Einleitung
Theater im Fernsehen, das ist wie Sex ohne Anfassen." Zwei Medien, die sich elementar voneinander unterscheiden: Theater setzt das Live-Erlebnis, die physische Anwesenheit des Publikums im Zuschauerraum und der Schauspieler auf der Bühne voraus, während das Fernsehen der berühmten "vierten Wand", der unsichtbaren Wand am Bühnenrand, eine fünfte hinzufügt, eine aus Glas, die undurchdringlich ist für die Unmittelbarkeit des Theatererlebnisses.
Damit könnte man die Debatte unter dem Applaus mancher Altvorderen des Theaters, aber auch mancher Fernsehverantwortlicher beenden. Schreiende, schwitzende Figuren am Bildschirmhorizont, die, merkwürdig sprechend, Texte herausschleudern, die niemand im Wohnzimmeridyll hören will. Doch so einfach ist es nicht. Das Bild vom "Sex ohne Anfassen" ist so plastisch wie falsch, wenn es um die Beschreibung der komplexen Beziehung zwischen Bewegtbildmedien und theatralen Ausdrucksformen und deren wechselseitiger Durchdringung geht. Theater, Film und Fernsehen haben mehr miteinander zu tun, als manchem Genre-Separatisten lieb ist.
Die Beziehung beginnt mit der Erfindung des Films. Und sie ist einschlägig vorbelastet, denn der ältere Bruder Theater war von Anfang an mit einer Mischung aus Arroganz und Furcht vor Konkurrenz dem neuen Medienbaby nicht sehr zugetan. Das trieb sich zunächst nur auf Jahrmärkten herum und bot sich als "billiger Jakob" der Sensationsindustrie dem Plebs feil. Doch die Laterna magica blieb nicht nur eine halbseidene Geisterbeschwörung. Sie war die Vorläuferin einer neuen Form bewegtbildgestützter Erzählweisen, die mit einem Grundgesetz des Theaters brach: der Einheit der Szene (durch die Montage) und der Einheit von Zeit und Ort des Spiels und seiner Rezipienten. Weil sich der Film über diese beiden Axiome schnell hinwegzusetzen lernte, gingen die ungleichen Geschwister verschiedene Wege, ohne sich dabei aus den Augen zu verlieren.
Dabei bedurfte die Erfolgsstory des Films in Europa der Starthilfe des Theaters. Erst als das junge französische Filmunternehmen Pathé sich vom Konzept des Jahrmarktkinos löste und mit Theaterstoffen und theatralen Erzählweisen begann, das bürgerliche Publikum anzusprechen, löste sich das junge Medium vom Schmuddelimage. Jerzy Toeplitz sieht angesichts dieser frühen "Kunstfilme" eher eine "Theaterrevolution" als eine des Films.
Der Erfolg des Theaterfilms währte nicht lange. Der Film suchte sich seine Autoren und spezifischen Erzählweisen, seine Regisseure erfanden die Montage und veränderten das Spiel ihrer Protagonisten zu einem eigenständigen Genre, das sich in seiner Wirkungsmacht weit über das Theater erhob. Und doch sind Meilensteine der Filmgeschichte immer wieder mit Theorie und Praxis des Theaters und seinem Personal verbunden. Zu nennen sei nur der wichtige Einfluss der "Biomechanik", einer systematischen Bewegungstheatersprache, erfunden von Wsewolod Meyerhold am Staatlichen Regiestudio in Moskau auf das Werk von Sergej Eisenstein oder auch die sich wechselseitig befruchtenden, Theater und Film gewidmeten zwei Seelen des schwedischen Regisseurs Ingmar Bergman.
