellen) Aufweichung arbeitsrechtlicher Begrenzungen geführt, sie hat die Vervielfältigung von Beschäftigungs- und Statusformen vorangetrieben, und sie hat sich von der Leitlinie verabschiedet, den erreichten Qualifikations- und Sozialstatus derer zu schützen, die ihre alte Arbeit verloren haben und auf der Suche nach neuer sind. Arbeitsmarktpolitik ist keine Statussicherungspolitik mehr.

    Diese grundlegende Neujustierung hat sowohl zur Ausbreitung rechtlich und materiell unsicherer Beschäftigungsformen als auch zur Neudefinition der Grenzen von Stabilität und Instabilität, von Sicherheit und Unsicherheit im Erwerbsleben beigetragen. Die rechtliche und materielle Umgestaltung der Leiharbeit ist hierfür ein Beispiel, aber auch die gezielte Förderung von Mini- und Midijobs oder die gesetzgeberische Animation zur Kleinselbstständigkeit.

    Die Frage nach dem Prekariat hat neben arbeitsmarktpolitischen noch universale gesellschaftliche Dimensionen und Folgewirkungen. Wenn wir das Prekariat und neue Formen sozialer Ungleichheiten in der Arbeitswelt ansprechen, dann geht es um nichts Geringeres als um die Fragen nach künftigen Formen sozialen Zusammenhalts und um die Ermöglichung eines Klimas gesellschaftlicher Stabilität, denn die Abgrenzungskämpfe und die Statuskonflikte zwischen den Beschäftigtengruppen könnten an Kraft gewinnen. Die soziale Frage des Prekariats fordert in ähnlicher Weise wie die Frage des Proletariats die Diskussion um die "Baugesetze der Gesellschaft" heraus.

    Zu diesen strukturellen und normativen Baugesetzen zählt die gesellschaftspolitische und sozialkulturelle Bereitschaft zur "gegenseitigen Verantwortung" und zum "hilfreichen Beistand". Nur in einem solchen Umfeld der Solidaritätsförderung und der Beistandsbereitschaft können sich Wertmaßstäbe entwickeln, nach denen sich die soziale Integrationsfähigkeit und Lebensqualität nicht nur an Beschäftigungsquoten und Fragen wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit bemisst. Die arbeitsmarkt- und sozialpolitische Strategie, welche die Selbstbehauptung, Marktfähigkeit und Durchsetzungsbereitschaft des Einzelnen gegen Andere zu ihrer Maxime deklariert, wird hingegen an der Durchsetzung neuer sozialer, wirtschaftlicher und auch ökologischer Lebensqualitäten sowie an einer generationenverantwortlichen Gesellschaftspolitik scheitern.

