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Politisches Theater nach 1945 | Politisches Theater | bpb.de

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Politisches Theater nach 1945

Franziska Schößler

/ 16 Minuten zu lesen

Der Beitrag stellt Spielarten politischen Theaters vor: die "Theaterrevolution" auf den Westbühnen, das DDR-Theater um Brechts Konzept des eingreifenden Denkens und Bemühungen um ein repolitisiertes Theater.

Einleitung

Was politisches Theater ist, darüber lässt sich trefflich streiten. Ob allein die Inhalte ausschlaggebend sind, ist jedoch mehr als fraglich. Vielmehr scheint eine bestimmte Form über das Politische zu entscheiden: die Unterbrechung, die verbindliche Darstellungs- und Wahrnehmungsmuster stört.


Ein politisches Theater irritiert eingespielte, automatisierte Rezeptionsformen, bricht mit Erwartungen und stellt Normalitäten in Frage, so der Tenor von Bertolt Brecht bis Heiner Müller. Noch grundlegender formuliert: Die Wirklichkeit unmöglich zu machen bzw. ihre Gewaltförmigkeit und ihre Ausschlüsse sichtbar, und umgekehrt das Unmögliche als utopischen Horizont aufscheinen zu lassen, das könnte als Programm eines politischen Theaters nach 1945 gelten.

Demokratisierung und Mitbestimmung

Eine markante Etappe des politischen Theaters nach 1945 bildet die in den 1960er Jahren stattfindende "Revolution" auf den Bühnen der Bundesrepublik, welche die Dramatik, die Inszenierungspraxis sowie die Institution grundlegend verändert hat. In der Nachkriegszeit dominierte in Westdeutschland ein Theater, das auf (scheinbar) zeitlose humane Werte und auf den Kanon klassischer Texte ausgerichtet war. Das neu entstehende Regietheater der 1960er Jahre hingegen löst sich vom Literarischen und entdeckt, ähnlich wie die Historischen Avantgarden zu Beginn des 20. Jahrhunderts, die Bühne als autonomes Ausdrucksmittel jenseits des Textes - diese Tendenz ließe sich mit Hans-Thies Lehmann als postdramatisches Theater bezeichnen.

Der (klassische) Text verliert seine Autorität, die Regisseure nehmen für sich in Anspruch, das Material unerbittlich auf seine Aktualität hin zu befragen und neu zu komponieren. Welche Aussagen treffen klassische Stücke wie Die Räuber und Torquato Tasso über gegenwärtige gesellschaftliche Machtverhältnisse? Diese "Entliterarisierung" ist ein untrügliches Zeichen dafür, dass das Theater seinen bildungsbürgerlichen Anspruch in Frage stellt, ja aufgibt. Nicht mehr nur für die höheren Gesellschaftsschichten soll Theater gemacht werden, sondern auch für Kinder und Lehrlinge, für Studierende und von Studierenden. Es entstehen neue Theaterformen an Schulen, in Werkstätten, an Universitäten. Das Theater macht sich populär, und zwar auch in seinen Inszenierungen. Man greift auf Bildmaterial der Populärkultur zurück, wie in der Inszenierung Die Räuber (1966), die der Regisseur Peter Zadek in Bremen entwickelt. Für den Rundhorizont wählt der Bühnenbildner Wilfried Minks ein überdimensioniertes, comicartiges Bild von Roy Lichtenstein.

Der Angriff auf das traditionelle Theater und seine Elite verändert auch die dramatischen Texte bzw. ihr Verhältnis zur "Wirklichkeit" und führt zu einer neuen Formensprache. Bereits zu Beginn der 1960er Jahre machen verstörende Dokumentardramen auf sich aufmerksam, die vornehmlich Erwin Piscator, der streitbare Regisseur eines politischen Agitprop-Theaters in den 1920er Jahren, auf die Bühne bringt. Rolf Hochhuths penibel recherchiertes Stück Der Stellvertreter, 1963 an der Freien Volksbühne in Berlin uraufgeführt, greift die Tatenlosigkeit von Papst Pius XII. während des Holocaust an und löst einen Skandal aus, der eine internationale Öffentlichkeit erreicht. Ähnlich sieht es mit dem Drama Die Ermittlung von Peter Weiss aus (Uraufführung/UA 1965), das das brutale Kalkül der nationalsozialistischen Lager in Gesängen überhöht und das Theater zum Gerichtshof macht, dem sich die Öffentlichkeit zu verantworten hat. Die Dokumentarstücke, zu denen auch Heinar Kipphardts In der Sache J. Robert Oppenheimer (UA 1964) zählt, brechen den schützenden Rahmen des Kunsttempels Theater auf und lenken den Blick auf politische Realitäten, auf den Holocaust, den Kalten Krieg und die Atombombe. Ähnlich wie es in den 1990er Jahren der Intendant der Berliner Schaubühne, Thomas Ostermeier, fordern wird, legen diese Dokumentarstücke "eine Nabelschnur" zur Wirklichkeit, die als massive Verstörung in den geschützten Raum des Bildungstheaters einbricht. Gleiches gilt für Michael Hatrys Stück Die Notstandsübung, das am 12. März 1968 in Ulm uraufgeführt wird und die geplante Notstandsgesetzgebung zum Gegenstand hat. Das Drama löst nahezu eine politische Krise aus, denn der iranische Botschafter protestiert beim Auswärtigen Amt.