Am Anfang war Goethe
Das Fernsehen, jedenfalls das deutsche, entspringt dem Theater, wenn auch eher symbolisch. Sowohl ARD als auch ZDF eröffneten ihren Sendebetrieb mit Goethes "Zueignung" respektive dem "Vorspiel auf dem Theater" aus dem Faust: Ausdruck des Drangs eines Nachkriegsbürgertums, das Theater und seine Heroen als Veredelungsferment einzusetzen. Ausdruck aber auch eines ganz anderen Denkansatzes gegenüber der Funktionsweise des Fernsehens, das im öffentlich-rechtlichen Verständnis der ersten vierzig Jahre nach Gründung der Bundesrepublik Deutschland tatsächlich nicht nur als Informations- und Unterhaltungs-, sondern auch als Bildungsmedium konzipiert war. Die von der Verfassung vorgedachte und in Rundfunkstaatsverträgen geregelte Ausgestaltung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks und Fernsehens hatte Informationsvielfalt, Staatsferne und kulturelle Bildung im Sinn und ahnte noch nichts vom heraufziehenden Krieg um die Augäpfel der fortgeschrittenen Informationsgesellschaft.
Theater war für das öffentlich-rechtliche Fernsehen der frühen Jahre selbstverständlicher und fester Programmbestandteil. Er gehörte zum Bildungs- und Kulturauftrag. Sowohl Übertragungen von Bühnenaufführungen als auch Studioinszenierungen fanden noch in den 1970er Jahren zur besten Sendezeit ihr Publikum. Dabei wurde die Filmaufnahmetechnik rasch von elektronischen Verbundkameraaufzeichnungen und Liveübertragungen abgelöst. Das Echtzeitmedium Fernsehen setzte sich in die Publikumsreihen und machte das Bühnenereignis zum kollektiven Erlebnis. Neben dem Unterhaltungstheater und dem Kabarett, über Jahrzehnte hinweg Publikumslieblinge und Straßenfeger, hatte auch das anspruchsvolle Theater feste Sendeplätze; Gründgens, Kortner, Lietzau, Peymann, Zadek und Stein waren in ausgewählten Inszenierungen im Fernsehen präsent. Natürlich mit geringeren Zuschauerzahlen, aber frei von kommerzieller Konkurrenz, blieb es lange Zeit selbstverständlich, dass Bühnenaufführungen prominent programmiert wurden.
Das galt erst recht im Staatsfernsehen der DDR, wo Theater einen höheren Stellenwert besaß als in der Bundesrepublik, was man nicht ohne Stolz dem Klassenfeind gerne auch via Bildschirm entgegenhielt. Mit Brecht und seinem Berliner Ensemble hatte man einen ersten volksdemokratischen Exportschlager, der das Land durch international bejubelte Gastspiele hoffähig machte. Also wurde im Fernsehen der DDR Theater gesendet, was das Zeug hielt: nicht nur aus Berlin, sondern auch aus der Provinz, wo der Theaterkult flächendeckend aufrecht erhalten wurde, um damit ironischerweise die spezifisch deutsche, höfische Theaterkultur der Kleinstaaterei kommunistisch zu konservieren. Vorherrschende Methode war wie im Westen die TV-Aufzeichnung mit elektronischer Verbundkameratechnik. Brecht, der sich mit Rundfunktheorie beschäftigt, Filme gedreht und neugierig und aufgeschlossen gegenüber neuen Techniken gewesen sein soll, träumte stets von erweiterten Möglichkeiten, die er aus Sicht der Fernsehkameras für sein Publikum erschlossen sehen wollte.
Doch auch die Staatskultur der DDR konnte nicht verhindern, dass sich spätestens in den 1980er Jahren abzeichnete, welche markanten Veränderungen der Fernsehnutzung und der Sehgewohnheiten die Medien revolutionieren würden. Es trifft nicht zu, dies ausschließlich der Einführung des Privatfernsehens zuzuschreiben. Bereits im unausgesprochenen Konkurrenzkampf zwischen ARD und ZDF zeichnete sich ab, dass die Kulturfunktion des Fernsehens schnell hintangestellt werden kann, wenn es um die Frage geht, wer das größere Publikum bekommt.
