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Eine Theokratie hinter republikanischen Fassaden | Iran | bpb.de

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Eine Theokratie hinter republikanischen Fassaden Machtstrukturen der Islamischen Republik Iran

Wilfried Buchta

/ 16 Minuten zu lesen

In der iranischen Verfassung verschränken sich republikanische und theokratische Institutionen des Staates und bilden ein kompliziertes Hybridsystem. Im Zentrum dieses Systems steht das Revolutionsführeramt, dessen Machtfülle sich erst mit Blick auf die anderen Institutionen erschließt.

Betrachtet man die Staatenwelt des Nahen und Mittleren Ostens und wie sie sich seit 1979 verändert hat, mutet die autoritär regierte Islamische Republik wie eine Insel der Stabilität an. Irans theokratisch legitimierte Autokratie konnte bislang heftigen inneren und äußeren Stürmen erfolgreich trotzen, seien es blutige Richtungskämpfe und Aufstände ethnischer Minderheiten, sei es der opferreiche, achtjährige Krieg gegen den Irak. Das wirft die Frage auf: Was ist das Geheimnis ihrer erstaunlichen Stabilität und Langlebigkeit?

Um darauf Antworten zu finden, muss man ins Jahr 1979 zurückkehren, dem Jahr, als die Weichen für den heutigen Staatsaufbau gelegt worden waren. Denn schon kurz nachdem Schah Mohammad Reza Pahlavi im Januar 1979 Iran fluchtartig verlassen hatte und Ruhollah Khomeini wenige Wochen danach unter dem Jubel von zwei Millionen Iranern aus dem Pariser Exil zurückgekehrt war, begann ein Machtkampf zwischen allen politischen Gruppen, die noch zuvor in der Opposition gegen den Schah zusammengestanden hatten. Die Gewinner waren Khomeinis engste Anhänger. Den Khomeinisten gelang es binnen drei Jahren, Schritt für Schritt alle ihre Konkurrenten kaltzustellen, ins Exil zu treiben oder zu töten. Die wohl wichtigste Entscheidung auf dem Weg zur Monopolisierung der Macht trafen sie im Dezember 1979, als sie per Volksabstimmung die Annahme einer neuen Verfassung erreichten, einer Verfassung, in deren Rahmen ineinander verschränkte republikanische und theokratische Institutionen des Staates ein kompliziertes Hybridsystem bilden (Abbildung).

Irans formelle, verfassungsmäßige Machtstrukturen (© Wilfried Buchta )

Im Zentrum dieses Systems steht das theokratisch legitimierte Revolutionsführeramt. Dessen gewaltige Machtfülle erschließt sich aber erst durch einen Blick auf die übrigen Hauptinstitutionen, die wie kleine Planeten, mal in engeren, mal weiteren Orbits um die Mitte des Sonnensystems, den Revolutionsführer, kreisen. Die wichtigsten Institutionen sind das Parlament, der Präsident und die vier Räte: Wächterrat, Expertenrat, Feststellungsrat und Nationaler Sicherheitsrat. Komplettiert wird der Reigen durch die 1979 auf Geheiß Khomeinis gegründete Armee der Revolutionswächter, in Iran als sepah ("Armee") bekannt, auch "Revolutionsgarden" genannt.

Parlament, Räte, Präsident

Die Zusammensetzung des iranischen Parlaments, das seit 1980 alle vier Jahre gewählt wird und nicht aufgelöst werden kann (Artikel 63 der Verfassung), entspricht zwar nicht demokratischen Standards, weil sich nur vorselektierte regimetreue Kandidaten zur Wahl stellen dürfen. Es ist aber auch kein von bleierner Konformität geprägtes Scheinparlament. Die oft kontrovers geführten und keineswegs inszenierten und gelenkten Debatten zeigen die oftmals erstaunliche Härte und Heftigkeit der Richtungskämpfe zwischen Konservativen, Moderaten und Reformern. Das Parlament stimmt über die Gesetze ab, ratifiziert internationale Verträge und prüft und verabschiedet den Staatshaushalt. Zudem hat es auch das Recht, mittels Misstrauensvoten in die Kritik geratene Minister und sogar den Präsidenten bei Amtsmissbrauch abzusetzen. Und so mancher Minister ist seither schon durch das Parlament gestürzt worden, insbesondere seit 1989. Der Erste, der davon betroffen war, war kein Geringerer als der erste Präsident des neu gegründeten Staates, der ehemalige Khomeini-Vertraute Abolhassan Banisadr, der im Juni 1981 seines Amtes enthoben wurde und ins Exil flüchtete.