Neue Felder der Wirklichkeit entdecken auch diejenigen Stücke, die sich seit Ende der 1960er Jahre mit prekären Lebenssituationen befassen, mit Arbeitslosen, Frauen und Behinderten, mit schwer repräsentierbaren Interessen, die in hochkulturellen Dramen meist keinen Platz finden und in der Politik über eine schwache Lobby verfügen. Das neue Volksstück hat Konjunktur - Martin Sperr, Franz Xaver Kroetz und Rainer Werner Fassbinder schreiben in Anlehnung an die kritische Sozialdramatik von Ödön von Horváth und Marieluise Fleißer engagierte Stücke, die Unterschichten und Ausgegrenzte zu Protagonisten machen. Fassbinders Katzelmacher (UA 1968) schildert die Probleme von "Gastarbeitern" in einer fremdenfeindlichen Welt, Kroetz' Heimarbeit (UA 1971) erzählt in verstörender Manier vom Versuch einer heimlichen Abtreibung - in Heimarbeit, mit Stricknadeln.

Das Theater entdeckt neue Inhalte und Formen, überdenkt aber auch vertraute Konventionen, wie Peter Handke in Publikumsbeschimpfung (UA 1966). Das Stück, das sich dem Repräsentationstheater und seinem Illusionismus verweigert, beginnt mit Sätzen, die Seh- bzw. Hörgewohnheiten der Zuschauer ansprechen und stören: "Sie werden hier nichts hören, was Sie nicht schon gehört haben. Sie werden hier nichts sehen, was Sie nicht schon gesehen haben. Sie werden hier nichts von dem sehen, was Sie hier immer gesehen haben. Sie werden hier nichts von dem hören, was Sie hier immer gehört haben." Die vier Figuren auf der Bühne entwerfen in dialektischer Manier widersprüchliche Zustandsbeschreibungen und geben widersprüchliche Befehle, um die Zuschauer zu aktivieren - bei der Uraufführung von Claus Peymann kommt es zu lebhaften Interaktionen zwischen Publikum und Bühne. Die Inszenierung setzt ein zentrales Ziel des politischen Theaters um, auch wenn Handke die zeitliche Koinzidenz der Aufführung mit den Pariser 68er-Unruhen für zufällig hält: die Aktivierung des Zuschauers. Vorbildlich für dieses Theater ist Brechts Konzept des "eingreifenden Denkens".

Das Theater versucht, politisches Handeln und kritisches Bewusstsein einzuüben, und zwar bereits während seines Entstehungsprozesses. Lässt sich für die 1950er Jahre von einer Autokratie der Intendanten und Regisseure sprechen, hatten sie die Deutungsherrschaft inne und galt ihnen der Schauspieler vornehmlich als Material ihrer szenischen Phantasien, so verlangen nun alle Akteure an der Theaterarbeit beteiligt zu werden - Demokratisierung und Mitbestimmung, so lauten ihre Forderungen, welche die Regiearbeit grundlegend verändern. Den Bühnenlösungen gehen gewöhnlich lange Diskussionen voraus, und entscheidender als das Resultat ist der Prozess, das heißt die Bewusstwerdung. An der Berliner Schaubühne unter Peter Stein und am Frankfurter Theater unter Peter Palitzsch dokumentieren ausufernde Protokolle diese Debatten - für Frank-Patrick Steckel ein "Transparenzinstrument". Kunst wird als kollektiver Prozess begriffen, als Einübung in Handlungsfähigkeit und in ein kritisches Bewusstsein. Diese Neudefinition des Theaters hat selbstverständlich ganz wesentlich mit den politischen Aktionen um 1968 zu tun. Allerdings lässt sich nicht so sehr von direkter Einflussnahme sprechen, eher von Parallelaktionen und Berührungspunkten. Denn aus linker Sicht gilt das Theater weiterhin als zu unpolitisch und zu bildungsbürgerlich.