Das Ende der fetten Jahre
Die Mechanismen des Massenmediums kennen wir in vollem Umfang erst seit Einführung des dualen Systems, also des Privatfernsehens Mitte der 1980er Jahre. Nun war kein Halten mehr, die Programmschemata von bildungsbürgerlichem Kulturauftragsballast zu befreien. Mit der täglich abrufbaren Einschaltquote als allein gültiger Bewertung des Erfolgs war das geeignete Instrument gefunden. Mit flinker Sichel wurden "notwendige Einschnitte" ins Programm vorgenommen. Theaterübertragungen standen senderübergreifend auf Platz 1 der Todeslisten programmoptimierender Direktoren. Gleichzeitig witterten Theatermanager Morgenluft und sahen in der Einführung des Privatfernsehens und in der dadurch vermuteten Öffnung des Marktes eine neue Chance zur Verbreitung ihrer Aufführungen. Um den vermeintlichen Programmhunger der Privaten nach hoch kultureller TV-Ware vorauseilend zu stillen, wurde eine kleine, selbstfinanzierte Aufzeichnungsreihe gestartet. Es entstand eine Trilogie, zu der Uwe-Jens Jensens Bochumer Polit-Revue "Unsere Republik", eine Shakespeare Komödie von Dieter Dorn an den Münchner Kammerspielen und "Wunder in Amerika" von der Württembergischen Landesbühne Esslingen unter Friedrich Schirmer gehörten.
Alle drei Aufzeichnungen erwiesen sich bei den Privatfunkern als unverkäuflich. Einziger Kunde war eine finanziell schwach bestückte öffentlich-rechtliche Neugründung: 3sat, das Satellitenprogramm von ZDF, schweizerischem und österreichischem Fernsehen, im Dezember 1984 erstmals zu sehen und in der Folgezeit verlässlichste Heimat für die Schönen Künste deutscher Sprache. Denn das Theatersterben in den öffentlich-rechtlichen Programmen ARD, ZDF und dann auch in den Dritten Programmen der ARD ging noch schneller voran, als zu befürchten war. Der Quotendruck übernahm Regie. Das "Redakteurfernsehen" hatte weitgehend ausgedient, von einer bildungsbürgerlich-pädagogisch durchwirkten Programmstrategie konnte fortan keine Rede mehr sein.
Doch es war gar nicht das Ende, sondern es sollte ein neuer Anfang werden, an dessen Zustandekommen ein "Fähnlein der sieben Aufrechten" mitwirkte, das sich in einer "Initiative Theater im Fernsehen" zusammenfand. Das war Anfang der 1990er Jahre, als das Ende der ZDF-Reihe "Die aktuelle Inszenierung" beschlossen und weit und breit kein öffentlich-rechtlicher Widerstand zu spüren war. Einige wenige Theater- und Fernsehleute sahen die Gefahr eines vollkommenen Abrisses im gerade mal ein paar Jahrzehnte jungen visuellen Gedächtnis des alten, flüchtigen Mediums Theater. Und sie erkannten den möglichen Schaden. Denn neben der aktuellen Nutzung der Ausstrahlung einer Theaterinszenierung ist ihr archivarischer Wert von ungleich höherer Bedeutung - wurde hier doch, zunächst unbeabsichtigt, an einer visuellen Enzyklopädie des deutschsprachigen Theaters gearbeitet, die das 2500 Jahre lang nicht dokumentierbare Kulturphänomen Theater erstmals in Bild und Ton festzuhalten vermochte.
Diese Reihe zu unterbrechen, wäre kurzsichtig und kulturhistorisch betrachtet fahrlässig gewesen. Aber weitermachen wie bisher ging auch nicht: zu teuer die Aufzeichnungen, zu behäbig die Aufzeichnungsmethode und zu altbacken die Form der optischen und akustischen Umsetzung von Bühneninszenierungen. Dabei hatte es bereits zuvor hoch interessante Versuche gegeben, Theater zeitgemäß ins Fernsehen zu bringen. Gerade "Die aktuelle Inszenierung" hat bis heute beispielgebende TV-Adaptionen hervorgebracht, mit innovativen Regisseuren wie Peter Stein, Andrzej Wajda, aber auch Luc Bondy. Unter den Fernsehregisseuren machte sich C. Rainer Ecke einen Namen, weil er neue, verfremdende Techniken der elektronischen Bildbearbeitung für seine Theateradaptionen verwendete. Legendär ist eine in Zeitlupe versetzte Szene aus einer Romeo und Julia-Inszenierung des jungen Leander Haußmann am Residenztheater in München: für Theaterpuristen damals ein Skandal, für andere ein überfälliger fernsehästhetischer Aufbruch.
