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Schiiten und Sunniten | Iran | bpb.de

Iran Editorial Die Atomvereinbarung mit Iran. Gegenstand, Genese, Gefahren Sicherheitsdenken und Machtprojektion. Iran im Nahen Osten Schiiten und Sunniten. Ein politisch-religiöser Konflikt der Gegenwart Von Verbündeten zu Erzfeinden. Zur kurzen, aber wirkmächtigen Geschichte der USA-Iran-Beziehungen Eine Theokratie hinter republikanischen Fassaden. Machtstrukturen der Islamischen Republik Iran Irans Wirtschaft im Zeichen von US-Sanktionen und Corona-Krise Irans Zivilgesellschaft. Soziales Engagement und politischer Aktivismus in einem autoritären Staat Karten

Schiiten und Sunniten Ein politisch-religiöser Konflikt der Gegenwart

Guido Steinberg

/ 7 Minuten zu lesen

Die zwei wichtigsten Strömungen im Islam sind das Sunnitentum und das Schiitentum. Ihr Gegensatz prägt nicht nur die Außenpolitik Irans und Saudi-Arabiens. Aus einem alten religiösen Gegensatz hat sich ein aktueller politisch-religiöser Konflikt entwickelt.

Der Gegensatz zwischen Schiiten und Sunniten geht auf die Frühzeit des Islam im 7. Jahrhundert zurück. Im Zentrum steht der Streit um die legitime Nachfolge des Propheten Muhammad (gestorben 632). Nach seinem Tod übernahmen loyale Weggefährten das Amt des Kalifen (arabisch für Nachfolger). Dagegen protestierten die Anhänger der Blutsverwandten des Propheten. Sie beharrten darauf, dass dessen nächster männlicher Verwandte Ali Ibn Abi Talib – Cousin und Schwiegersohn Muhammads – sein rechtmäßiger Nachfolger sei. Zwar wurde Ali im Jahr 656 der vierte Kalif, doch begann mit seiner Amtsübernahme ein Bürgerkrieg, der 661 mit dem Tod Alis und der Machtübernahme seiner Widersacher endete. Den Anhängern Alis, die auch Shi’at Ali (= Partei Alis, daher die Bezeichnung Schiiten) genannt wurden, galten aber weiterhin nur die Imame genannten direkten Nachfahren Muhammads und Alis als legitime Herrscher der Muslime.

Alis Sohn und dritter Imam Husain scheiterte im Jahr 680 mit dem Versuch, die Macht im arabischen Weltreich zu erobern. Nach seinem Tod im irakischen Kerbela fügten sich die folgenden Imame in ihr Schicksal, wurden aber dennoch verfolgt. Ihre Linie endete mit dem zwölften Imam Muhammad al-Mahdi (al-Mahdi = der Rechtgeleitete), der im Jahr 941 verschwand und nach schiitischer Lehre am Ende der Zeiten als Erlöser wieder auf die Erde zurückkehren wird. In den folgenden Jahrhunderten blieben Schiiten eine häufig unterdrückte sowie verfolgte Minderheit und entwickelten eine stark von Ohnmacht und Verfolgung geprägte politische Theorie. Der unter den Schiiten vorherrschenden Meinung zufolge war politische Macht in der Abwesenheit des Imam Mahdi illegitim, und die Gelehrten und Gläubigen hätten sich von den politischen Herrschern ihrer Zeit fernzuhalten. Die islamischen Großreiche der nächsten Jahrhunderte wurden meist von sunnitischen Dynastien – wie den Abbasiden, Mamluken, Moguln und Osmanen – beherrscht, in denen wiederkehrende Konflikte zwischen den Konfessionen sich mit langen Friedensphasen abwechselten. Zu größeren Auseinandersetzungen kam es meist, wenn Schiiten politische Macht übernahmen, so etwa als mit den Fatimiden zwischen dem 10. und dem 12. Jahrhundert eine schiitische Dynastie Teile Nordafrikas und Ägypten beherrschte, und eine sunnitische Gegenreaktion folgte, die zur Zerstörung des Fatimidenreichs führte.

Ein uralter Gegensatz wird zum Konflikt der Gegenwart

Bis in die Gegenwart blieben Schiiten und Sunniten meist voneinander getrennt und hegten tiefsitzende Ressentiments gegeneinander. Mit dem Aufstieg des schiitischen und sunnitischen Islamismus seit den 1960er Jahren wurde aus dem alten religiösen Gegensatz jedoch ein politisch-religiöser Konflikt der Gegenwart. Von den rund 1,6 Milliarden Muslimen weltweit sind schätzungsweise 85 bis 90 Prozent Sunniten. Allein im Irak, in Iran, Aserbaidschan und Bahrain sind Schiiten in der Mehrheit.