Der mit einem Vetorecht ausgestattete Wächterrat ist der Legislative praktisch als parlamentarisches Oberhaus übergeordnet. Er kontrolliert, ob die vom Parlament verabschiedeten Gesetze mit dem islamischen Recht in Einklang stehen. Hat er daran Zweifel, schickt sie der Wächterrat zur erneuten Überarbeitung an das Parlament zurück. Die zwölf für sechs Jahre gewählten Mitglieder des Wächterrats teilen sich in zwei Gruppen auf: Die erste besteht aus sechs vom Revolutionsführer ernannten Geistlichen im Ayatollah-Rang (der zweitwichtigste Titel im schiitischen Islam), die zweite aus sechs auf Vorschlag des Leiters der Judikative vom Parlament ernannten laienreligiösen Juristen. Da der Leiter der Judikative direkt vom Revolutionsführer ernannt wird, sind auch die sechs Laienjuristen des Gremiums loyale Gefolgsleute des Revolutionsführers. Der Wächterrat wird seit 1980 ununterbrochen von Konservativen dominiert. Neben dem Revolutionsführeramt selbst gilt der Wächterrat wegen seiner Schlüsselfunktionen als die wichtigste Institution, die über den theokratischen Charakter des Systems wacht. Er fungiert als oberstes Verfassungsgericht und überprüft vor allen Wahlen (Parlament, Expertenrat und Präsident) die Linientreue der Kandidaten und selektiert ihm ungeeignet erscheinende Kandidaten rigoros aus.

Der Expertenrat ist ein alle acht Jahre vom Volk direkt gewähltes und aus 88 Mitgliedern bestehendes Klerikergremium. Ihm steht nach der iranischen Verfassung das Recht zu, den Revolutionsführer zu wählen und ihn auch – zumindest theoretisch – bei Amtsunfähigkeit zu entlassen. Stirbt der Führer (oder erweist er sich als amtsunfähig), übernimmt ein temporärer Führungsrat aus Präsident, Leiter der Judikative und einem Kleriker aus dem Wächterrat bis zur Wahl eines neuen Amtsinhabers dessen Aufgaben. Zwar kann der Expertenrat einen amtierenden Revolutionsführer wegen schwacher Gesundheit oder nachgelassener Amtstauglichkeit absetzen. Aber das ist blasse Theorie, zumal die Mitglieder des Wächterrats zu den Expertenratswahlen nur Kandidaten zulassen, die dem amtierenden Revolutionsführer, in diesem Fall Ali Khamenei, in Treue ergeben sind und ihm auch als gewählte Expertenratsmitglieder ergeben bleiben.

Der "Rat zur Feststellung des Interesses des Systems", zumeist Feststellungsrat genannt, hat zwei Aufgaben: Erstens ist er diejenige Instanz, die entscheidet, wenn sich Parlament und Wächterrat nicht einigen können und dadurch das Gesetzgebungsverfahren blockiert ist. Zweitens soll er laut Verfassung den Revolutionsführer beraten. Er hat im Augenblick 43 Mitglieder, die alle vom Revolutionsführer bestimmt wurden. Zu Lebzeiten des mächtigen früheren Präsidenten, Ali-Akbar Hashemi Rafsanjani, der dem Gremium lange vorstand, war der Feststellungsrat, relativ einflussreich. Aber spätestens nach Rafsanjanis Tod, 2017, verkümmerte er zu einer Art von Pensionsheim oder Abstellgleis für ehemals wichtige Spitzenfunktionäre.