Die erste Aufgabe dieser kleinen, erstmals 1995 in Frankfurt am Main in der Deutschen Akademie für Darstellende Künste sich versammelnden Initiative bestand darin, ein Winterquartier für Theater im Fernsehen zu finden. Denn das mit diesem vermeintlich aussterbenden Genre im medienbesoffenen Deutschland der 1990er Jahre kein Staat zu machen sein würde, darüber war man sich im Klaren. Das Winterquartier hieß 3sat, das junge, werbefreie Kulturprogramm, und gespeist wurde am Tisch des Berliner Theatertreffens, dessen Tage ebenfalls gezählt schienen wegen Bedeutungswegfall infolge gefallener Mauer. Gemeinsam sind wir stark, machen ein Festival für Theater gleichzeitig auf Berliner Bühnen und im Fernsehen und sichern so die Fortsetzung der Theateraufzeichnungen herausragender Inszenierungen.
Seither sind gegen hundert herausragende Inszenierungen entlang der Einladungsliste des Berliner Theatertreffens und darüber hinaus entstanden und zum Teil mehrfach ausgestrahlt worden. Zunächst live aufgenommen, inzwischen aufwändig vorbereitet und nachbearbeitet. Ein Theatermagazin (FOYER), das einzige im deutschsprachigen Raum, ist entstanden, und viele andere Formen der Dokumentation und Berichterstattung. Mit der Eröffnung des ZDFtheaterkanals im Dezember 1999 kam ein digitaler Spartenkanal hinzu, der das Repertoire erlebbar macht und das Angebot um eine ganze Reihe von zusätzlichen Komponenten erweitert hat. Der Kulturkanal ARTE ist eine andere bedeutende Plattform, über die Theaterprogramme Verbreitung finden, wenn auch inzwischen nur noch zu später Sendezeit und auf ausgewählten Sendeplätzen.
Generation Fernsehen: Mehr Licht und leiser bitte
Die Neuordnung der Beziehung zwischen Theater und Fernsehen, der Aufbruch und die Aufgeschlossenheit gegenüber Bewegtbild- und Videotechnik speiste sich auch aus einer ganz anderen Quelle. Sie ist Ausdruck einer neuen Generation, derjenigen der "Post-68er", die in ihrer Mehrheit erstmals mit dem Fernsehen als elektronischem Lagerfeuer aufgewachsen ist. "Flipper", "Lassie", "Daktari", "Raumschiff Enterprise", "Ein Herz und eine Seele", "Dallas": Für jeden mag das Fernsehgeknister seiner Zeit Favoriten und Unbekannte haben, aber generell haben die Serienfilme auf dem virtuellen Marktplatz Bildschirm eineinhalb Generationen einen Teil ihrer Identität gegeben, ob sie es heute noch hören und sehen wollen oder nicht. Und wie das einstige Jahrmarktmedium Film hat sich die Massenklischeemaschine Fernsehen nicht nur ihren Weg gebahnt, sondern ist Bestandteil des großen Malkastens geworden, aus dem sich Künstler, zumal wenn sie für das Theater arbeiten, bedienen, wenn sie die Augen und Ohren des Publikums erreichen wollen.
Also wurden Methoden und Techniken, vor allem aber die Erzählweise des Fernsehens von einer neuen Generation von Theaterkünstlern auf der Bühne ausprobiert. Ganz oder in Teilen, imitiert, ironisiert, als Stückwerk benutzt, neudeutsch "dekonstruiert" oder schlicht auf die Bühne gekotzt: "Da, Medienbürger, guck dir an, was du jeden Tag frisst, und beklage nicht die Verwahrlosung, die wir dir vorführen, denn es ist deine eigene Verwahrlosung, dein eigener geistiger Niedergang." Das ist, simpel ausgedrückt, die Botschaft der Schlingensiefs, der Polleschs und Castorfs. Sie haben sich die Medienwelt angesehen, sie inhaliert, gefügig gemacht und eingerichtet für die Bühne. Ihre Ästhetik wäre ohne das Fernsehen nicht zu denken. Obwohl sie es hassen, lieben sie es auch - wie Fast Food.
