Einleitung
Web 2.0 beschreibt das Phänomen eines veränderten Internet, in dem sich Vielfalt über die Kreativität der vielen Einzelnen definiert. Das klingt eher technisch, bürokratisch und nach einem Softwareupgrade als nach einer emergenten neuen Form des sozialen Miteinanders. Natürlich steckt all dies auch im Begriff Web 2.0, den Tim O'Reilly im Jahre 2004 prägte, um das neue Internet, die nächste Entwicklungsstufe des globalen Daten- und Kommunikationsnetzes, zu beschreiben.
Aber das zugrunde liegende Phänomen einer durch technische Innovationen ermöglichten neuen Form des sozialen Miteinanders mit all seinen Folgen für die Kommunikation in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft bedarf einer Bestimmung, die nicht nur den Veränderungen der Technik, sondern auch jenen der Kommunikation in den verschiedenen Bereichen der Gesellschaft gerecht wird.
Die Netzwerkgesellschaft
Diese Veränderung durch die Vernetzung, die im Internet zwischen einer endlosen Zahl unterschiedlicher Knotenpunkte möglich ist und beispielsweise in der redaktionellen Nutzung des Netzes über Weblogs und andere Contentsysteme qua Verlinkung und Verweis funktioniert, bringt langfristig ein gewandeltes Gesellschaftsmodell hervor, das sich als eine Netzwerkgesellschaft beschreiben lässt. Diese steht für einen veränderten Zugriff auf Informationen, veränderte Wissensstrukturen und neue Kommunikationsstrategien: Lineare werden durch reflexive Strukturen ersetzt, Hierarchien weichen Netzwerken - und dies zum Nutzen aller. In einem Papier der RAND-Corporation über dezentralisierte Netzwerke wurden schon 1964 die Vorteile solch einer Vernetzung beschrieben, die auch derzeitige rapide gesellschaftliche Durchdringungen von Web 2.0-Angeboten erklärt:
Die Vernetzung ist damit weit mehr als eine technische Verbindung zwischen zahlreichen Computern überall auf unserer Welt. Sie stellt vielmehr eine neue Form der kommunikativen Selbstorganisation dar. Die ersten Ansätze dazu hatte bereits Web 1.0 gebracht, das als interaktive Plattform jedem Nutzer über eine IP-Adresse (Internet Protocol) ermöglichte, digitalisierte Informationen zu erhalten und mit anderen zu kommunizieren. Im Web 2.0 können die Nutzer diese Informationen neu zusammensetzen, mit anderen Nutzern teilen und gemeinsam etwas neues produzieren. Mit der durch technische Innovation ermöglichten Kapazitätserweiterung des Internets kann sich so auch das Verhältnis der Wenigen zu den Vielen ändern, und damit unsere ganze Gesellschaft.
Die Analogie zum Wirtschaftssystem drängt sich auf, weil es im neuen Netz um einen anderen Umgang mit Informationsgütern geht, die auf virtuellen Märkten angeboten werden, und zwar nicht mehr allein unter den Bedingungen der Regeln, die wir aus unserem analogen Wirtschaftssystem kennen. Darin unterscheiden wir bislang grundsätzlich zwei Organisationsmodi: das Unternehmen und den Markt. Beide wirken zusammen, wenn auch über unterschiedliche Koordinationsansätze. Unternehmen koordinieren Ressourcen (wie etwa Mitarbeiter, Kapital), was in der Regel durch eine hierarchische Ausgestaltung des Managements erfolgt. Märkte koordinieren Angebot und Nachfrage über den Preis. Web 2.0 bringt nun einen neuen Koordinationsmechanismus in Spiel: die Koordination über die Tauschwerte Aufmerksamkeit und Beachtung. Communities (virtuelle Gemeinschaften) koordinieren die Herstellung informations- und kommunikationsbasierter Güter in einem selbstorganisierenden und emergenten Prozess. Der Wert dieser Güter entsteht aus der ihnen in diesem kollektiven Prozess zugewiesenen Aufmerksamkeit. Sie sind nutzerbasiert und folgen dem Open-Source-Prinzip. Das bedeutet, jeder kann in den Herstellungsprozessen mittun, diese mitgestalten, den "Code" der Informationsgüter weiterschreiben. Yochai Benkler beschreibt die Netzwerkökonomie als "the rise of nonmarket production to much greater importance", in der "every (...) effort is available to anyone connected to the network, from anywhere, [which] has led to the emergence of coordinate effects, where the aggregate effect of individual action (...) produces the coordinate effect of a new and rich information environment".