Die Befugnisse der Exekutive liegen in der Hand des alle vier Jahre neu gewählten Präsidenten, dessen Amtszeit auf acht Jahre begrenzt ist. Als Regierungschef ernennt und entlässt der Präsident die Botschafter, die Minister, die vom Parlament bestätigt werden müssen, und über den Innenminister die Gouverneure der 31 iranischen Provinzen. Außerdem ernennt er die Leiter zweier für die Gestaltung der Finanz- und Wirtschaftspolitik außerordentlich wichtigen Organisationen, der Zentralbank und der Planungs- und Budgetorganisation, die beide den Präsidenten unterstützen, wenn er zusammen mit dem Parlament den Staatshaushalt aufstellt. Darüber hinaus hat er den nominellen Vorsitz im Nationalen Sicherheitsrat inne, ein mit zwölf ständigen Mitgliedern besetztes Gremium, das alle Regierungsaktivitäten in Fragen der Verteidigung, der Nachrichtendienste und Außenpolitik koordiniert. Seine Mitglieder sind die Leiter von Exekutive, Judikative und Legislative, des Streitkräfte-Generalstabs, der Planungs- und Budgetorganisation, der Außen-, Innen- und Geheimdienstressorts, der Revolutionswächter und regulären Armee, der mit der jeweils aktuellen Problematik befasste Ressortminister und zwei Vertreter des Revolutionsführers. Da sich Letztere auf die Autorität des Revolutionsführers stützen, haben sie in der Regel bestimmenden Einfluss im Gremium und sind dem nominellen Vorsitzenden des Rates, das heißt dem Präsidenten, de facto übergeordnet. Einer der beiden Khamenei-Vertreter fungiert dort als Generalsekretär des Sicherheitsrates und ist dort dessen autorisierte Stimme; der aktuelle Präsident Hassan Rouhani war dort von 2003 bis 2005 Generalsekretär.

Der Präsident wiederum untersteht dem Revolutionsführer. Er führt dessen Direktiven aus und hat auch keine Kontrolle über die Streitkräfte. Gleichwohl ist die Rolle des Präsidenten als Nummer Zwei des Systems nicht zu unterschätzen, denn sollten Konflikte der zwei Regimespitzen in eine offene Konfrontation münden, drohen eine Blockade des Systems oder schlimmstenfalls dessen Abgleiten in Anarchie und Chaos. Deshalb bemüht sich der Revolutionsführer stets darum, den Präsidenten in die Grundausrichtung der Innen- und Außenpolitik einzubinden, was zum Beispiel in den wöchentlichen Vier-Augen-Gesprächen stattfindet.

Revolutionsführer

Den Schwerpunkt der Macht legte die neue Verfassung jedoch auf das Khomeini auf den Leib geschneiderte theokratische Amt des "Herrschenden Rechtsgelehrten", in Iran zumeist rahbar ("Revolutionsführer") genannt. Dieses Amt gründete auf einem von Khomeini im irakischen Exil in Nadschaf bereits 1970 ausformulierten Konzept der velayat-e faqih. ("Rechtsgelehrtenherrschaft"). Gestützt auf seine eigene Interpretation bestimmter Koranverse und tradierter Aussprüche der Imame und des Propheten Mohammed, rechtfertigte Khomeini die Herrschaft eines faqih, eines besonders qualifizierten, politisch bewussten und gerechten schiitischen Rechtsgelehrten. Da er alle anderen qua politischer Führungsstärke und theologischem Wissen überrage, habe er das Recht zu herrschen, um den Islam zu retten und das Reich der Gerechtigkeit des verborgenen Zwölften Imam der Schiiten, des Mahdi, zu vertreten und vorwegzunehmen. Abgeleitet aus Khomeinis Konzept, entstand so das Amt des Revolutionsführers, der die Generallinien der Innen- und Außenpolitik vorgibt. Er kontrolliert Polizei und Justiz, die Revolutionsgarden, die reguläre Armee und die staatliche Fernseh- und Rundfunkbehörde. Er verkörpert eine Instanz, die befugt ist, die republikanischen Verfassungsorgane des Präsidenten und des Parlaments außer Kraft zu setzen, sollten sie gegen die Interessen des Systems und die Ziele der Revolution handeln.