Es ist noch an einen weiteren formalen Aufbruch des Theaters zu erinnern, um die Neubestimmung der feindlichen Medienbruderschaft mit den Bewegtbildern zu verstehen. Ende der 1980er Jahre machte ein Franko-Kanadier namens Robert Lepage seine ersten Ausflüge nach Europa und zeigte uns ein Theater, dem unsere Augen nicht trauen. In Le Polygraph beispielsweise bricht er mittels einer neuartigen Technik von Videoprojektionen die Geometrie der Bühne auf und erzeugt bisher nie bekannte Bilder. Lepage ist seither nicht müde geworden, Hybridformen zwischen Film, Videoinstallation und Theater zu kreieren, bespielbare Cinemascope-Schlitze etwa in seinen Shakespeare-Werken und die Überwindung der Gravitation in seiner spektakulären Las Vegas-Show "Ka" mit dem Cirque du Soleil. "Ex Machina" heißt seine Zauberwerkstatt in Quebec; jetzt arbeitet er an einer "Ring"-Inszenierung für die Metropolitan Opera in New York, die dieser medialen Erweiterung des Bühnenraums eine weitere Dimension hinzufügen wird.
Betrachtet man die "reine Form" der Fernsehadaption von Bühnenaufführungen, so ergeben sich eine Reihe von Problemen, die nicht leicht zu lösen sind. Licht, Maske, Kostüme, Bühnen und last not least die Dramaturgie sind in der Regel nicht für die Kamera gemacht. Modifizierende Eingriffe in das originäre Bühnengeschehen mögen weder die Künstlerinnen und Künstler noch das Publikum. Es bleibt in der Regel nur die Möglichkeit einer sanften Anpassung, beispielsweise der Lichtstimmungen, um zu harte Kontrastsprünge zu vermeiden. Aber Bühnenschweiß, Schreie und Spucke bleiben im Fernsehbild ein ungewöhnliches, für manchen abstoßendes Erlebnis, und es gehört Abstraktionsvermögen dazu, als Zuschauer vor dem Bildschirm dem Bühnengeschehen entspannt folgen zu können.
Das gilt nicht für jede, aber für manche Theaterinszenierung, und manchmal ist es so, dass eine im Zuschauerraum goutierte Aufführung auf dem Weg in den Fernsehsessel viel verliert. Deshalb haben wir auf manche Aufzeichnung trotz hohem künstlerischen Niveau des auf der Bühne Vorgefundenen verzichtet. Es gibt auch Fälle, die uns eines Besseren belehren. Erinnerlich ist eine vorab vereinbarte Aufzeichnung einer Othello-Inszenierung des Belgiers Luk Perceval zur Eröffnung der Münchner Kammerspiele nach der Renovierung. Ein Ereignis zweifellos, doch die Hauptprobe bringt Licht ins Dunkel, jedoch von der falschen Seite: Lichtmeister Max Keller, ein Virtuose seines Fachs, hat die Bühne schwarzweiß ins Gegenlicht geleuchtet. Der Mohr von Venedig ist in eine hart kontrastierte Welt aus Ying und Yang getaucht. Wir sehen nicht, wie es gelingen soll, ein solches Bild authentisch einzufangen. Dem Fernsehregisseur Hannes Rossacher, neben Peter Schönhofer und Andreas Morell einer der Spezialisten, ist zu verdanken, dass wir bleiben. Er zaubert mit mobilen Kameras und ungewöhnlichen Winkeln und Perspektiven ein optisches Kabinettstück unter Mithilfe und Dank der Vorarbeit des Bühnenregisseurs Perceval, der es selbst gewohnt ist, mit der Kamera zu arbeiten. Am Ende stehen wir staunend vor einem Aufzeichnungsergebnis, das die Inszenierung in selten geglückter Art und Weise repräsentiert, ohne sie aus Zuschauerperspektive abgefilmt zu haben.