Theater in der DDR: Aushandlung und Widerstand

Für die "Bühnen-Revolution" der 1960er Jahre ist ein Theatermacher vorbildlich: Bertolt Brecht. Er wird zur Galionsfigur der westdeutschen Szene, zum einen aus ästhetischen Gründen, zum anderen, weil seine DDR-Staatsbürgerschaft ein probates Mittel ist, um in Westdeutschland linke Positionen zu artikulieren. Kommt es dort im Verlauf der 1950er und 1960er Jahre an etablierten Theatern wiederholt zu Brecht-Boykotten, um die Distanz zum anderen deutschen Staat zum Ausdruck zu bringen, so orientieren sich Studentenbühnen der Bundesrepublik sowie die linke Szene, allen voran das Bremer Theater und die Schaubühne am Halleschen Ufer, nachdrücklich an diesem Autor.

Brecht, dessen Verhältnis zum DDR-System und zum Kommunismus in der Forschung umstritten ist, entwickelt bereits zwischen den Weltkriegen eine avantgardistische Theatertheorie, die auf Veränderbarkeit, auf die Fremdheit von Wirklichkeit, auf Potentialität setzt und für das politische Theater des 20. Jahrhunderts wegweisend ist. Brecht erarbeitet eine Theorie der Unterbrechung, die dem Zuschauer das "eingreifende Denken" ermöglichen soll, ein Denken, das Handeln ist und die Wirklichkeit nach eigenen Vorstellungen modelliert. Voraussetzung ist, dass die Wirklichkeit auf der Bühne als historische Konstruktion und damit als veränderbar erscheint; Mittel ist die Unterbrechung. Das Spiel auf dem Theater solle, so Brechts Ziel, den alltäglichen Gestenfluss, das vertraute Verhalten unterbrechen und so die gesellschaftlichen Bedingungen sowie die Geschichtlichkeit von Zuständen erfahrbar werden lassen. In seinem Theater der Gesten lösen sich entsprechend Sprache und Körper voneinander ab und treten aus ihrem scheinbar natürlichen Zusammenhang heraus. In Der Dreigroschenprozeß betont Brecht: "Auf die Sprache kommt es gar nicht an, sie ist zu trennen von der Gestik und Mimik, auf welche es ankommt."

Diese Zerlegung von scheinbar natürlichen Einheiten (wie Sprache und Körper) und ihre Montage zu widersprüchlichen, heterogenen Komplexen verfremdet das Wirkliche. Brecht definiert sein politisches Theater wesentlich über die Form, nicht über die Inhalte, und spricht sich wiederholt gegen Agitprop-Theater und eine Funktionalisierung des Theaters für den Klassenkampf aus. Brecht geht es nicht um (marxistische) Lehren und Botschaften, sondern die offenen Schlüsse seiner Dramen, die Liedeinlagen, die Kommentare, das ganze Inventar des epischen Theaters versuchen die Zuschauer zu einem eingreifenden Denken zu befähigen, das die fatale Trennung von Theorie (Kunst) und Praxis (Leben) unterläuft. Dass Brechts Position auch in der DDR, in Bezug auf die verbindliche Ästhetik des Sozialistischen Realismus (ein auf Illusion festgelegtes Programm), anstößig wirkt, belegen sein längeres Ringen um ein eigenes Theater in Ost-Berlin, ebenso die Stanislawski-Konferenz, die Brecht mit dem russischen Einfühlungstheoretiker konfrontiert, und die Debatte um Lukullus. Dieser Oper, die er zusammen mit Paul Dessau erarbeitet, wird, ähnlich wie kurz zuvor Carl Orffs Antigonae, Formalismus vorgeworfen - der geschmähte Gegenbegriff zum verbindlichen Konzept des Sozialistischen Realismus.