Als Khomeini am 3. Juni 1989 starb, wählten die im Expertenrat vertretenen wichtigsten Kleriker schon zwei Tage danach den bisherigen Präsidenten, Ali Khamenei, zum neuen Revolutionsführer. Damit verhinderten sie ein Machtvakuum, dass das System hätte destabilisieren können. Mit dem Tod Khomeinis endete die Ära der charismatischen Autokratie. Khomeini hatte wegen seiner theologischen Qualifikation als schiitischer Großayatollah, seines unbeugsamen Widerstands gegen die Monarchie und seines Charismas unangefochtene politische Autorität genossen. Khamenei fehlten alle diese Qualifikationen. Als eher blasser Kompromisskandidat der verschiedenen Flügel der Regimeelite musste er mehrere Jahre darum ringen, diese Mankos zumindest teilweise auszugleichen. Er setzte von Anfang an auf administratives Mikromanagement und feinmaschig gesponnene Kontrollnetzwerke. Zu Beginn stützte er sich dabei auf die Kooperation mit Irans damaligen starken Mann, Präsident Rafsanjani, der zuvor auch Khameneis Kandidatur zum Sieg verholfen hatte. Nach und nach gelang es ihm, sich aus dem übermächtigen Schatten Rafsanjanis zu lösen und die wichtigsten Offiziere der Revolutionswächterarmee und große Untergruppen aus dem konservativen Lager auf seine Seite zu ziehen. Dank ihrer Hilfe und dank des von ihm massiv ausgebauten Revolutionsführerbüros, das mit seinen schätzungsweise 300 Mitarbeitern seither als wichtigste Schaltzentrale des Regimes gilt, sicherte Khamenei seine Macht ab.

Aber ist damit die Macht des Revolutionsführers nicht unbeschränkt? Nein, ein Faktor setzt ihm Grenzen: das multiple Gefüge aus verschiedenen permanent miteinander rivalisierenden Machtzentren. In der Khomeini-Dekade von 1979 bis 1989 kristallisierten sich drei, jeweils in verschiedene, noch kleinere Untergruppen zerfallende Lager heraus: die Konservativen, die innen- und außenpolitisch pragmatischen Moderaten und schließlich die Linksislamisten, aus denen später, ab 1995, als sie sich politisch gemäßigt hatten, die heutigen, nach innenpolitischer Liberalisierung strebenden Reformer hervorgingen. Alle Elitefraktionsgruppen einschließlich der Reformer vertreten nicht nur eigene materielle Interessen, sondern auch die ihrer Klientel, deren Bedürfnisse sie durch die Einnahmen aus von ihnen geführten Staatsfirmen und Stiftungen befriedigen. Dass sich dabei alle diese Elitefraktionsgruppen der Vetternwirtschaft und Korruption schuldig gemacht haben (und weiterhin machen), ist weithin bekannt. Um wichtige Entscheidungen durchzusetzen, muss auch Khamenei oft das Prinzip des Quid pro quo befolgen und bestimmten Schlüsselakteuren des Regimes bisweilen für ihr Entgegenkommen und ihre Loyalität Gegenleistungen anbieten. Khamenei verwendet viel Zeit und Mühe darauf, dieses hochkomplexe System zu stabilisieren und auszutarieren, sei es, indem er sich mal auf die eine, mal auf die andere Seite schlägt, sei es, indem er Rivalen gegeneinander ausspielt, zwischen ihnen vermittelt oder schlichtet.