Überhaupt, die Zuschauerperspektive. Immer wieder taucht die Frage auf, ob das Fernsehen den Blick des Zuschauers nicht bevormundet und ein authentisches Theatererlebnis verunmöglicht. Diese Diskussion ist aus zwei Gründen sinnlos. Erstens gibt es keine generelle Zuschauerperspektive, nicht im Theater und auch nicht vor dem Fernseher. Und zweitens würde niemand, der das schwierige Geschäft der Fernsehadaption von Theaterstücken betreibt, behaupten, er vermittle ein authentisches, unverändertes Bild des Bühnengeschehens. Es sind einfach zweierlei Paar Schuhe, mit denen man allerdings auf ein und dem selben Pfade wandelt.
Aber die Grenzen des Bühnengeschehens und die Physik des Bühnenraums beschränken auch die Möglichkeiten des Filmischen bei der fernsehtechnischen Adaption. Das betrifft mehr noch den Ton als das Bild: Trotz Einsatz von Mikroports und inzwischen hoch komplexen Raumton-Aufnahmeverfahren bleibt die Achillesferse der Bühnenaufzeichnung vorläufig der Ton. Selbst wenn in der Bühnenaufführung ursprünglich Mikroports zur Saalbeschallung am Schauspieler Verwendung finden, ist die Wirkung im Fernsehen häufig verstörend. Dynamiksprünge und ein falsches Verhältnis zwischen Kameradistanz und akustischer Distanz können zu dieser Irritation beitragen.
Event, Event, ein Lichtlein brennt!
Es lehrt uns das Theater: Gespielt wird auf der Bühne, und das Spiel kann lange dauern, sehr lange - manchmal zu lange für den von Natur aus ungeduldigen Fernsehzuschauer, dessen Verweildauer vor einer Sendung nur mehr selten zweistellige Minutenzahlen erreicht. Die Eventitis hat deshalb das Kunst- und das Theaterwesen nicht ausgespart. Wahrscheinlich ist das Theater sogar Erfinder des "Events". Aber das Ereignis als conditio sine qua non der Mediengesellschaft trägt seltsame Blüten und beginnt die Optik für Qualität im Spiel nachhaltiger zu verzerren, als es Fernsehkameras allein je tun könnten. In der Endphase des Römischen Reiches entdeckten die Theaterbetreiber der vielen hundert über das Reich verstreuten Arenen die Pornographie als letzten funktionierenden Publikumsmagneten. Die Schauspieler mussten allerlei Nackedeien vorführen, um die hohen Ränge zu füllen und damit auch die Kassen.
So funktioniert es, das Diktat der Quote, und so endet die Gier nach dem Ereignis. In der Prostitution der Kunst zum Zwecke des Kommerzes, im Ausverkauf der Protagonisten vor der johlenden Masse und ihren Sommernachtsphantasien. Es ist so einfach wie müßig, das zu beklagen. So lange die Gesetze des Marktes alles in ihren Bann schlagen, so lange Akzeptanz mit Masse gleichgesetzt wird, so lange wird das eskalierende Eventwesen die öffentliche Wahrnehmung auch der Kunst bestimmen, so lange hängt von Anna Netrebko, die gut aussieht, großartig singt und herzlich gerne in und mit der Öffentlichkeit spielt, das wirtschaftliche Wohl und Wehe der Oper ab. Der Eventmähdrescher Fernsehen kann von all dem nicht genug haben, was schon Masse ist und noch mehr Masse macht. Ist es gut und richtig, den Wanderungen der Massen zu folgen? Und wenn es das Medium selbst ist, das Kunst mit Mitteln des Ereignisfernsehens in den Vordergrund zwingt, zum "Ranking" ausstellt und, wie wir jüngst bei ARTE selbst getan, Dramatiker zur Abstimmung ausruft, wer denn der Beste sei? Ist das dann vollends vom Teufel, der totale Ausverkauf vom Guten, Wahren, Schönen?
Wieder ist die Antwort nicht so einfach. Waren es doch die alten Griechen, die Erfinder des Theaters, die das Dramatiker-Ranking in den Dionysien erfunden haben und damit die Wiege bauten für unsere 2500 Jahre junge Theaterkultur, die garantiert alle elektronischen Medien überleben wird. Denn "der Mensch ist erst da ganz Mensch, wo er spielt", so Schiller. Und deshalb ist ein spielerischer Umgang mit Themen, die uns bewegen, nicht nur erlaubt, sondern vielleicht der einzige Weg, sich in einer vollständig unbegreiflichen, unübersichtlichen Welt inklusive ihrer medialen Kakophonie einigermaßen unbeschädigt zu bewegen.
