Einleitung
Auch heute, inmitten guter Konjunktur, gibt es Arbeitslosigkeit. Besonders sichtbar werden in Prosperitätsphasen die Langzeitarbeitslosen, denen es nur schwer gelingt, eine Stelle zu finden, die zu ihnen passt. Von wenigen singulären Ausnahmesituationen abgesehen ist denn auch die Vollbeschäftigung eine Utopie geblieben.
In traditionellen Konzepten des versorgenden Wohlfahrtsstaats wird meist davon ausgegangen, dass die wirtschaftliche Teilhabe - durch Erwerbsarbeit - das für die anderen Dimensionen von Teilhabe nötige Geldeinkommen sicherstellt. Ersetzt der Wohlfahrtsstaat nun im Falle der Arbeitslosigkeit oder Hilfebedürftigkeit das ausgefallene Erwerbseinkommen durch eine Transferzahlung, so soll dadurch ebenfalls ein Grundmaß an Teilhabe sichergestellt werden. Ob und wie auch andere Dimensionen von Teilhabe auf dieser Basis realisiert werden, war nur selten Gegenstand der Politik des "versorgenden" Wohlfahrtsstaates.
In den folgenden Ausführungen wird die These vertreten, dass die Inklusionskraft oder integrierende Wirkung der Erwerbsarbeit in Arbeitsgesellschaften weit über die Erzielung von Geldeinkommen hinausgeht. Denn Arbeit hat an sich, unabhängig von Geld und Konsummöglichkeiten, starke Inklusionswirkungen, von denen Menschen in Arbeitslosigkeit ausgeschlossen sind, wenn sie Transfereinkommen beziehen. Nach einer kurzen Einführung in den Arbeitsbegriff werden diese sozialen Inklusionswirkungen von Arbeit dargestellt. Die Effekte ihres Fehlens sind der Gegenstand des darauffolgenden Kapitels. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen erscheinen geförderte Arbeitsmärkte in einem anderen Licht. Dies hat Konsequenzen für die Politik eines "aktivierenden" Wohlfahrtsstaats.
Was ist Arbeit?
Arbeit lässt sich zunächst definieren als zweckgerichtete, verstandesgeleitete
Sehen wir uns die Arbeit also näher an: Menschen erzeugen mit ihrer Arbeit nützliche Güter und Dienstleistungen für den Markt. Der Lohn, den die Arbeitenden dafür erhalten, sichert ihren Lebensunterhalt und ermöglicht ihnen den Kauf der hierfür nötigen Mittel. Dies betrifft in der Arbeitsgesellschaft einen großen Teil der Bevölkerung, und zwar all diejenigen, deren Vermögen, sofern vorhanden, nicht ausreicht, um ihnen und ihren Familien ein arbeitsfreies Einkommen zu sichern.
Doch mit individuellem Broterwerb und der Produktion von materiellem Wohlstand ist es nicht getan. Arbeit erzeugt darüber hinaus räumlich-zeitliche und soziale Strukturen und soziale Beziehungen.
Soziale Funktionen von Arbeit jenseits von Produktion und Konsum
So wirkt Arbeit als zweckgerichtete, meist kooperativ vorgenommene Auseinandersetzung mit natürlichen oder sozialen Arbeitsgegenständen räumlich und zeitlich strukturierend. Man arbeitet dann, wenn andere auch arbeiten, um mit ihnen zusammenzuarbeiten; man arbeitet, wo andere arbeiten. Seit der industriellen Revolution geschieht Erwerbsarbeit außerhalb des häuslichen Umfeldes. Man arbeitet vor anderen oder nach anderen, wenn die anderen auf das eigene Arbeitsergebnis angewiesen sind - oder man selbst auf das der anderen. Bestimmte Stunden des Tages oder Zeiten des Jahres sind aufgrund natürlicher Bedingungen zum Arbeiten geeigneter als andere. Bestimmte Zeiten sind aufgrund gemeinschaftlicher oder gesellschaftlicher Normen anderem als der Arbeit vorbehalten; psychophysischer Ruhebedarf, Freizeitbedürfnisse, Familien- und Freundschaftsbeziehungen und Reproduktionsarbeiten erfordern eigene Zeiten. Arbeit und Familie sind es insbesondere, die den erwerbstätigen Menschen zur Strukturierung der Zeit veranlassen.
Der systematische Beginn der sozialen Funktionen von Arbeit sind Arbeitsteilung und die damit zwangsläufig verbundene Kooperation - Karl Marx wie auch Emile Durkheim haben darauf hingewiesen.