Revolutionsgarden

Das zweitstärkste Machtzentrum Irans sind die Revolutionsgarden. Der Republikgründer Khomeini rief sie im Mai 1979 ins Leben, weil die neue Machtelite der artesh, der alten, vom Schah gegründeten und im Geist des iranischen Nationalismus geschulten Armee, misstraute. Die Armee der Revolutionswächter sollte als schlagkräftige Parallelstreitmacht dienen und die Revolution und das Regime vor inneren und äußeren Feinden schützen. So schlugen sie 1979 nicht nur die Aufstände der separatistischen Minderheiten der Kurden, Belutschen und Turkmenen nieder, sondern besiegten 1981 auch die islamo-marxistischen Volksmujahedin, die nach ihrem Bruch mit Khomeini zur größten Gefahr der Islamischen Republik aufgestiegen waren. Ihre erste Feuertaufe in einem konventionellen Krieg erlebten die Revolutionsgarden, als die Truppen des irakischen Diktators Saddam Hussein im September 1980 in Iran einmarschierten. Sie schufen im Krieg ihre eigenen Teilstreitkräfte, mit Bodentruppen, Luftwaffe und Marine, und sind heute dank der Protektion der Mullahs, der niederen geistlichen Würdenträger, den herkömmlichen Streitkräften waffentechnisch und finanziell überlegen. Zugleich etablierten sie mit Billigung der zivil-klerikalen Führung eine von ihnen geführte 90000 Mann starke Massenmiliz, die Basij ("Mobilisierung"). Die Zahl der Mitglieder ist inzwischen weiter gestiegen, offizielle Angaben darüber liegen nicht vor. Die Basij unterhalten ein landesweites Netz von Militärposten in ländlichen Regionen und in den Elendsquartieren der Großstädte, viele davon in Moscheen. Sie sind die lokalen Augen, Ohren und Knüppel der Mullah-Herrschaft. Somit gehört es zu ihren Hauptaufgaben, die religiös-ideologischen Kleider- und Verhaltensnormen durchzusetzen und Proteste niederzuschlagen.

In der ersten Dekade der Islamischen Republik entstand eine bis heute gültige Arbeitsteilung: Die politisch neutralisierte Armee mit ihren 350.000 Mitgliedern ist für die konventionelle Landesverteidigung gegen äußere Feinde zuständig, und ihre Soldaten sind überwiegend in Kasernen nahe den Grenzen Irans stationiert, während das Aufgabenfeld der Revolutionsgarden in der Verfassung von 1979 viel breiter gefasst ist. So obliegt ihnen nicht nur die Verteidigung der Revolution, der islamischen Ordnung und der nationalen Sicherheit, sondern auch der "Revolutionsexport". Weltweit sollen sie alle "unterdrückten Muslime" schützen und verteidigen. Ein weit gestecktes Ziel, das Teheran durchaus ernst nimmt: 1990 wurde die Spezialeinheit der Quds-Brigaden etabliert, die Teheran als eigenen Arm für Untergrundaktivitäten im Ausland nutzt. Die Quds-Brigaden haben sich seitdem zu einem mächtigen, militärisch-nachrichtendienstlichen Apparat entwickelt. Von 1998 bis 2020 standen sie unter dem Kommando von General Qasem Soleimani. Nachdem Soleimani im Januar 2020 in Bagdad durch eine Drohnenattacke der US-Luftwaffe getötet worden war, übernahm Esmail Ghaani seinen Posten. Die programmatische Benennung – al-Quds ist der arabische Name für Jerusalem – verrät dabei viel über die Expansionsziele der iranischen Hardliner, die sich auf die Befreiung Palästinas und die Vernichtung des israelischen Staates richten. Seit den 1990er Jahren konnten die Quds-Brigaden im Libanon, im Irak und in Syrien zahlreiche lokale Verbündete gewinnen. Deshalb besitzt das iranische Regime mittlerweile beherrschenden Einfluss auf die politischen Entscheidungsträger in diesen Ländern. Im Ringen um die machtpolitische Hegemonie im Nahen und Mittleren Osten ist das ein wichtiger Trumpf, den Teheran gegen seinen Hauptrivalen, Saudi-Arabien, immer wieder erfolgreich einsetzt.