    Doch was könnten in Zeiten verfestigter Prekarität und einer wachsenden Soziallage der Grenzgänger diese regulativen Wertmaßstäbe sein? Fairness, Sicherheit und Aufstieg sind drei zentrale Aspekte, die gegen eine betriebswirtschaftliche Reduktion des Arbeitslebens, gegen eine Verschärfung der Unsicherheit als Anreizsystem sozialer Konkurrenz und gegen den rechtlichen wie politischen Ausbau einer prekären und biografisch häufig aussichtslosen Arbeitswelt in Stellung gebracht werden müssen. - Fairness: Der Aspekt der Fairness zielt auf die rechtliche Gewährleistung fairer, übersichtlicher und transparenter Regeln in der Arbeitswelt. Das individuelle wie kollektive Arbeitsrecht spielt hierbei eine zentrale Rolle. Trotz aller Marktkonkurrenz und wirtschaftlicher Konflikte sorgt das Recht für die Einhaltung der Spielregeln. - Sicherheit: In Zeiten gefährdeter sozialer und beruflicher Statuspositionen kommt dem Aspekt der Sicherheit eine sehr hohe Bedeutung zu. Ausgrenzungserfahrungen und Abstiegsängste bedürfen gleichermaßen der politischen Antwort. Die Organisation von Übergangsarbeitsmärkten und Konzepte der "Flexicurity" stehen zur Diskussion. Hier geht es um die wichtige Frage, welche Rechtsformen und welche inner- wie außerbetrieblichen Strategien erfunden werden müssen, um diskontinuierliche Erwerbsverläufe und Situationen prekärer Beschäftigung abzusichern - Jobnomaden, Arbeitsmarktdrifter und Pfadfinder sind gleichermaßen, aber jeder auf seine unterschiedliche Art und Weise sicherheitsbedürftig. Zu diesem Zweck muss eine Neubestimmung des Verhältnisses von zumutbaren Risiken und notwendigen Privilegien, von auferlegten Verpflichtungen und gesicherten Ansprüchen, kurz: von universalen und partikularen Rechten erfolgen. - Aufstieg: In der Aufstiegsfrage kommt die Integration und Kohäsion des Sozialen zur Sprache. Den Zusammenhalt gefährden nicht die, die schon immer am Rand standen, sondern die, die nach neuen sozialen und beruflichen Wegen individueller Selbstbehauptung suchen, aber zu Verlierern zu werden drohen. Gerade sie entwickeln oft eine soziale Mitleidlosigkeit: Sie individualisieren Erfolge und Niederlagen und versuchen, aus dem Versagen der anderen neue eigene Kräfte zu schöpfen.

    In diesen Debatten treten die Sorgen der eben noch Bessergestellten hervor. Schrumpfende soziale Abstände, erweiterte Prekarität und die wachsende Zahl der Unterprivilegierten wecken in einer ungleichheitssensiblen Gesellschaft Ressentiments und Abgrenzungsbedürfnisse. Die soziale Frage des Prekariats ist daher auch eine nach dem Zusammenhalt der Gesellschaft.

    Einen besonderen Hinweis verdient zum Abschluss die Prekarität der öffentlichen Dienste: Ehemals Orte der Beschäftigungsstabilität, des Amtsethos und der Karrieresicherheit, sind diese zu einem nervösen Experimentierfeld prekärer Beschäftigungsformen geworden. Die Soziallage prekärer Grenzgänger verfestigt sich keineswegs nur in industriellen oder in transnationaler wirtschaftlicher Konkurrenz stehenden Arbeitswelten, sondern gerade auch im Bereich öffentlicher Beschäftigung: im Bildungs- und Gesundheitswesen, in der öffentlichen Verwaltung und in den Betrieben der technischen und sozialen Daseinsvorsorge. Es ist bemerkenswert, dass von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt die Gestaltung des gesellschaftlich Allgemeinen mehr und mehr in die Hände eines neuen Dienstleistungsprekariats gelegt wird. Aus Kostengründen, aber auch aufgrund des weit verbreiteten Klimas der (Wohlfahrts-)Staatsvergessenheit und der Bürokratiekritik finden sich in den genannten Bereichen der öffentlichen Dienste kurzfristig Beschäftigte, Mini- und Ein-Euro-Jobber sowie Leiharbeiter. In den Diensten und Sorgeleistungen der kommunalen oder staatlichen Verwaltung treffen wir auf eine systematische Prekarisierung der Prekaritätsbearbeiter, auf eine Verunsicherung der Unsicherheitsbewältiger und eine materielle Abwertung der Armutsverhinderer. Doch der öffentliche Dienst ist nicht irgendeine Branche der Volkswirtschaft, in der irgendwelche Dinge zu besonderen Bedingungen und mit bestimmten Preisen hergestellt und vertrieben werden. Jugendhilfe, Schulbildung und Krankenpflege sind öffentliche Angelegenheiten und keine privaten Kaufentscheidungen wie der Erwerb von Laptops, Küchengeräten oder Mobiltelefonen. Während in der Prekarität der Industriearbeit die Problematiken der Soziallage Einzelner, der Wirtschaftskraft bestimmter Branchen oder der Steuerung der Tarifpolitik verhandelt werden, stellt sich die Lage in den öffentlichen Diensten auf andere Weise dar. Es besteht die Gefahr, dass die Prekarität der öffentlichen Dienste langfristig den normativen Haushalt der Gesellschaft verändert und dazu beiträgt, die Maßstäbe der Gemeinwohlorientierung und der öffentlichen Verantwortung zu verschieben bzw. zu demontieren. In der aktuellen Frage nach der Existenz eines Prekariats geht es nicht minder als in der Frage nach dem Proletariat an die Substanz des Sozialen - nicht nur in materieller, sondern auch in normativer Hinsicht. Die Soziallage prekärer Grenzgänger fordert an unterschiedlichen Orten und mit unterschiedlicher Intensität gesellschaftspolitische Gestaltungsansprüche heraus. Hierauf gilt es sozialpolitische, aber auch soziologische Antworten zu finden, so dass in absehbarer Zukunft über eine Sendereihe mit dem Titel "Gibt es noch ein Prekariat?" berichtet werden kann; eine Sendereihe, die wünschenswerter Weise unter "entprekarisierten" Arbeitsbedingungen von einer öffentlich-rechtlichen Sendeanstalt produziert wird.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Marianne Feuersenger, Gibt es noch ein Proletariat?, Frankfurt/M. 1972.