Arbeit trägt also - auch wenn sie unbestritten und immer noch Mühsal, Ausbeutung und Konflikt bedeuten kann - in Arbeitsgesellschaften zur sozialen Integration der Individuen bei. Dies überschreitet auch das Theorem von der "Arbeit als zentralem Vergesellschaftungsmodus",
Arbeitslosigkeit und ihre Teilhabedefizite - "was fehlt, wenn Arbeit fehlt?"
Streng genommen müssen wir hier zunächst unterscheiden zwischen Arbeitslosigkeit als (nicht freiwillig zustandegekommenem) Fehlen eines formalen Beschäftigungsverhältnisses, und dem Fehlen von Arbeit im weiteren Sinne.
Mit "arbeitslos werden" meint unser Interviewpartner den Verlust einer vertraglich geregelten Erwerbsarbeit in einem richtigen Betrieb, etwa im Rahmen eines Personalabbaus oder einer Betriebsschließung. Nach den in Herrn B.'s Wohnort üblichen Vorstellungen ist die extern verursachte Arbeitslosigkeit nicht das Problem, sondern die Tatsache, dass manche Betroffene darauf mit Untätigkeit reagieren. So wird im ländlichen Umfeld von Herrn B. erwartet, dass Arbeitslose tätig sind. Sei es im eigenen Haus und Garten oder in der weitgefächerten informellen Ökonomie des dörflichen Umfeldes, die von bezahlter und unbezahlter Nachbarschafts- und Verwandtschaftshilfe über Minijobs in örtlichen Läden oder Betrieben bis hin zu ehrenamtlichen Tätigkeiten in Kirchengemeinde, Feuerwehr und Vereinsleben reicht. Eine gewisse Ambivalenz aus sozialer Kontrolle und der Aufrechterhaltung wirtschaftlicher und sozial-nahräumlicher Integration, sowie ein Arbeitsbegriff, der Arbeit nicht vollständig in vertragsförmige organisierte Lohnarbeit auflöst, ist charakteristisch für manche Kontexte der ländlichen Arbeitslosigkeit.
"Was fehlt, wenn (...) Arbeit fehlt"?
Über den Zusammenhang von Einschränkungen der Gesundheit und Arbeitslosigkeit erfahren wir etliches aus der sozialpsychologischen und -medizinischen Forschung, auch wenn nicht abschließend geklärt ist, wie die entsprechende Entwicklung vonstatten geht und welche Faktoren dabei relevant sind. Es liegen Hinweise darauf vor, dass Arbeitslosigkeit Krankheit verursachen kann, dass Kranke aber auch eher arbeitslos werden.
Versuchen wir also, dem näher und vollständiger auf die Spur zu kommen, was eigentlich fehlt, wenn Menschen arbeitslos sind. Was ist das Bindeglied zwischen der beobachtbaren Arbeitslosigkeit und ihren psychosozialen Folgen? Wenden wir uns nochmals den eingangs spezifizierten sozialen Strukturierungsleistungen von Arbeit jenseits des Erwirtschaftens eines Lebensunterhalts zu. Erfolgreiches, sinnvolles Tätigsein setzt den Menschen in eine sinnvolle Beziehung zu seiner materiellen und sozialen Umwelt. Die naturbezogenen und sozialen Prozesse der Arbeit erfordern ein bewusstes Strukturieren von Raum und Zeit, indem sie den Menschen veranlassen, sich zu den sozialen und natürlichen Strukturen von Raum und Zeit im Alltag in Beziehung zu setzen - etwa pünktlich aufzustehen, den Weg zur Arbeit aufzunehmen, nach angemessener Zeit die Arbeit zu beenden. Kooperation, ohne die menschliche Arbeit nicht funktioniert, möglicherweise nie funktioniert hat, bedingt Interaktion mit Anderen, dadurch entstehen Kommunikation und Beziehungen. Diese gehen idealerweise mit Anerkennung im sozialen Nahbereich einher. Die Tatsache, dass ein Subjekt formal arbeitet, Steuern und Sozialbeiträge zahlt und konsumiert, erzeugt gesellschaftliche Anerkennung als wirtschaftendes und konsumierendes Subjekt, das auch für die Gesellschaft Leistungen erbringt.