Nach 1989 erschlossen sich die Revolutionsgarden Irans Wirtschaft als ein gigantisches neues Betätigungsfeld. Ausgangspunkt dafür bildete das Ende des Iran-Irak-Kriegs 1988. In der Hoffnung, den beschäftigungslos gewordenen Veteranen eine unabhängige Einnahmequelle zu erschließen und damit den Staatshaushalt zu entlasten, beauftragte sie der damalige Präsident Rafsanjani mit dem Wiederaufbau von Infrastruktur und Industrie in den vom Krieg zerstörten Regionen. Ein folgenreicher Fehler: Ebnete Rafsanjani ihnen damit doch unbeabsichtigt den Weg zum Aufbau eines gigantischen Firmenimperiums, das heute Irans Staatshaushalt und Wirtschaft auszuhöhlen droht. Gestützt auf das Ingenieursfirmenkonglomerat Khatam al-Anbiya ("Siegel der Propheten") engagierten sich fortan viele Generäle als Unternehmer in Uniform in diversen Wirtschaftssektoren. Die Bandbreite der Aktivitäten ist enorm: Sie beginnt bei der Erschließung von Öl- und Gasfeldern, reicht über den Bau von Raffinerien, Straßen, Staudämmen, Eisenbahnen, U-Bahnlinien, See- und Flughäfen, umfasst den Betrieb von Minen, Autofabriken und Hotelketten und endet bei der Entwicklung von Raketen, Drohnen und anderem Kriegsgerät. Zudem unterhalten die Revolutionsgarden noch zahlreiche Versicherungen, Kreditinstitute und private Banken, letztere oft sogar mit Filialen im Ausland. Sie betreiben darüber hinaus zahlreiche Zeitungen, Zeitschriften, Nachrichtenagenturen, Universitäten, Think-Tanks und Telekommunikationsfirmen.

Bei vielen internationalen wirtschaftlichen Transaktionen scheint es sich um kriminelle Geschäfte zu handeln. Laut US-Schatzministerium dienen viele ausländische Unternehmen den Revolutionsgarden nur als Tarnfirmen, hinter deren Fassaden Öl und andere Waren geschmuggelt, Geld gewaschen, Schwarzgeld gedruckt oder Drogenhandel betrieben wird. Und so nimmt es nicht wunder, dass ein Großteil der seit Anfang der 1990er Jahre erlassenen US-amerikanischen Sanktionen, die sich gegen Iran als internationalen Terrorsponsor richten, auf Institutionen und Schlüsselakteure innerhalb dieses Wirtschaftsimperiums zielt. Gegenwärtig schätzt man, dass die Revolutionsgarden weit über 1200 Firmen und Unternehmen in Iran und im Ausland besitzen. Zumeist kooperieren sie mit einer oder mehreren der 120 finanzstarken religiösen Stiftungen, den sogenannten Bonyads, die direkt dem Revolutionsführer unterstehen. Damit kontrollieren die Revolutionsgarden mindestens 40 Prozent der gesamten iranischen Wirtschaft; andere Schätzungen liegen noch weit höher. Die meisten Iran-Experten glauben, dass ihre Geschäfte ein jährliches Volumen von mindesten 140 Milliarden US-Dollar haben.

Der Einflusszuwachs der Revolutionsgarden beschränkte sich nicht nur auf das Feld der Wirtschaft. Mittlerweile reichen ihre Tentakel auch in die Exekutive und Legislative hinein. Seit 2004 ist etwa der Anteil von ehemaligen Revolutionswächtern im Parlament sprunghaft angestiegen. Derzeit sind schätzungsweise 60 bis 90 der insgesamt 290 Parlamentsabgeordneten ehemalige Offiziere der Revolutionsgarden, einschließlich des seit 2007 amtierenden Parlamentspräsidenten Ali Larijani. Und in den Kabinetten der Präsidenten Mahmoud Ahmadinejad und Hassan Rouhani finden sich ebenfalls etliche ehemalige Offiziere der Nebenarmee.

