Einleitung
Mit der Unabhängigkeitserklärung im August 1991 trat die im äußersten Westen der vormaligen Sowjetunion gelegene Ukraine als ein neues Migrationsland auf den Plan. Zunächst entwickelten sich die Wanderungsbewegungen in der Ukraine vor dem Hintergrund der auseinanderbrechenden UdSSR und der dramatischen wirtschaftlichen und sozialen Transformation des Landes.
Im Verlauf der 1990er Jahre veränderten sich sowohl die Motive als auch die Richtung der Migrationen in der Ukraine: Der Anteil an Arbeitsemigranten stieg und eine wachsende Zahl von westlichen Staaten, vor allem in der Europäischen Union (EU), wurden zu Adressaten ukrainischer Zuwanderer.
Im Westen hat die neue (Arbeits)migration aus der Ukraine ein starkes Medieninteresse gefunden, das sich jedoch auf die dramatischen Aspekte dieser Wanderungen, wie zum Beispiel Menschenschmuggel oder Zwangsprostitution konzentriert. Das Spektrum der neuen Migrationen aus der Ukraine in die EU ist aber sehr viel breiter: Es schließt Aussiedler und jüdische Kontingentflüchtlinge in Deutschland ebenso ein, wie saisonale Arbeitskräfte, Studierende und Personen, die im Zuge der Familienzusammenführung in EU-Staaten einreisen. Bemerkenswert ist zudem, dass die Migrationen in der Ukraine globale Trends spiegeln, wie beispielsweise eine Feminisierung der Wanderungen, einen hohen Anteil kurzfristiger Migrationen und die zeitnahe Etablierung als Emigrations- und Transitregion. Diese Entwicklungen nimmt der vorliegende Aufsatz zum Anlass, die Hintergründe, Motive und Charakteristika der Migrationsbewegungen aus der Ukraine in die EU aufzuzeigen.
Wichtige Begriffe der Migrationsforschung Internationale Migration Räumliche Bewegung (Wanderung) über nationale Grenzen Arbeitsmigration: Wanderung, um eine bezahlte Tätigkeit aufzunehmen Emigration: Auswanderung aus der Sicht des Herkunftslandes Immigration: Einwanderung aus der Sicht des Adressatenlandes Migrationssaldo: Einwanderung minus Auswanderung (Wanderungssaldo) Kurzfristige Migration: Entsprechend internationaler Konvention werden darunter Wanderungen verstanden, die weniger als ein Jahr dauern
Zahlen und Fakten
Wie bei den meisten internationalen Wanderungsbewegungen ist es auch im Falle der Ukraine nicht leicht, sich ein Bild vom tatsächlichen Umfang der aktuellen Migrationen zu machen. Werden die offiziellen statistischen Angaben in der Ukraine zu Grunde gelegt, dann ergeben sich vergleichsweise niedrige Auswanderungszahlen seit 1996, als die Wanderungsbewegungen innerhalb der vormaligen Sowjetunion an Dynamik verloren. Besonders auffällig ist, dass sowohl Emigrationen als auch Immigrationen in der Ukraine seit diesem Zeitpunkt kontinuierlich abnehmen und dass seit 2005 sogar weniger Menschen das Land verlassen als zuwandern. Diese Entwicklung lässt sich in erster Linie dadurch erklären, dass die ukrainische Statistik nur solche Personen als Emigranten definiert, die das Land auf der Basis einer permanenten Ausreisegenehmigung verlassen. Wer ein Touristenvisum oder ein Visum zum Familienbesuch erhält, aufgrund eines bilateralen Abkommens zur Arbeitsmigration oder zu Studienzwecken ins Ausland geht, gilt offiziell nicht als Emigrant und wird auch nicht in der Migrationsstatistik registriert. Vieles deutet jedoch daraufhin, dass es gerade die kurzfristigen, häufig illegalen Arbeitsmigranten aus der Ukraine sind, die den Hauptanteil der jüngsten Zuwanderungen aus der Ukraine in der EU ausmachen.
Gegen Mitte der 1990er Jahre registrierten Medien und wissenschaftliche Studien erstmals eine zunehmende, überwiegend kurzfristige (Arbeits)wanderung von Ukrainern in Länder der EU und solche Staaten, die nach den Osterweiterungen EU-Mitglieder wurden. Auch offizielle Daten, wie zum Beispiel die von der Organisation für wirtschafliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) herausgegebenen Statistiken bestätigen die zunehmende Einwanderung ukrainischer Staatsbürger in die EU (vgl. Tabelle 1 der PDF-Version).