Die Gesetze der Peer Production
Diese neuen Koordinationsmechanismen charakterisieren auch die veränderten Kommunikationsverhältnisse in der Netzwerkgesellschaft. Der Netzphilosoph David Weinberger beschreibt, wie das Web in seiner Grundstruktur auch unsere Kommunikationsformen prägt und verändert. Nachdem die zentralen Kontrollpunkte für die Verwaltung von Inhalten entfernt wurden, entsteht im Web eine locker verbundene Sammlung von Inhalten und Verbindungen (Links) in einem Ausmaß, das bislang einmalig und in seiner Entwicklung unabsehbar ist. In diesem Web finden sich unzählige Einzeldokumente ("small pieces loosely joined"), die beliebig verbunden und zusammengesetzt werden können. Was das Web mit den Inhalten gemacht hat, das macht es nun auch mit unseren Institutionen und Strukturen - und mit uns selbst: Auch wir Menschen sind flexibel und in vielen Varianten miteinander verbunden in diesem Netz der kommunikativen Verbindungen.
Dieser Prozess beschleunigt und verstärkt sich in den letzten Jahren: Das Web 1.0 war noch aus Seiten zusammengesetzt, die in einer bis dahin unbekannten Art und Form über Hypertext verlinkt waren, wodurch sich eine erste Stufe der dreidimensionalen (horizontal, vertikal und räumlich) Vernetzung ergab - im Vergleich zu heute allerdings in statischer Form. Das Web 2.0 konstituiert sich hingegen flexibel daraus, was Menschen im Netz anbieten und wie sie sich miteinander verbinden. Es sind nicht mehr nur die Seiten, die verlinkt sind, sondern auch die Menschen vernetzen sich täglich neu und anders. Sie bilden in diesen Vernetzungsprozessen flexible Communities, die immer neue Inhalte hervorbringen, indem sie Neues einstellen oder Bestehendes anders zusammensetzen.
Ein Beispiel hierfür ist Wikipedia: Die Internet-Enzyklopädie entsteht durch die gemeinschaftliche Produktion von Einträgen zu allen vorstellbaren Themen und Fragen dieser Welt. Eine beliebige Zahl von Autoren schreibt an den einzelnen Einträgen mit und überprüft sie permanent. Dieses Verfahren ist schnell und sehr flexibel; das Produkt ist viel aktueller als es beispielweise die gedruckte Ausgabe der "Encyclopaedia Britannica" jemals sein könnte. Und die Qualität der Ergebnisse ist - kürzlich belegt durch eine Studie der Wissenschaftszeitschrift "Nature" - interessanterweise nahezu gleichwertig.
Neu an dieser Veränderung der informationellen Güter in der Netzwerkgesellschaft ist die Kombination individueller Informationen, Bewertungen und Vorlieben zu einem Gesamten - ein Prozess, der unter dem Begriff der "Weisheit der Vielen" bekannt geworden ist. Ergebnis der kollaborativen Informationsherstellung und -verarbeitung durch ein vernetztes Kollektiv ist eben nicht ein kleinster gemeinsamer Nenner, sondern Exzellenz, die der Einzelne alleine für sich in der Regel nicht herstellen und gewährleisten kann. "Für gewöhnlich bedeutet Durchschnitt Mittelmaß, bei Entscheidungsfindungen dagegen oft Leistungen von herausragender Qualität. Allem Anschein nach sind wir Menschen also programmiert, kollektiv klug und weise zu sein."