Die ausufernde Diskussion über die Lukullus-Oper lässt die ambivalente Position des DDR-Theaters, das per se auf das politische System bezogen und insofern für das mögliche Verhältnis zwischen Kunst und Politik in hohem Maße aufschlussreich ist, kenntlich werden: Es steht zwischen Wertschätzung und Zensur, verfügt über Spielräume, doch wird stark reglementiert. Die Theaterkunst ist ein Hätschelkind des Regimes, weil ihr wichtige Funktionen im Prozess der Umerziehung zukommen. Denn das Theater mit seinem visionär-utopischen Potential kann das als "leibhaftige Realität" vorführen, was die Zukunft verheißt: einen befriedeten, gerechten Gesellschaftszustand. Prototypisch für ein linientreues Theater ist Erwin Strittmatters Bauerndrama Katzgraben, das mit Vorbildgestalten und Identifikation arbeitet.

Weil in der DDR in so hohem Maße auf das Theater Wert gelegt wird, entstehen - nur scheinbar paradox - Spielräume für Aushandlungen und Überschreitungen des vorgeschriebenen ästhetischen Konzepts, wie die Lukullus-Debatte verdeutlicht. Brecht agiert geschickt und erwirkt immerhin die Fertigstellung der Oper sowie eine Uraufführung. In seinem Arbeitsjournal betont er das Konstruktive dieser Auseinandersetzung mit dem Staat: Man muss "die kritik nie fürchten; man wird ihr begegnen oder sie verwerten, das ist alles". Ein ähnliches Aushandeln zieht sich durch die Theaterbiographie von Frank Castorf, der in den 1980er Jahren das Theater mit Pop und Rock bekannt macht und in seinen Inszenierungen die DDR - zum Leidwesen der politischen Instanzen - zu historisieren beginnt. Die Obrigkeit versetzt den Regisseur, an dessen Begabung nie gezweifelt wird, in die Provinz. Um Castorf nach diversen Eklats aus Anklam zu entfernen, wird ihm eine Inszenierung seiner Wahl mit Gastschauspielern, Videoaufzeichnung und fünf garantierten Aufführungen angeboten.

Das DDR-Theater ließe sich also einerseits als fortgesetzter Aushandlungsprozess beschreiben, als Versuch, Spielräume zu nutzen. Andererseits ist die Kunst den sich schnell ändernden parteipolitischen Richtlinien unterworfen, die oft über Gedeih und Verderb eines Künstlers entscheiden. So lanciert das 11. ZK-Plenum im Dezember 1965 einen Generalangriff auf "schädliche Tendenzen" in Film, Fernsehen, Theater und Literatur. Erich Honecker brandmarkt unter anderem Heiner Müllers Der Bau - das Stück wurde erst 1980 an der Volksbühne unter der Regie von Fritz Marquardt gezeigt -, ebenso die Lieder von Wolf Biermann. Die Geschichte des DDR-Theaters ließe sich mithin auch als Abfolge von Verhinderungen und Verboten erzählen, von Ausschlüssen aus dem Schriftstellerverband und Berufsverboten, wie sich exemplarisch an dem Stück Die Umsiedlerin von Müller zeigen lässt. Das Drama beschäftigt sich mit den Umstrukturierungen "auf dem Lande" zwischen 1946 und 1960, Höhepunkt der ansteigenden "Republikflucht". Das Stück wurde sehr zur Überraschung Müllers - so jedenfalls behauptet er in seiner Autobiographie Krieg ohne Schlacht - als defätistische Kritik am Sozialismus verstanden. Die Inszenierung der Erstfassung an der Studentenbühne der Hochschule für Ökonomie in Berlin-Karlshorst 1961 wird nach der Premiere verboten und hat den Ausschluss Müllers aus dem Schriftstellerverband zur Folge. Die Empörung mag darauf zurückzuführen sein, dass Müller die neuralgischen Aspekte der Landreformen thematisiert und die Misere der Bauern in existenziell überhöhten Todesbildern präsentiert. Ein weiterer Grund für die Kritik mag die komische Figur des Säufers Fondrak gewesen sein. Sein einziges Credo sind das Bier und die Lust, der Rausch also, dem auch Brecht eine wichtige soziale Funktion zuschreibt. Müller betont ganz in diesem Sinne: "Kommunismus soll die Freuden und Räusche, die der Kapitalismus zu bieten hat, nicht liquidieren, sondern - überbieten."