Ukrainische Immigranten in der EU
Ukrainische (Arbeits)migranten sind in der EU mittlerweile keine Seltenheit mehr. Eine bedeutende Rolle spielen sie in der Tschechischen Republik und in Polen, wo sie jeweils an erster Stelle der Einwanderungsbevölkerung stehen. In der Slowakei und in Ungarn rangiert die Ukraine als zweitwichtigstes Herkunftsland von Immigranten. Auch in Italien, Griechenland, Portugal und Spanien sind Ukrainer vertreten, obwohl ihre Zahl in einigen dieser Staaten in den vergangenen Jahren geringfügig abgenommen hat (vgl. Tabelle 2 der PDF-Version). In Deutschland stehen ukrainische Zuwanderer mittlerweile auf dem achten Platz der ausländischen Bevölkerung, noch vor traditionellen Einwanderungsgruppen wie Spanier und Portugiesen. Festzuhalten ist allerdings, dass die OECD-Statistiken nur legal im Land lebende Immigranten registrieren. Die tatsächliche Zahl der Ukrainer in EU-Staaten dürfte aber aufgrund von illegalen Aufenthalten deutlich höher sein.
Aufgrund der geographischen Nähe, der Einbindung in die EU und der im Vergleich zu ihren östlichen Nachbarn stabilen ökonomischen Entwicklung verwundert es nicht, dass die neuen osteuropäischen Mitgliedsstaaten der EU ukrainische Migranten anziehen.
Obwohl ukrainische Staatsbürger zu der wichtigsten Immigrantengruppe in Polen, Ungarn, der Tschechischen und der Slowakischen Republik zählen, unterscheiden sich ihre Migrationsmuster im Ländervergleich. Ukrainische Arbeitsmigranten in der Tschechischen Republik sind in erster Linie männlich, haben eine vergleichsweise gute Ausbildung und arbeiten dort teilweise über einen längeren Zeitraum, obwohl ihre Familien im Heimatland bleiben. In Polen, Ungarn und der Slowakei sind die ukrainischen Immigranten vor allem mit saisonaler, kurzfristiger und gering qualifizierter Arbeit beschäftigt.
Im Kontext internationaler Migrationsbewegungen ist es eine spannende Frage, warum ukrainische Arbeitsmigranten in südeuropäische EU-Staaten wie Portugal, Spanien, Italien und Griechenland gingen, obwohl keine ökonomischen, ethnischen, kulturellen oder politischen Beziehungen zwischen diesen Staaten und der Ukraine existierten und eine vergleichsweise große geographische Distanz zu überwinden war. Auch sind die südeuropäischen EU-Staaten nicht die ökonomisch erfolgreichsten EU-Länder, was sich als Erklärung für die neue Ost-West-Migration anbieten könnte. Dennoch sind die existierenden Einkommensunterschiede zwischen der Ukraine und den südlichen EU-Staaten groß genug, um für Arbeitsmigranten attraktiv zu sein. Zudem gab es zwei weitere Motive, die eine Wanderung von Ukrainern in diese Regionen auslösten: die große Nachfrage nach flexiblen, gering qualifizierten Arbeitskräften in der Landwirtschaft, am Bau, im Tourismus und bei Haushaltsdienstleistungen und die vergleichsweise wenig regulierte Zuwanderung in diesen Staaten.
Während traditionelle internationale Arbeitsmigrationen - zum Beispiel die so genannte Gastarbeiterbewegung nach West- und Nordeuropa - zu einer Dominanz von Männern in der Immigrantenbevölkerung führte, ist dies bei der ukrainischen Bevölkerung in den EU-Staaten nicht immer der Fall. Zwar leben mehr ukrainische Männer als Frauen in der Tschechischen Republik und in Portugal, wo die Nachfrage nach Immigranten im Baugewerbe und in der Landwirtschaft hoch ist. Dagegen kamen überwiegend ukrainische Immigrantinnen nach Italien und Griechenland, was sich durch die Beschäftigungsmöglichkeiten im Haushalt und in der Pflege erklärt.
Während Immigrationen aus der Ukraine in ost- und südeuropäischen EU-Staaten ein neues Phänomen darstellen, reichen die Migrationsbeziehungen zwischen Deutschland und der Ukraine bereits in die 1950er Jahre zurück, als die Aussiedlerbewegung aus der vormaligen Sowjetunion - und damit auch aus der ukrainischen Sowjetrepublik - ihren Anfang nahm.
Neben Russland, Weißrussland und Moldawien ist die Ukraine das wichtigste Sendeland jüdischer Kontingentflüchtlinge. Aufgrund der Aufnahmeregelungen für (Spät)aussiedler und jüdische Kontingentflüchtlinge hatten dieZuwanderungen aus der Ukraine nach Deutschland bis zur Mitte der 1980er Jahre einen überwiegend ethnischen oder religiösen und politischen Hintergrund. Allerdings kam es in den vergangenen Jahren auch vermehrt zu Arbeitswanderungen sowie Migrationen aufgrund von Ausbildung und Familienzusammenführungen.