Die Kraft des "kollektiven Wir" hat sich erst durch die Entwicklung der digitalen Technologien in Verbindung mit dem Internet voll entfalten können und die Kommunikationsprozesse in unserer Gesellschaft sowie deren Produkte, die immateriellen Informations-, Meinungs- und Kulturgüter, enthierarchisiert und dezentralisiert. Das gilt etwa auch für die Art und Weise, in der Themen in den öffentlichen Diskurs eingebracht und auf die aktuelle Agenda dieses Diskurses gesetzt werden.
Weblogs: Agenda Setting im Web 2.0
Kommunikationsplattformen der "Netzwerkgesellschaft" sind vor allem Weblogs, deren Anzahl inzwischen laut Technorati auf weltweit mehr als 70 Millionen gewachsen ist. Die Blogosphäre (Gesamtheit aller Weblogs) wächst mit 120 000 neuen Weblogs pro Tag ebenso rasant, wie sich das Mitteilungsbedürfnis der Teilnehmerinnen und Teilnehmer (Blogger) entwickelt hat: Sie stellen weltweit pro Tag etwa 1,4 Millionen Postings ein.
Weblogs gelten als eigenständiges Format in der neuen Kommunikationsmatrix der Netzwerkgesellschaft, weil ihre Inhalte in chronologischer Form geordnet und in dialogorientierter Weise auf einer Website dargestellt werden und die Teilnehmer in einem zuweilen sehr persönlichen Kommunikationsstil über persönliche Einstellungen, Bewertungen und Erfahrungen schreiben können. Weblogs sind zwar oftmals hochgradig subjektiv, haben sich aber vielleicht gerade deshalb zu einer nachhaltigen kommunikativen Einflussgröße entwickelt. Insofern ist es nicht erstaunlich, dass ihre wissenschaftliche Analyse bislang nur kursorisch erfolgt. Viele wissenschaftliche Veröffentlichungen aus den vergangenen Jahren konzentrieren sich auf die Beschreibung des Phänomens (Andrew O'Baoill) sowie dessen Klassifizierung (Ansgar Zerfass/Dietrich Boelter),
Social Networking: die Dynamik der Netzwerkkommunikation
Die weitgehend unkontrollierte und unsteuerbare Information und Kommunikation der Vielen scheint folglich ein wesentliches Attraktions- und Funktionskriterium der Netzwerkkommunikation zu sein. Das zeigt die Vielfalt der entsprechenden Angebote im Netz und ihre intensive Nutzung. In der Blogosphäre, aber auch auf vielen anderen Seiten im Internet tummeln sich Milliarden von Menschen, um sich selbst darzustellen, ihren Einstellungen und Meinungen Ausdruck zu verleihen und sie mit anderen zu teilen. Das geschieht in Weblogs ebenso wie auf anderen Plattformen und in anderen Formen des Web 2.0, die für den Einzelnen, für Communities, Unternehmen, Institutionen oder Parteien neue Informations- und Kommunikationsmöglichkeiten bieten. Diese Plattformen und ihre Vernetzungs- und Kommunikationsangebote werden unter dem Begriff des Social Networking zusammengefasst. Social Networking Websites bieten Nutzern die Möglichkeit, sich in wechselnden virtuellen Communities zusammenzuschließen, indem sie individuelle Nutzerprofile einstellen und sich über verschiedene Kommunikationswege (E-Mail, Chat, Weblogs, Instant Messaging usw.) austauschen, um so Gleichgesinnte zu finden, mit denen sie sich über gemeinsame Interessen austauschen oder mit denen sie einfach kommunizieren können.