Der gegenwärtige schiitische Islamismus wurde in erster Linie durch den "Khomeinismus" geprägt. Ajatollah Ruhollah Khomeini (1902–1989) revolutionierte die schiitische politische Theorie, indem er der traditionellen Politikferne und dem Quietismus, also der Passivität seiner gelehrten Kollegen in öffentlichen Angelegenheiten, eine Absage erteilte. Er argumentierte vielmehr, dass der führende Rechtsgelehrte seiner Zeit die Gläubigen bis zur ersehnten Wiederkehr des Imam Mahdi nicht nur religiös, sondern auch politisch anführen müsse. Khomeini forderte einen islamischen Staat, in dem die Kleriker alle Lebensbereiche beaufsichtigten. Die erfolgreiche Revolution in Iran 1979 gab ihm nicht nur die Gelegenheit, die Theorie der "Herrschaft des Rechtsgelehrten" (persisch velayat-e faqih) in die Praxis umzusetzen, sondern selbst als dieser Gelehrte zu fungieren.

Die Ereignisse von 1979 waren ein Auslöser des heutigen Konflikts zwischen Schiiten und Sunniten. Um ihre Ideen zu verbreiten, suchten die iranischen Revolutionäre in der arabischen Welt nach Verbündeten und fanden diese vor allem unter schiitischen Gruppierungen wie der libanesischen Hizbullah, die 1982 gegründet wurde. Vor allem Staaten, in denen wie in Saudi-Arabien, Kuwait und Bahrain starke schiitische Gemeinschaften lebten, sahen in der Politik des Revolutionsexports zu Recht eine direkte Bedrohung. Die Regierungen dort betrachteten die arabischen Schiiten nun immer häufiger als potentielle "fünfte Kolonne" Irans. Die Diskriminierung von Schiiten nahm daraufhin zu, ihr Widerstand ebenso.

Islamisten auf beiden Seiten befeuern den Konflikt

Auf sunnitischer Seite wurden die Islamisten zum wichtigsten Träger antischiitischen Gedankenguts. Doch war es vor allem die islamistische Teilströmung der Salafisten, die den Konflikt befeuerte. Salafisten versuchen, ihre Gesellschaften durch eine Rückkehr zur Lebensweise der Zeit des Propheten und seiner Gefährten zu verändern. Die Rückbesinnung auf die Zeit der "frommen Altvorderen" (arabisch as-salaf as-salih) bewirkte aber häufig, dass die alten Debatten über die Frage, ob die Kalifen der Sunniten oder die Imame der Schiiten die legitimen Nachfolger des Propheten Muhammad seien, neu entfacht wurden. Für die Salafisten herrscht kein Zweifel, dass die Ansprüche der Schiiten illegitim sind und dass es sich bei ihnen mitnichten um Muslime, sondern um Ungläubige handelt.

Die Salafisten und ihr Schiitenhass wurden seit den 1960er Jahren sichtbarer, weil die Bewegung mit Hilfe des saudi-arabischen Staates immer größer wurde. In Saudi-Arabien ist mit dem Wahhabismus eine Spielart des Salafismus offizielle Islaminterpretation, und das Königreich, das sich seit den 1960er Jahren zur Führungsmacht des sunnitischen Lagers entwickelte, hat seither weltweit salafistische Gelehrte und Gruppen unterstützt. Ab 1979 diente diese Politik in erster Linie der Eindämmung Irans, doch führte sie auch zur Verbreitung des Schiitenhasses der Salafisten. Ein durchaus ungewolltes Ergebnis war, dass sich militante salafistische und dschihadistische Gruppen bildeten, die sich zwar weltanschaulich mehr oder weniger stark am saudi-arabischen Wahhabismus orientierten, den saudi-arabischen Staat aber ablehnten. Die schiitenfeindlichste unter ihnen war die 2004 gegründete al-Qaida in Mesopotamien, die sich später in Islamischer Staat (IS) umbenannte. Das "Zweistromland" (Mesopotamien) der Flüsse Euphrat und Tigris umfasst vor allem den Irak, aber auch Teile Syriens, der Türkei und Irans.

Eskalation seit 2003 und 2011

Der Konflikt nahm nach der US-amerikanischen Intervention im Irak 2003 an Fahrt auf. Nach dem Sturz Saddam Husseins übernahmen schiitische Islamisten die Macht in Bagdad und dachten gar nicht daran, die alten, mehrheitlich sunnitischen Eliten daran zu beteiligen. Gegen die neuen Herrscher kämpften wiederum sunnitische Aufständische, unter denen die irakische al-Qaida die schiitenfeindlichste war. Ihre Anschläge trafen nicht nur schiitische Politiker und religiöse Würdenträger, sondern auch tausende Zivilistinnen und Zivilisten. Ergebnis war ein Bürgerkrieg im Irak zwischen 2005 und 2007, der in erster Linie einer zwischen Schiiten und Sunniten war, und mit großer Brutalität und Rücksichtslosigkeit ausgetragen wurde. Zwar gewannen die US-Truppen gemeinsam mit der irakischen Regierung wieder die Kontrolle, doch der religiöse Konflikt erfasste bald darauf weitere Staaten.

