Einleitung
Nur drei Prozent der Frauen und zehn Prozent der Männer gehörten 1997 zur privilegierten Minderheit der frühen Internetnutzer. Zehn Jahre später ist das Internet ein Alltagsmedium: 57 Prozent der Frauen und 69 Prozent der Männer nahmen 2007 an der Online-Kommunikation teil - Tendenz weiterhin steigend.
Wie ist diese Entwicklung aus psychologischer Sicht zu beurteilen? Können wir durch die Nutzung des Internet unser Leben verbessern, unser Wohlbefinden und Glück steigern? Oder birgt das Internet eher Gefahren für das seelische Gleichgewicht - angefangen bei Internetsucht über sexuelle und sonstige Online-Belästigung, den Verlust der Privatsphäre bis hin zu sozialer Isolation?
Welche psychischen Folgen das Internet für die Einzelne oder den Einzelnen hat, wird nicht durch die technischen Eigenschaften oder verfügbaren Inhalte des Internet vorbestimmt. Entscheidend ist vielmehr die Art und Weise, wie eine Person das Internet nutzt (oder eben nicht nutzt) - und wie sich die Internetaktivitäten in ihren Alltag einfügen: Aus medienpsychologischer und kommunikationswissenschaftlicher Sicht sind weder Jugendliche noch Erwachsene schädlichen Wirkungen der Medien hilflos ausgeliefert oder stehen diesen passiv gegenüber. Die Nutzer versuchen vielmehr, das Internet (wie auch andere Medien) aktiv den jeweiligen Bedürfnissen und Lebensumständen anzupassen. Diese Medienaneignung erweist sich oft als nützlich, kann aber auch problematische Formen annehmen.
Internetkompetenz
Eine Nichtnutzung des Internet kann sich für den Einzelnen als ungünstig erweisen, weil er oder sie dadurch von zahlreichen Informations-, Unterhaltungs-, Kommunikations- und Transaktionsmöglichkeiten, die unsere Mediengesellschaft bietet, ausgeschlossen ist. Um einer digitalen Spaltung der Gesellschaft in Onliner und - oftmals sozial schwächere - Offliner entgegenzuwirken, sind kostenlose Internetzugänge in öffentlichen Einrichtungen und zielgruppengerechte Internetkurse sinnvoll. Um zum Ausdruck zu bringen, dass sich die Umgangsweisen mit dem Internet in verschiedenen Bevölkerungsgruppen deutlich unterscheiden, wird innerhalb der Gruppe der Onlinerinnen und Onliner von digitalen Ungleichheiten gesprochen. Im Vorteil sind beispielsweise Personen, die im Internet ganz gezielt nach Informationen suchen, und diese hinsichtlich ihrer Qualität und Glaubwürdigkeit kritisch bewerten können. In besonderer Weise profitieren vom Internet auch diejenigen, denen ein breites Spektrum an Online-Diensten mit ihren jeweiligen Funktionen, Chancen und Risiken bekannt ist, sowie jene, welche die notwendigen Fertigkeiten mitbringen, um durch eigene Beiträge aktiv an der Netzkommunikation teilnehmen zu können. Die aufgeführten medienspezifischen Fähigkeiten werden zusammenfassend als Internetkompetenz bezeichnet.
Digitale Ungleichheiten können soziale Benachteiligungen verstärken, etwa wenn bildungsferne Jugendliche nicht ausreichend darüber informiert sind, wie sie auch im Internet Praktikumsplätze finden oder Online-Bewerbungen gestalten können. Mit dem Ziel, digitalen Ungleichheiten entgegenzuwirken, sollte der Erwerb von Internetkompetenz nicht allein von kindlichen Selbstversuchen und Hilfen in Elternhaus und Freundeskreis abhängen, sondern in den allgemeinbildenden Schulen systematisch gefördert werden. Leider stellt Deutschland hinsichtlich der schulischen Vermittlung von Computer- und Internetkompetenz laut PISA-Studie 2006 im Ländervergleich bislang das Schlusslicht dar: Weniger als ein Drittel der Schülerinnen und Schüler in Deutschland (31 Prozent) werden regelmäßig in der Schule in Computernutzung unterrichtet. In Österreich sind es dagegen fast drei Viertel (73 Prozent); der OECD-Durchschnitt liegt bei 56 Prozent.