Legale versus illegale Wanderungen
Aufgrund der wirtschaftlichen Transformation in der Ukraine und der damit einhergehenden Verschlechterung der ökonomischen Situation verstärkte sich der Druck zur Arbeitsmigration. Da es aber nur wenige Möglichkeiten der legalen Arbeitsmigration für ukrainische Staatsbürger gibt, sind illegale Wanderungen bzw. illegale Arbeitsaufnahmen im Ausland relativ weit verbreitet. In den meisten Fällen reisen die nicht legal beschäftigen Arbeitsmigranten auf legalem Wege ein, zum Beispiel mit einem Besuchervisum, und nehmen dann eine nicht genehmigte Beschäftigung auf. Es kommen aber auch illegale Grenzübertritte vor; oder Migranten bleiben und arbeiten nach Ablauf eines gültigen Visums im Ausland. Diese Formen von Arbeitswanderung sind nur schwer zu erfassen. Es gibt lediglich Schätzungen über (illegale) Arbeitsmigranten und Daten der Legalisierung. Bei diesen Dokumentationen muss jedoch davon ausgegangen werden, dass sie den tatsächlichen Umfang illegaler Wanderungen und Arbeitsaufnahmen unterschätzen.
Im Jahr 2003 gingen die ukrainischen Botschaften davon aus, dass in Portugal und in der Tschechischen Republik jeweils 150 000 Ukrainer, in Italien 200 000 und in Polen 300 000 Ukrainer illegal beschäftigt waren.
In einer Reihe von Fällen wurden die deutschen Touristenvisa jedoch von ukrainischen Arbeitsmigranten genutzt, um nach legaler Einreise in südlichen EU-Staaten, vor allem in Portugal, Italien oder Spanien, zu arbeiten.
Während Menschenhandel, Prostitution und ausbeuterische Arbeitsverhältnisse die Presseveröffentlichungen zur ukrainischen Migration in die EU dominieren,
Fazit
Seit ihrer Unabhängigkeit ist die Ukraine Teil des internationalen Migrationssystems, wobei die Bedeutung der Arbeitsmigration seit der Mitte der 1990er Jahre zugenommen hat. Neben traditionellen Immigrationsländern wie zum Beispiel Russland, wurden auch EU-Staaten - unter anderem Polen, die Tschechische Republik, die Slowakei, Ungarn, Italien und Portugal - zu Adressaten ukrainischer Arbeitswanderungen. Allerdings sind diese Migrationen aufgrund der hohen Barrieren in den westlichen Ländern häufig kurzfristig oder zirkulär. Zudem spielen illegale Wanderungen bzw. die illegale Beschäftigung von ukrainischen Arbeitsmigranten in vielen Staaten der EU eine Rolle. Unstrittig ist, dass wirtschaftliche Motive in den vergangenen Jahren im Zentrum der Wanderungsentscheidungen der Ukrainer standen. Der vergleichsweise hohe Anteil an weiblichen Migranten belegt die Einbindung der Ukraine in Wanderungsformen des Postindustrialismus, die neben Kurzfristigkeit durch eine starke Zunahme von Migrantinnen im Bereich der häuslichen Dienstleistungen, der Pflege und der Kinderbetreuung gekennzeichnet ist.
Während Russland über die Anwerbung von Arbeitskräften nachdenkt und in der EU die Regelung künftiger Arbeitswanderungen aus den neuen Nachbarstaaten im Osten auf der Agenda steht, hat sich die Ukraine in dieser Diskussion noch kaum positioniert. Dabei ist sie in besonderer Weise von den Risiken internationaler Wanderungen betroffen, zum Beispiel durch die legal ungesicherte Position vieler ukrainischer Arbeitskräfte im Ausland und die möglicherweise negativen demographischen und sozialen Folgen der Abwanderung. Allerdings stehen diesen Risiken auch erhebliche wirtschaftliche Gewinne unter anderem in Form der mittlerweile beträchtlichen Geldtransfers ukrainischer Arbeitsmigranten gegenüber. Der Internationale Währungsfonds geht davon aus, dass ukrainische Migranten allein 2006 insgesamt 830 Millionen Dollar in ihre Heimat schickten. Daher sollte es im Interesse der Ukraine sein, sich in Kooperation mit den Adressatenländern für legale Formen der Arbeitsmigration einzusetzen. Strebt die ukrainische Regierung allerdings eine Reduzierung der Arbeitswanderungen an, kann diese nur gelingen, wenn im Land soziale und wirtschaftliche Bedingungen geschaffen werden, die das Bleiben belohnen und eine Rückkehr für Arbeitsmigranten attraktiv machen.