Das Fehlen von Arbeit - hier als nutzbringende Tätigkeit unabhängig von ihrer Formalisierung - entlässt den Menschen aus der durch die Arbeit generierten raumzeitlichen Strukturierung des Alltags in die Strukturlosigkeit, beendet die Sinnproduktion, die mit der Arbeit einhergeht, bedingt einen Verlust zumindest der aus der Arbeitswelt herrührenden Kooperations-, Kommunikations- und Beziehungsstrukturen und der damit verbundenen nahräumlichen Anerkennung. Das Abweichen von den eigenen Rollenerwartungen und denen des nahräumlichen Umfelds - die wirtschaftlich eigenständige Existenz ist gefährdet, die Funktionsbeziehung zu Betrieb, Familie und Gesellschaft ist eingeschränkt - und letzten Endes die eigene Funktionslosigkeit des Betroffenen gefährden (auch bei Abwesenheit von starker materieller Armut) Familienbeziehungen. Denn Anerkennung, Selbstwertgefühl, Nützlichkeitsempfindung sind Münzen, die auch in anderen Lebensbereichen gelten, als in dem, in dem sie geprägt wurden. Durch Arbeitslosigkeit verursachte soziale Defizite können zu psychischen und in der Folge zu somatischen Defiziten werden: Arbeitslosigkeit kann krank machen. Wir sehen also, ein wichtiger Schlüssel zur Erklärung der psychosozialen und gesundheitlichen Folgeprobleme von Arbeitslosigkeit liegt in den sozialen Effekten der Erwerbsarbeit in der Arbeitsgesellschaft - in deren "naturwüchsiger" Sinnstiftungs-, Teilhabe- und Inklusionswirkung, bzw. deren Fehlen bei Arbeitslosigkeit.
Geförderte Arbeit
Nicht nur wegen der leeren Kassen des nachindustriellen Wohlfahrtsstaates, sondern auch wegen der vielgestaltigen naturwüchsigen Inklusionseffekte von Arbeit liegt es daher nahe, Arbeitslosigkeit mit Arbeit zu bekämpfen. In den Aktivierungskonzepten von Tony Blairs Drittem Weg ebenso wie in Gerhard Schröders Agenda 2010 waren die weiteren sozialen Inklusionseffekte jedoch etwas aus dem Blickfeld geraten. Arbeitslosigkeit erschien in den Jahren der Aktivierungseuphorie vor allem als fiskalisches Problem, das in einem verschlankten, das heißt kostengünstigeren und weniger inflationsträchtigen Staat nicht mehr tragbar sei. Arbeitslosigkeit wird in diesen Konzepten zumindest implizit als individuelle Fehlanpassung an den Arbeitsmarkt begriffen, die durch Training, Verhaltenskontrolle und beschleunigte Arbeitsvermittlung behoben werden kann. Jedoch entsteht Arbeitslosigkeit in größerem Umfang, wie die Praktiker in den Arbeitsämtern und Sozialbehörden wissen, meist dadurch, dass unter den gegebenen bzw. sich wandelnden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verhältnissen nicht mehr genug passende Arbeitsmöglichkeiten für alle diejenigen vorhanden sind, die arbeiten müssen, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Nur ein kleiner Teil der Arbeitslosigkeit ist auf mangelnde Erwerbsneigung oder -fähigkeit zurückzuführen. Neueste Untersuchungen bestätigen dies.
Geförderte Arbeit
Erste qualitative Evidenz liegt mittlerweile vor, die uns zumindest Spuren liefert, die bei der Aufklärung der Inklusionseffekte geförderter Arbeit weiterhelfen. Die folgenden Zitate stammen aus der ersten Welle eines qualitativen Panels von 100 Langzeitarbeitslosen und anderen Personen in prekären Erwerbslagen, die 2007 mittels narrativer Interviews zu ihren Erfahrungen und ihrer Lebenssituation befragt wurden. Die Interviewauszüge beziehen sich alle auf die mit dem Sozialgesetzbuch (SGB) II flächendeckend eingeführten Arbeitsgelegenheiten, die der Arbeitsmarktreintegration und der Verbesserung der Beschäftigungsfähigkeit dienen sollen, implizit oder in der täglichen Praxis auch zur Verhaltenskontrolle, der Arbeitstherapie, für soziale Dienstleistungsinfrastruktur und zur sozialen Stabilisierung eingesetzt werden.
Die Beispiele belegen, dass die Betroffenen den Arbeitsgelegenheiten deutliche soziale Stabilisierungs- und Integrationseffekte zuschreiben. Es handelt sich dabei nicht um Einzelfälle; die Beispiele sind typisch für nahezu alle befragten Teilnehmer. Ein geregelter Tagesablauf, der sich an den sozialen Rhythmen der Erwerbsarbeit orientiert, eine Erweiterung des persönlichen Interaktions- und Beziehungsnetzes und eine sinnvolle Tätigkeit werden als positiv, stabilisierend und integrierend empfunden. Wie qualitative Untersuchungen zur Zuweisungspraxis von arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen zeigen, ist dies auch den Fallmanagern und Betreuern auf der institutionellen Seite bekannt.