  2. Vgl. Stéphane Beaud/Michel Pialoux, Die verlorene Zukunft der Arbeiter. Die Peugeot-Werke von Sochaux-Montbéliard, Konstanz 2004.

  3. Vgl. Gerry Rodgers, Precarious Work in Western Europe, in: ders./Janine Rodgers (Hrsg.), Precarious Jobs in Labour Market Regulation. The Growth of Atypical Employment in Western Europe, Genf 1989, S. 1 - 16.

  4. Natalie Grimm/Berthold Vogel, Prekarisierte Erwerbsbiographien. Verläufe, Erfahrungen, Typisierungen. Bericht an das BMAS, Hamburg 2008 (Ms.); Berthold Vogel, Sicher-prekär, in: Stephan Lessenich/Frank Nullmeier (Hrsg.), Deutschland. Eine gespaltene Gesellschaft, Frankfurt/M. und New York 2006, S. 73 - 91.

  5. Vgl. Friedrich-Ebert-Stiftung, Gesellschaft im Reformprozess. Eine Studie von TNS-Infratest, Berlin 2006.

  6. Robert Castel, Die Metamorphosen der sozialen Frage. Eine Chronik der Lohnarbeit, Konstanz 2000, S. 404.

  7. Vgl. Pierre Bourdieu, Gegenfeuer, Konstanz 2004; Serge Paugam/Duncan Gallie, Soziale Prekarität und Integration. Bericht für die Europäische Kommission. Generaldirektion Beschäftigung, Brüssel 2002.

  8. N. Grimm/B. Vogel (Anm.4).

  9. Vgl. Oswald von Nell-Breuning, Baugesetze der Gesellschaft, Freiburg 1968.

  10. Vgl. Berthold Vogel, Die Staatsbedürftigkeit der Gesellschaft, Hamburg 2007, S. 116ff.

  11. Vgl. Martin Kronauer/Gudrun Linne (Hrsg.), Flexicurity. Die Suche nach Sicherheit in der Flexibilität, Berlin 2005.

  12. Vgl. Elke Ahlers, Beschäftigungskrise im öffentlichen Dienst?, in: WSI-Mitteilungen, (2004) 2, S. 78 - 83.;

Dr. disc.pol., geb. 1963; Projektleiter am Hamburger Institut für Sozialforschung, Mittelweg 36, 20148 Hamburg.
E-Mail: E-Mail Link: berthold.vogel@his-online.de