Müller überschreitet zudem die realistische Ästhetik durch einen offenen, ja sozialistischen Jambus (so Peter Hacks) sowie durch poetische Allegorien, welche die Geschichte als nicht abzuschüttelnde Last erscheinen lassen. Gleichwohl ist ihm wie Brecht an der Aktivierung der Zuschauer gelegen - das genuine Ziel eines politischen Theaters. Seinem frühen Stück Der Lohndrücker (UA 1958) schickt Müller die Erläuterung voraus: "Das Stück versucht nicht, den Kampf zwischen Altem und Neuem, den ein Stückschreiber nicht entscheiden kann, als mit dem Sieg des Neuen vor dem letzten Vorhang abgeschlossen darzustellen, es versucht, ihn in das Publikum zu tragen, das ihn entscheidet." Müller erreicht diese Aktivierung, indem er harsche Widersprüche exponiert und die Identifikation der Zuschauer verhindert.

In den 1970er und 1980er Jahren wurde in der DDR ähnlich wie im Westen das avantgardistische Theater wiederentdeckt, vorbereitet durch die Inszenierungen von Benno Besson, der ein burleskes Maskentheater entwirft wie in Der Frieden von Aristophanes/Hacks (1962). Mitte der 1980er Jahre setzen sich auch auf den DDR-Bühnen postdramatische Tendenzen durch, also die Ablösung vom literarischen Text, von Realismus und Illusionismus - unter anderen bei Jo Fabian, Frank Castorf und der freien Gruppe Zinnober, die die Grenze zwischen Leben und Alltag aufzuheben versucht.

Wirtschaftliche Krise und Repolitisierung

Die Phase nach 1989 lässt sich vornehmlich als Krise beschreiben, denn die Theater, vor allem in der Hauptstadt, verdoppeln sich zahlenmäßig, verlieren ihren ausgewiesenen Kulturauftrag aus der Zeit des Kalten Krieges und geraten zunehmend unter ökonomischen Druck. Es kommt zu Schließungen ganzer Häuser wie dem Schiller-Theater in Berlin, zur Zusammenlegung von Spielstätten und der Streichung von Sparten. Dem ökonomischen Druck mag es geschuldet sein, dass sich das Theater als Gegenstrategie (um das Publikum und einen Auftrag zurückzugewinnen) auf seine politischen Möglichkeiten besinnt. Insbesondere seit 1995 ist von einer Repolitisierung des Theaters die Rede.

Die aktuellen Stücke widmen sich im Zuge dieses "neuen politischen Realismus" virulenten gesellschaftlichen Problemen wie Arbeitslosigkeit, Globalisierung, aber auch Familiendesastern. Der Kampf um Arbeit in der heißen Phase der New Economy wird zum neuen Tragödiensujet und der Top Dog, anders als in der Sozialdramatik der 1970er Jahre, zum beliebten Protagonisten. Die Stücke von Moritz Rinke, Kathrin Röggla, Albert Ostermaier, Falk Richter, Dea Loher, Gesine Danckwart, Roland Schimmelpfennig und John von Düffel (um nur einige zu nennen) sezieren die Effekte der neoliberalen Entwicklung und erobern mit diesen Themen die deutschsprachigen, mittlerweile auch die internationalen Bühnen. Dramen, die die politische "Wende" in Deutschland ganz unmittelbar behandeln, haben es hingegen kaum vermocht, die Spielpläne langfristiger zu bestimmen - dazu zählen unter anderem Christoph Heins desillusionistische Bestandsaufnahme Die Ritter der Tafelrunde (UA 1989), Klaus Pohls Heimkehrerstück Karate-Billi kehrt zurück (UA 1991), Rolf Hochhuths Abrechnung mit der Treuhandanstalt Wessis in Weimar (UA 1993), Manfred Karges MauerStücke (UA 1990), Elfriede Müllers Goldener Oktober (UA 1991) sowie Botho Strauß' Geschichtsdramen Schlußchor (1991) und Das Gleichgewicht (1993).

Ökonomie, genauer: Arbeitslosigkeit, wie sie selbst Unternehmer und Manager trifft, ist mithin das neue Thema eines Theaters, das erklärtermaßen politisch sein will. Urs Widmers Stück Top Dogs, ein "Königsdrama" der Wirtschaft, wird als "zukunftsweisende(s) Modell politischen Theaters" bezeichnet - das Projekt des Neumarkt Theaters Zürich erhielt 1997 den Mülheimer Theaterpreis und stürmte die deutschsprachigen Bühnen, wohl auch aufgrund des neuartigen Figurenensembles, der Top Dogs. Die Täter werden zu Opfern, die Subjekte zu Objekten in einem System, dessen einziger Imperativ "Produzieren" lautet. Das Stück basiert auf Recherchen im Firmenbereich, die Widmer als ethnologische Studien, als Feldforschung beschreibt. Das Theater begibt sich im Zuge dieser Repolitisierung, so lässt sich verallgemeinern, in neue außerliterarische Zusammenhänge, in Firmen, auf Arbeitsämter, zu Unternehmensberatern, und erfasst ihre Sprache dokumentarisch.