Die Revolutionsgarden verfügen heute über eine Truppenstärke von etwa 120.000 Mann, von denen ein Gutteil im Bereich der inneren Sicherheit tätig ist. Aus ihren Reihen rekrutieren sich die Leibwächter von Spitzenpolitikern und Elitekadern. Sondereinheiten übernehmen zudem den Schutz von sicherheitsrelevanten strategischen Anlagen wie Flughäfen, Atomanlagen, Forschungslabors und Dokumentenzentren. Außerdem unterhalten sie einen eigenen, vom Geheimdienstministerium unabhängigen Nachrichtendienst, der im In- und Ausland operiert. Eine Sondereinheit dieses Geheimdienstes kooperiert eng mit der vom Revolutionsführer kontrollierten iranischen Justiz. Als "Justizpolizei" dient sie ihr bei Ermittlungen, der Beweisaufnahme und Verhören. Eine weitere Sonderheit kontrolliert einen Teil der iranischen Gefängnisse, insbesondere den Hochsicherheitstrakt im berüchtigten Teheraner Evin-Gefängnis. Ein Großteil der massiven Repressionen gegen Oppositionelle, kritische Journalisten und NGO-Vertreter geht auf das Konto dieser Sondereinheiten. Mit willkürlichen Verhaftungen gegen vermeintliche Terroristen und Spione produzieren die Revolutionsgarden unentwegt auf Basis von Folter entstandene Beweise für die Destabilisierung Irans durch externe Feinde, namentlich Israel und USA.

Kämpfe um Öffnung

Durch den Dualismus zwischen Theokratie und Republikanismus, jeweils verkörpert im Revolutionsführer respektive dem Präsidenten, sind Reibungsverluste und Rivalitäten zwischen den beiden unausweichlich. Herausgefordert durch Versuche, sich mehr Unabhängigkeit zu ertrotzen, brachte Khamenei jeweils jeden der Präsidenten während entscheidender Etappen ihrer Amtszeit durch Machtworte wieder "auf Linie". Die bittere Erfahrung, sich Khameneis Willen beugen zu müssen, teilten bisher alle Präsidenten. Und so verbaute Khamenei sowohl dem moderaten Rafsanjani (1989–1997) als auch dem Reformer Mohammad Khatami (1997–2005) den Weg, als sie behutsam versuchten, das System nach außen zu öffnen und nach innen zu liberalisieren. Der zwischen 1989 und 1997 erfolgte weitere Ausbau des Geheimdienst- und Repressionsapparats erfolgte zwar in Absprache mit Rafsanjani. Aber die treibende Kraft und der Hauptnutznießer war vor allem Khamenei. Auch der auf Khatami folgende ultra-konservative Hardliner Ahmadinejad (2005–2013) wurde zuletzt von Khamenei ausgebootet. Eine Wende, die viele Beobachter angesichts ihrer ideologischen Übereinstimmungen überraschte. In den ersten Jahren ging Ahmadinejad im Einvernehmen mit Khamenei auf Konfrontationskurs mit den USA und Israel, indem er das iranische Atomprogramm forcierte. Zugleich schränkte er die verbliebenen Reformmaßnahmen Khatamis bei der Meinungs- und Pressefreiheit wieder drastisch ein. Derartige Linientreue sollte sich 2009 für Ahmadinejad auszahlen. Als es bei seiner Wiederwahl zu massiven Protesten kam, die sich an den Wahlmanipulationen zugunsten des Amtsinhabers entzündet hatten, schritt Khamenei ohne zu zaudern ein und befahl, die offenkundig gefälschten Wahlergebnisse anzuerkennen und die Proteste gewaltsam niederschlagen zu lassen.