Sich mit dem Internet "gut auszukennen", reicht indessen nicht aus, um zu einer psychisch unschädlichen Gebrauchsweise zu finden. Darüber hinaus sollten die Nutzer über lebenspraktische Kenntnisse verfügen. Die so genannte Positive Psychologie beschäftigt sich mit menschlichen Stärken, mit Sinn und Glück im Leben, um empirisch fundierte Maßnahmen zur Verbesserung der Lebensqualität zu entwickeln. In diesem Beitrag werden im Sinne einer Positiven Internetpsychologie drei Lebensbereiche herausgegriffen, die gemäß der Glücksforschung besonders wichtig für die Lebenszufriedenheit sind: Gesundheit, Identität und soziale Beziehungen.
Gesundheit und Internet
Die große Mehrheit der Onlinerinnen und Onliner - in den USA sind es beispielsweise rund 80 Prozent - informiert sich bei gesundheitlichen Beschwerden im Internet über Krankheitsbild, Diagnose- und Therapiemöglichkeiten.
Neben den Informationsangeboten gibt es mittlerweile für viele gesundheitliche Probleme entsprechende Online-Selbsthilfegruppen, etwa für Brustkrebspatientinnen, für Kinder, die an Diabetes leiden, für Angehörige von Demenzpatienten, ungewollt Kinderlose, HIV-Positive, Depressive oder Allergiker. In diesen Foren unterstützen sich Betroffene und Angehörige bei Bedarf anonym und unabhängig von Ort und Zeit, indem sie einander Ratschläge geben, Trost und Ermutigung bei der Krankheitsbewältigung zusprechen usf.
Zur Online-Gesundheitsprävention stehen neben allgemeinen und spezifischen Informationen vor allem interaktive Online-Dienste zur Verfügung, die auf der Basis individueller Voraussetzungen und Ziele als persönlicher Gesundheitscoach fungieren: Wer etwa ein langfristiges Ernährungs-, Fitness-, Stessbewältigungs- oder Anti-Rauch-Programm absolviert, kann sich durch diese Dienste begleiten lassen; er oder sie erhält auf diese Weise Rückmeldungen über Erfolge und Hilfestellung bei Misserfolgen. Entsprechende Online-Coaches werden unter anderem von Publikumszeitschriften und Krankenkassen im World Wide Web angeboten. Ihre Akzeptanz, Wirksamkeit und Wirkungsweise sollten zukünftig noch genauer untersucht werden.
Damit die Internetnutzung nicht selbst zum Gesundheitsrisiko wird bzw. das körperliche und seelische Wohlbefinden mindert, ist darauf zu achten, dass sich der allgemeine Bewegungs- und Schlafmangel unserer Zivilisation nicht durch stundenlange nächtliche Computersitzungen weiter verstärkt. In der Regel verzichten Internetnutzer jedoch nicht auf sportliche Betätigung; eher schränken sie den Fernsehkonsum ein oder nutzen das Fernsehen als Hintergrundmedium, um so Zeit für Online-Aktivitäten zu gewinnen. Sofern jedoch im Einzelfall die Tendenz zu starker Bewegungsarmut besteht, kann im Sinne der Selbstregulation sowie durch Erziehung und Bildung darauf hingewirkt werden, die Gewohnheit zu entwickeln, sich Internetzeit durch entsprechende Zeiteinheiten sportlicher Betätigung "zu verdienen".
Identität und Internet
Ein zweiter wesentlicher Faktor für psychisches Wohlbefinden ist ein positives Selbstbild. Dieses wiederum kann sich unter anderem dann entwickeln, wenn wir Erfolgserlebnisse haben, etwas schaffen, worauf wir stolz sein können; und wenn wir die Möglichkeit haben, das, was uns beschäftigt und ausmacht - unsere Identität mit all ihren Teilidentitäten -, auszudrücken und dabei positive Resonanz von anderen erhalten: Wenn wir uns gesehen, verstanden und anerkannt fühlen. Das Internet bietet eine neue öffentliche Bühne für Identitätsdarstellungen von Individuen und Gruppen mit gleichberechtigtem Zugang für alle Internetnutzer, die entsprechende Kompetenzen mitbringen bzw. erwerben.
Auf persönlichen Homepages, in Online-Profilen und Internettagebüchern beantworten Menschen sich selbst und anderen die Frage "Wer bin ich?". Bei diesen Selbstpräsentationen handelt es sich nicht um fiktive virtuelle Identitäten. Die Verfasserinnen und Verfasser verweisen in Wort und Bild - in mehr oder minder anspruchsvoller und umfassender Gestaltung - auf diverse Aspekte ihrer Identität: auf berufliche Tätigkeiten, Hobbies, Familie und Freunde, Wohn- und Urlaubsorte, äußeres Erscheinungsbild, politisches Engagement, kritische Lebensereignisse usw.