Im engeren Sinne zählen dazu vor allem Vernetzungsseiten wie friendster.com, myspace.com, facebook.com. Auf all diesen Seiten stellen die Nutzerinnen und Nutzer persönliche Profile ein, mit denen sie sich selbst sowie ihr Lebens- und Freundesumfeld darstellen. Zu diesen Profilen gehören detaillierte Angaben zur Person, zu persönlichen Vorlieben und individuellen Einstellungen. Auf fast allen Seiten lassen sich dann Fotos, Videos und sonstige Dateien hoch laden und einstellen, die das Bild der Person abrunden und für andere Menschen mit ähnlichen Profilen oder Interessen attraktiv sein sollen. Ziel der aktiven Nutzung dieser Websites ist es, sich mit Menschen zu verbinden, die ähnliche Interessen und Vorlieben haben, um eine virtuelle oder reale Bekanntschaft oder Freundschaft einzugehen, die oftmals nur für eine begrenzte Zeit angelegt ist. Da sich Menschen als soziale und kommunikative Wesen auf diesem Wege unkompliziert und mit globalem Zugriff vernetzen können, wächst die Attraktivität dieser Websites seit ihrem Start ungebremst. So hat Facebook beispielsweise mehr als 80 Millionen aktive Nutzerinnen und Nutzer weltweit. Die Seite steht auf Platz 6 der meist genutzten Websites weltweit und ist mit täglich mehr als 14 Millionen hoch geladenen Fotos die wichtigste und meistgenutzte Fotoseite im Internet.
Besonders erfolgreich sind weiterhin die Videoportale, auf denen jeder Netznutzer Videos hoch laden und einstellen kann. Auf der Videoplattform Youtube werden täglich mehr als 100 Millionen Videos gezeigt und angeschaut. In jeder Minute werden etwa zehn Stunden neuen Videomaterials auf der Website eingestellt.
Diese Angebote im Internet wachsen in quantitativer Hinsicht exponentiell und werden in qualitativer Hinsicht gerade für die jüngeren Generationen (aber nicht nur für sie!) von einer Verständigungs- zu einer Lebensform mit Veränderungspotential für die gesellschaftliche Kommunikation. Kommunikation beschleunigt sich: Ein einzelnes Posting in einem Weblog kann ausreichend sein, um eine Resonanzwelle auszulösen, die betroffene Organisationen oder Personen vor die Herausforderung stellt, schnell und adäquat zu reagieren. Der gezielte Angriff gegen eine Organisation und ihre Marke im Netz ("Brand Attack") oder gegen einzelne Nutzer ("virtuelles Mobbing") sind Bespiele für Gefahren dieser umfassenden und unkontrollierbaren Kommunikationsmöglichkeiten. Diese Beschleunigung lässt sich allerdings auch positiv nutzen. In der viralen Kommunikation
Triangulärer Kommunikationsmodus
Social Networking verändert die Rolle und Bedeutung von Informationen im Kommunikationsprozess und räumt endgültig mit den Vorstellungen einer "Sender-Empfänger-Beziehung" zwischen Kommunikator und Rezipient auf. Unter den neuen Regeln der Peer Production ist jeder, unabhängig von institutioneller Anbindung und Legitimation, ein Kommunikator unter vielen. Er macht Informationsangebote, deren Nutzung im Prozess der sozialen Vernetzung kaum vorhersagbar ist. Er sendet nicht einmalig eine Botschaft, sondern wird zum dauerhaften Kommunikations- und Interaktionspartner mit seinen Communities und einer undefinierten, nicht abgrenzbaren Öffentlichkeit. Dabei scheint sich zunehmend ein triangulärer Kommunikationsmodus herauszukristallisieren, der den einzelnen Kommunikator in drei Funktionen im Netz aktiv zeigt: express: Eine der wichtigsten Funktionen der Netznutzung besteht darin, sich selbst und den eigenen Interessen Ausdruck zu verleihen. Bei einer Befragung US-amerikanischer Blogger geben 52 Prozent der Befragten als Hauptmotiv für die Kommunikation im Web an, sich selbst kreativ mitteilen zu wollen ("to express yourself creatively").
Individualisierter Ausdruck, Vernetzung und Austausch als neue Formen der Kommunikation sind wichtige Belege dafür, dass Web 2.0 eben nicht nur eine technologische Veränderung der Netzwerkkommunikation im Sinne eines Softwareupgrades darstellt, sondern eine neue Qualität in die Funktionen und Formen gesellschaftlicher Kommunikation eingeführt hat. Es sind nicht mehr allein die "Biographien großer Männer", die Weltgeschichte schreiben, wie es der schottische Philosoph Thomas Carlyle im 19. Jahrhundert beschrieben hat.