Doch als Ahmadinejad 2011 den Geheimdienstminister, der in Wahrheit nicht ihm, sondern Khamenei zuarbeitete, entlassen wollte, fiel er in Ungnade. Als er zwei Jahre später aus dem Amt schied, war das Land außenpolitisch fast vollständig isoliert und aufgrund der Sanktionen des Westens wirtschaftlich fast bankrott. Um einen drohenden Krieg mit den USA und einen Wirtschaftskollaps abzuwenden, war Khamenei zu mehr Flexibilität und Pragmatismus gezwungen. Und so billigte er 2013 die Präsidentschaftskandidatur Hassan Rouhanis, eines moderaten Konservativen, der die Atomverhandlungen mit dem Westen befürwortete in der Hoffnung, dass die Wirtschaftssanktionen aufgehoben werden. Nachdem Rouhani mit den Stimmen der Moderaten und Reformer ins Amt gewählt worden war, gelang es ihm im Juli 2015 dank Khameneis Rückendeckung, das Wiener Atomabkommen mit den UN-Vetomächten und Deutschland abzuschließen. Aber auch Rouhani, der seine Wahl 2013 nicht zuletzt dem bislang uneingelösten Versprechen verdankte, die Wirtschaftskrise zu lösen und den Rechtsstaat zu stärken, ist bis heute weitgehend machtlos geblieben.

Die Revolutionsgarden und der konservative Flügel der Staatselite stützen sich gegenseitig und sind um des Machterhalts willen voneinander abhängig. Die Revolutionsgarden wollen um jeden Preis die von Reformern und Moderaten angestrebte Öffnung des wirtschaftlichen und politischen Systems verhindern. Deren Ablehnung hat dabei nicht nur ideologische Gründe: Mindestens ebenso schwer wiegt die Furcht, ihre politische Macht und ihre wirtschaftlichen Pfründen zu verlieren, wenn durch eine Liberalisierung die Rechtsstaatlichkeit und das Privatunternehmertum gestärkt und auch die Konkurrenz ausländischer Investoren zugelassen würde. Khamenei wiederum ist auf die militärische Stärke der Revolutionsgarden angewiesen. Verdeutlicht hat dies jüngst auch der Verlauf und das Ende der durch die Erhöhung der Benzinpreise ausgelösten Massenunruhen vom November 2019. Entzündet hatten sie sich auch an der bitteren Klage über die extreme Verschwendung von Geldern für die von den Revolutionsgarden aggressiv betriebene regionale Machtexpansion Teherans; Gelder, die für die Gesundung der Wirtschaft Irans und die Versorgung der Bevölkerung fehlen. Die Revolutionsgarden, die sich an der gewaltsamen Unterdrückung der Unruhen, die mindestens 500 Tote forderte, beteiligten, erwiesen sich erneut als treue Verteidiger des theokratisch legitimierten Machtmonopols der Mullahs, an deren Spitze Khamenei steht. Die Macht der iranischen Revolutionsgarden, so viel steht fest, wird in Zukunft noch wachsen. Ob indes die Armee der Revolutionswächter, wie von einigen Beobachtern spekuliert wird, selbst nach der Macht greifen wird, erscheint eher fraglich. Wahrscheinlicher ist, dass nach Khameneis Abtritt von der politischen Bühne und dem Ausbruch erbitterter Kämpfe um dessen Nachfolge den Revolutionsgarden die Rolle der "Königsmacher" zufällt. Wer auch immer durch deren Gunst Irans zukünftiger Revolutionsführer wird, hat eine Dankesschuld abzutragen, die ihn in große, einseitige Abhängigkeit von den Revolutionsgarden bringen dürfte.

ist promovierter Islamwissenschaftler und arbeitete von 2005 bis 2011 in Bagdad als politischer Analyst für die UNO-Mission im Irak. Er ist ein international anerkannter Experte zu den Themen Iran, Irak und Schia, über die er zahlreiche Publikationen veröffentlicht hat. Externer Link: https://wilfried-buchta.de