Bei diesen persönlichen Internetpublikationen handelt es sich um Nischenmedien, die sich an Freunde und Bekannte, an Mitbetroffene und Interessierte wenden und von diesen aktiv abgerufen werden. Sie zielen ausdrücklich nicht auf ein Massenpublikum und einen Massengeschmack ab, müssen und wollen keine "Quote" machen oder in Inhalt und Form den Trendmedien entsprechen. Ihre Stärke liegt in der Authentizität des individuellen Ausdrucks, inklusive möglicher Unbeholfenheit und Improvisation, die im Kontrast zur Hochglanzästhetik der normierten kommerziellen Medienwirklichkeit steht. Das natürliche Selbstdarstellungs- und Mitteilungsbedürfnis von Internetnutzern "wie du und ich", die ihre Belange mit eigener Stimme artikulieren und mit eigenen Stilmitteln zum Ausdruck bringen, wird oft vorschnell als "virtueller Exhibitionismus" diffamiert. Doch eine demokratische Mediengesellschaft sollte die breite Partizipation der Bürgerinnen und Bürger an der Produktion von Medieninhalten begrüßen. Dass dabei auch private Themen eine Rolle spielen, verwundert nicht, da diese doch für Identität und Lebenszufriedenheit von großer Bedeutung sind. Dabei dürfen die Persönlichkeitsrechte Dritter freilich nicht verletzt werden; auch ist es verboten, verfassungsfeindliche Botschaften zu verbreiten, denn ein rechtsfreier Raum ist das Internet nicht.
Während persönlichen Online-Publikationen wie Homepages, Online-Profilen oder Internettagebüchern oft Exhibitionismus und übertriebene Selbstoffenbarung vorgeworfen werden, steht computervermittelte Kommunikation - beispielsweise das Chatten - im Verdacht, von Identitätstäuschungen und Maskerade geprägt zu sein. Empirische Studien zeigen jedoch, dass beliebige Identitätstäuschungen eher selten vorkommen: Entsprechende Texte zu verfassen, ist aufwändig und meist wenig lohnend. Auch der viel beschworene Online-Geschlechterwechsel wird nur von einer winzigen Minderheit der Internetnutzer regelmäßig vollzogen, die meisten nutzen die Freiheiten der computervermittelten Kommunikation einfach, um sich ein wenig vorteilhafter darzustellen und leichter mit anderen Menschen in Kontakt zu kommen. Manchmal können spielerische Identitätsexperimente im Internet (so geben sich Jugendliche im Chatroom mitunter älter aus als sie sind) neue Einsichten vermitteln und die Sozialkompetenz verbessern.
Soziale Beziehungen und Internet
Fragt man Menschen danach, was ihrem Leben Sinn verleiht, so stehen zwischenmenschliche Beziehungen in allen Altersgruppen an erster Stelle.
Auch Familien- und Verwandtschaftsbeziehungen können von computervermittelter Kommunikation profitieren, etwa wenn Eltern mit ihren erwachsenen Kindern per E-Mail in Kontakt bleiben oder entfernt lebende Großeltern per Online-Fotoalbum oder Webcam regelmäßig ihre Enkel sehen können. Während postalische Briefe heute nur noch von sehr wenigen Menschen und nur zu besonderen Anlässen geschrieben werden, gibt es bei der Online-Kommunikation keine hohe Schreibbarriere, der Austausch ist weniger floskelhaft und steif, dafür lebendiger und ähnelt dem mündlichen Gespräch. War die üblicherweise telefonische Kontaktpflege im Verwandtschaftskreis früher in erster Linie Frauensache, so sind durch Online-Kommunikation mittlerweile auch die Männer stärker einbezogen, indem sie mit Verwandten E-Mails austauschen.
Neben der Pflege vorhandener Sozialkontakte dient das Internet auch zum Aufbau neuer Beziehungen, etwa über die Teilnahme an Online-Gemeinschaften oder die Nutzung von Online-Kontaktbörsen.