So ist der spielerische Umgang mit den Gesetzmäßigkeiten der ungleichen Beziehung des zänkischen Pärchens Film und Theater vielleicht am Ende der Königsweg, um sich aus der Umklammerung der Begrenztheit der Abbildungsmethoden zu befreien. Die Wiederentdeckung des Theaterfilms, die Urbarmachung von Theaterstoffen mit den filmsprachlichen Mitteln der Gegenwart zeigt sich neuerlich als probates Mittel für die Bühne, mediales Terrain zu gewinnen. Mit den Dämonen von Frank Castorf noch auf der Basis einer Bühneninszenierung, aber befreit vom Bühnenraum gefilmt, war ein erster Schritt getan. Uwe Jansons Theaterfilm-Trilogie Baal, Lulu und Peer Gynt sowie jüngst sein Werther, aber auch Leander Haußmanns Verfilmung von Kabale und Liebe sind weitere gelungene Beispiele für eine Wiederbelebung der tot geglaubten Beziehung, und sie findet Nachahmer und staunt über internationale Vorbilder, die sogar am Markt der Blockbuster-Industrie bestehen können (Kenneth Branagh & Co.). Die Angelsachsen wie auch die Asiaten tun sich leichter, ihre kulturelle Bundeslade zu öffnen und damit Masse und meinetwegen auch Kasse zu machen, während sich in Deutschland die Gott sei Dank hoch subventionierten Hüter der Kunst noch allzu sehr in ihren Tempeln und Milieus verschanzen, um nicht gemein zu werden.
In Zukunft elektronisches Volkstheater?
Eigentlich war Theater so nicht gemeint. Es war und ist für alle da. Jeder braucht es. Ohne Theater kann man nicht leben. Man hält das Leben sonst nicht aus. Und weil das so ist, wird sich ein neues Volkstheater mit weniger Ressentiments gegenüber den neuen Medien konstituieren. Insbesondere das Internet ist dabei zu entdecken und zu instrumentalisieren. Neue Erzählweisen eines Volkstheaters werden intermedial arbeiten. Es entstehen neue Erzählweisen, die sowohl auf der Bühne als auch auf der Straße, im Netz oder am Bildschirm spielerisch ansetzen, um das Publikum zu verführen, ihren Geschichten zu folgen. Ein Pionier wie Herbert Fritsch und sein Hamlet-X-Projekt setzt in Deutschland erste Marken. International ist man weiter (Kanada, Großbritannien).
Die Geschichte von Theater und Bildschirm beginnt gerade erst spannend zu werden. Übrigens auch und erst recht bezogen auf das Fernsehen: Die ausstehende Einführung der HD-Technik und die bereits weit verbreiteten Flachbildschirme und Soundsysteme kommen der Rezeption der guten alten Bühnenadaption entgegen. Plötzlich wird eine Bühnentotale möglich, verwandelt sich eine Opernabfilmung mittels heimischer Dolby-Surround-Technik zum sinnlichen Hochgenuss.
Es fragt sich auch, ob die Zurückhaltung bei den Fernsehneuproduktionen im Bereich der darstellenden Künste nicht gelockert werden muss, um dem lauter werdenden Ruf nach public value nachzukommen, nach dem öffentlich wahrnehmbaren, nichtkommerziellen Wert seiner für viele Gebührenmillionen erkauften Darbietungen. Die BBC öffnet inzwischen wieder ihre Hauptsendezeiten für so etwas wie Theaterfilme. Die weitere Diversifizierung des Fernsehmarktes wird die Verbreitung billiger, die Konkurrenz vielfältiger machen und damit den Kesseldruck für die Daseinsberechtigung des öffentlich-rechtlichen Fernsehens erhöhen. Vielleicht sitzt man eines Tages auch bei ARD und ZDF wieder im Theater in der Ersten Reihe.