Ausblick - für ein erweitertes Verständnis von Aktivierungspolitik
Wenn wir davon ausgehen können, dass Arbeit nicht nur Broterwerb, sondern auch ein Schlüsselfaktor sozialer Teilhabe in der Arbeitsgesellschaft ist, dann folgt daraus, dass ihre Abwesenheit nicht nur auf individueller Ebene weitere Verluste oder andere Teilhabedefizite auslöst oder verstärkt. Denn alle, insbesondere jedoch demokratische, an den Menschenrechten orientierte Gesellschaften erfordern ein Mindestmaß an sozialer Inklusion, um politisch und sozial stabil zu sein. Wo dies nicht gelang oder gelingt, drohen auch heute Desintegration, Anomie, Kriminalität und politische Spannungen.
In Deutschland gelang dies jedoch: Von der Bismarck'schen Sozialgesetzgebung über die Anfänge der Mitbestimmung im Kaiserreich bis zur Anerkennung der Gewerkschaften und der wohlfahrtsstaatlichen Verfasstheit der Bundesrepublik zeigt sich historisch eine allmähliche Inklusion der vorher als "außenstehend" empfundenen Arbeiter, also der Menschen, die vom Verkauf ihrer Arbeitskraft leben müssen. Der Wohlfahrtsstaat ist, dies sollte man nicht vergessen, eine im politischen Konflikt geborene Konstruktion, die dem sozialen Frieden dadurch dient, dass die Risiken der Arbeitnehmerexistenz anerkannt und partiell vergesellschaftet und dadurch abgemildert werden. Soziale Integration ist für weitgehend besitzlose Menschen nicht nur eine Frage von Demokratie und politischer Teilhabe, sondern immer auch eine Frage der wirtschaftlichen und sozialen Teilhabe, welche die Spezifik der jeweiligen Existenz berücksichtigt und eine subsidiäre Risikovorsorge bereithält.
Die "Verallgemeinerung des Lohnarbeitsverhältnisses" und die damit verbundenen politischen und sozialen Bewegungen haben die Existenzrisiken der Arbeitnehmer zu denen der ganzen Gesellschaft gemacht - und dabei die Institutionen des Wohlfahrtsstaates hervorgebracht.
Die hier vorgetragene These von den zu wenig beachteten, jedoch zentralen Inklusionseffekten von Arbeit spricht dafür, die Politik des aktivierenden Wohlfahrtsstaats, wie sie sich mit Hartz IV auch in Deutschland entwickelt hat, in einem etwas anderen Licht zu betrachten. Aktivierung im engeren Verständnis, Menschen so schnell wie möglich aus Arbeitslosigkeit in "echte" Erwerbsarbeit zu bringen, hat Grenzen. Diese betreffen sowohl die Verfügbarkeit geeigneter Arbeitsplätze als auch die Menschen, für die es keine geeignete Arbeit gibt. Aktivierungspolitik in einem weiteren Verständnis könnte die Förder- und Ersatzarbeitsmärkte, die sich ohnehin entwickelt haben, nicht nur im Sinne von Übergängen in "richtige" Erwerbsarbeit,
Es sei angemerkt, dass nicht staatlich geförderte Arbeitsmarktteilhabe auf Basis einer regulären existenzsichernden Beschäftigung auch unter Teilhabe- und Integrationsperspektive den Ersatzarbeitsmärkten vorzuziehen ist, geht sie doch mit einer vollständigen Inklusion in die Arbeitsgesellschaft einher. Übergangs- und Ersatzarbeitsmärkte, dies ist ein alter Hut, müssen daher so beschaffen sein, dass sie mögliche Übergänge in ungeförderte existenzsichernde Beschäftigung nicht verhindern oder erschweren. "Echte" Teilhabe an ungeförderter existenzsichernder Erwerbsarbeit in wohlfahrtsstaatlich verfassten Gesellschaften löst mehrere Probleme mit einem Schlag: Inklusion in die Wirtschaftskreisläufe von Produktion und Konsum, sinnvolles Tätigsein, Strukturierung des Alltags, Kommunikation und Schaffung eines nahräumlichen Beziehungsgeflechts jenseits der Familie, soziale Anerkennung. Doch - dies sollten die vorangegangenen Ausführungen zeigen - geförderte Arbeit kann Inklusionseffekte erzeugen, wo "echte" Arbeit fehlt und vorübergehend oder dauerhaft nicht erreicht werden kann. Arbeitslose zu aktivieren, kann auch heißen, sie an persönlich und gesellschaftlich sinnvollen Dingen zu beteiligen, etwa um Vereinzelung und den Verlust von Strukturen im Alltag und sozialer Anerkennung zu verhindern - auch, wenn nicht gleich der Übergang in den ersten Arbeitsmarkt am Horizont winkt. Die Betroffenen, aber auch das Gemeinwesen werden es danken.