Bei reinen Online-Beziehungen, die sich im Internet anbahnen und vor allem per Online-Kommunikation gepflegt werden, handelt es sich in der Regel um eher schwache Bindungen. Sie sind nicht so umfassend und stabil wie herkömmliche persönliche Beziehungen. Doch genau darin liegt zugleich ihre Stärke: In der modernen Gesellschaft bewegen sich Menschen in ganz verschiedenen privaten und beruflichen Zusammenhängen; zudem sind sie geografisch mobiler. Die Möglichkeit, zusätzlich zu der in der Regel begrenzten Anzahl enger Freundschaften im räumlichen Umfeld mit relativ geringem Aufwand ein (großes) Netzwerk lockerer Online-Kontakte zu pflegen, ist psychologisch oft vorteilhaft zu bewerten: In Situationen, in denen Angehörige nicht helfen können, stehen so weitere Ansprechpartner zur Verfügung.
Das Kennenlernen via Internet beschert aber nicht nur lockere Online-Beziehungen, sondern steht oft am Anfang sozialer Beziehungen, die offline weitergeführt werden: Aus Online-Gemeinschaften bilden sich nicht selten lokale Stammtische, Online-Kontaktforen führen zu spontanen Verabredungen. Neben dem Arbeitsplatz und Freizeitveranstaltungen ist das Internet längst die wichtigste Partnerbörse. Statt in der Kneipe den Blickkontakt zu anonymen Unbekannten zu suchen, wird der erste Kontakt in Online-Foren hergestellt oder auf Social-Networking-Plattformen nach Flirtpartnern in lokaler Nähe gesucht, um sich ggf. mit diesen zu treffen. Dadurch beschränkt sich die Partnerwahl nicht auf die äußere Erscheinung, sondern es werden von vornherein auch gemeinsame Interessen oder kommunikative Übereinstimmung einbezogen. Es gibt Hinweise darauf, dass Freundschaften und Partnerschaften, die sich aus einer langsamen Online-Annäherung entwickelt haben, besonders tragfähig sind.
Kritiker warfen der computervermittelten Kommunikation zu Beginn der Internetära oft vor, entmenschlicht und gefühllos zu sein. Nicht selten ist jedoch eher das Gegenteil der Fall: Der schriftliche Austausch ermutigt zu einer unbefangenen zwischenmenschlichen Annäherung, persönliche Themen werden rascher angesprochen; es entsteht der Eindruck von Nähe. Komplimente sorgen für gute Stimmung, die mediale Distanz steigert die Neugier und Sehnsucht nach dem Gegenüber. Online-Kommunikation ist nicht selten emotional aufgeheizt und erotisierend. Die diskrete Pflege von Online-Affären und virtuellen Seitensprüngen kann daher einerseits bestehende Partnerschaften und Ehen gefährden; andererseits kann der virtuelle Seitensprung auch dabei helfen, aus unbefriedigenden Lebenssituationen auszubrechen.
Internetnutzerinnen und -nutzer entsprechen heute einem Querschnitt der Gesellschaft. Daher ist die Befürchtung, beim Online-Kontakt in erster Linie an zweifelhafte Personen zu geraten, unbegründet. Trotzdem sollte auch bei einem sehr angenehmen Online-Kontakt vor einer Vertiefung eine gewisse Realitätsprüfung stattfinden (typischerweise besteht diese im Austausch von Fotos und einem oder mehreren Telefonaten); auch sollte das erste Treffen an einem öffentlichen Ort stattfinden. Moderierte Online-Communities bieten die Möglichkeit, belästigende Botschaften und Nutzer zu melden und diese bei Bedarf auszuschließen. Sie werden insbesondere für Kinder empfohlen, deren Internetnutzung idealerweise von den Eltern zu begleiten ist.
Gerade wegen des großen Angebots an möglichen Kontaktpartnern ist auch im Internet soziale Kompetenz notwendig, um andere auf sich aufmerksam zu machen und für sich einzunehmen, sonst wird man schnell "weggeklickt". Zudem erfordert die Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen auch im Online-Bereich ein entsprechendes Engagement und den Einsatz von Zeit. Kurze Stippvisiten in einem Chatroom werden in oberflächlichem Smalltalk steckenbleiben, bedeutungsvollere Online-Beziehungen entstehen erst durch eine regelmäßige Teilnahme. Da im Internet nie "Feierabend" ist, bedarf es wiederum der Fähigkeit zu bewusster Selbstregulation, damit die (gerade in der Anfangsphase oft sehr spannend erlebte) Pflege von Online-Kontakten nicht auf Kosten anderer Lebensbereiche geht.
Fazit
Neben den hier angesprochenen Lebensbereichen Gesundheit, Identität, soziale Beziehungen kann das Internet auch in den Bereichen Bildung, Beruf, Konsum, Freizeit, Spiritualität oder Sexualität unterstützend eingesetzt werden.