Der Arabische Frühling von 2011 war ebenso wie die Islamische Revolution 1979 und der Irak-Krieg 2003 ein Epochendatum für den Konflikt der Konfessionen. Die Proteste und Unruhen führten zum Sturz der Regime in Tunesien und Ägypten, zu blutigen Bürgerkriegen in Libyen, in Syrien und im Jemen und zu verbreiteter Instabilität im gesamten Nahen und Mittleren Osten. Viele Menschen zogen sich angesichts zerfallender staatlicher Ordnungen auf ethnische oder religiöse Gemeinschaften zurück, die allein noch wirksamen Schutz versprachen.

Gleichzeitig nutzten die schiitischen und sunnitischen Islamisten die Situation. Iran begann eine beispiellose Expansion, indem es ab 2012 zusammen mit der libanesischen Hizbullah im syrischen Bürgerkrieg intervenierte, im Irak nach 2014 gemeinsam mit irantreuen schiitischen Milizen am Kampf gegen den IS teilnahm und seit 2015 die jemenitischen Huthis im Krieg gegen Saudi-Arabien unterstützt. In all diesen Ländern wuchsen gleichzeitig die antischiitischen Ressentiments, sodass salafistische und dschihadistische Gruppen die Instabilität nutzen konnten, um ihren eigenen Einfluss auszubauen. Am deutlichsten war dies am Beispiel des IS zu beobachten, dem es zwischen 2014 und 2017 gelang, einen Proto-Staat in großen Teilen des Irak und Syriens zu errichten. Opfer waren unter anderem die Schiiten und Alawiten, die zu Tausenden ermordet wurden. Die Alawiten sind Anhänger einer häretischen Sekte, die aus der Schia hervorgegangen ist.

Stabilität als Gegenmittel

Nach 2011 teilten sich die arabische und islamische Welt immer mehr in zwei gegnerische Lager. Zwar wurde der IS geschlagen, doch der iranisch-saudi-arabische Konflikt um die Hegemonie am Persischen Golf behielt seine konfessionelle Dimension. Dieser Konflikt stand zuletzt im September 2019 vor einer militärischen Eskalation, als Iran zwei Ölanlagen in Saudi-Arabien mit Drohnen und Marschflugkörpern angriff. Im Anschluss überlagerte die Konfrontation zwischen den USA und Iran die Auseinandersetzung zwischen den Regionalstaaten, die sich kurzfristig bemühten, eine weitere Eskalation zu verhindern. Doch lassen die anhaltenden Spannungen am Persischen Golf vermuten, dass der Konflikt zwischen Schiiten und Sunniten die Geschichte der islamischen Welt noch länger prägen wird.

Die leichte Entspannung in Syrien und Irak zeigt aber, dass die Auseinandersetzung keine Konstante nahöstlicher Politik sein muss, sondern sich je nach politischer Situation verschärft oder entspannt. Es handelt sich um einen religiösen Gegensatz, der politisch relevant und damit gefährlich wird, wenn Sunniten- oder Schiitenfeinde ihn zu nutzen versuchen, um ihre Ziele durchzusetzen.

Die Extremisten auf beiden Seiten haben vor allem von der Instabilität im Irak und dann in der gesamten Region profitiert. Wird sie wieder stabiler, wird auch der Gegensatz wieder an Bedeutung verlieren. Kommt es zu größeren militärischen Auseinandersetzungen zwischen Iran und seinen Gegnern, wird er sich wieder verschärfen. Auch die Corona-Krise dürfte sich auf den Konflikt auswirken. Sie schwächt die Staaten des Nahen und Mittleren Ostens weiter, sodass islamistische Milizen und Terrorgruppen beider Seiten wieder erstarken. Außerdem suchen viele Bewohner häufig Schutz bei ihren Religionsgemeinschaften, wenn der Staat versagt. Dies könnte den Konflikt in den kommenden Jahren erneut befeuern.

Der Beitrag erschien zuerst im Online-Dossier "Iran" der Bundeszentrale für politische Bildung (Interner Link: www.bpb.de/iran) und wurde für diese Ausgabe leicht aktualisiert.

arbeitet als Islamwissenschaftler bei der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin. E-Mail Link: guido.steinberg@swp-berlin.org