Ein Bestandteil dieser Politisierung ist, dass die Produktionskontexte am Theater selbst zum Thema werden und sich nicht zuletzt deshalb die Geschlechterverhältnisse im patriarchalen Betrieb allmählich verändern: Seit der deutschen Vereinigung hat es eine Vielzahl von Frauen auf die begehrten Intendantenposten geschafft (wie Barbara Mundel in Freiburg, Amélie Niermeyer in Düsseldorf, Karin Beier in Köln), und auch unter den Dramatikern hat sich die Zahl der Autorinnen beträchtlich vergrößert. Das Theater überdenkt seine eigenen Beschäftigungs- bzw. Ausbeutungsverhältnisse unter genderpolitischem Vorzeichen: Insbesondere René Pollesch thematisiert in seinen Stücken (als Autor und Regisseur) die prekären Arbeitsverhältnisse von Schauspielerinnen wie in Tod eines Praktikanten (2007). Darüber hinaus zeichnet sich eine engere Fusion von Stadttheatern und freier Szene ab, die die theatralen Mittel verändert und die politische Stoßrichtung intensiviert. Das Theater wird zum Instrumentarium von Stadterkundungen, wird mobil und ist auf der Suche nach einem neuen Publikum - in sozialen Brennpunkten, an den Rändern der Stadt.

Eine ganz andere Spielart des politischen Theaters, und zwar jenseits der elitären Institution Stadttheater, entwickelt der umstrittene Aktionskünstler Christoph Schlingensief, der, wie sein Dramaturg Carl Hegemann formuliert, das Theater rettet, indem er es abschafft. Seine politischen Aktionen wie die Parteigründung Chance 2000 (1998) und das Container-Projekt für die Wiener Festwochen (2000) arbeiten an der Sichtbarkeit von Ausgeschlossenen, von Asylbewerbern, Arbeitslosen und Behinderten, von schwer repräsentierbaren Interessen also. In Chance 2000, seiner Antwort auf die Bundestagswahl, verknüpft Schlingensief Politik und Theater. Er richtet einen Wahlzirkus ein (in einem veritablen Zirkuszelt) und verbindet politische Agitation mit akrobatischer Aktion, sodass beispielsweise der Balanceakt politischer Entscheidungen als Seiltanz ausgetragen werden kann. Chance 2000 imitiert das Prozedere einer Parteigründung ziemlich genau - es entstehen Manifeste, Protokolle und Wahlprogramme - und formuliert ein ernstes Anliegen: die Repräsentation von Arbeitslosen. Ziel ist, auch "den arbeitslosen oder sonst wie ausgegrenzten Menschen wieder zum Menschenrecht der Würde zu verhelfen", dem "ganzen Volk wieder die strukturelle Gewalt zurückzugeben, die ihm das Grundgesetz unverbrüchlich verliehen hatte".

Dieses Anliegen hat durchaus die Dignität sozialreformerischer Utopien und schließt an die politischen Happenings von Joseph Beuys, an seine Bemühungen um eine plebiszitäre Demokratie an. Zugleich jedoch theatralisiert und ironisiert Schlingensief das politische System. Sein Projekt führt jede Form von politischer Stellvertretung durch den Slogan der Partei: "Wähle dich selbst" ad absurdum. Ein politisches Ziel wird bewusst vermieden, stattdessen auf reine Aktion gesetzt: "Machen Sie mal was! Was ist egal. Hauptsache, Sie können es vor sich selbst vertreten. Natürlich wird es eine Pleite werden, wenn Sie selbst was machen. Aber eine Pleite, die von Herzen kommt, ist besser als eine Million, an der Scheiße hängt. (...) Freiheit ist, grundlos etwas zu tun." Im Sinne der Historischen Avantgarden geht es um pure Aktion, um aktivierende Prozesse, die die Normierungen, Homogenisierungen und Selektionen des Politischen (als Bedingung von Interessenvertretung) aufbrechen.

Ähnliche Angriffe auf politische wie kulturelle Instanzen lanciert Schlingensiefs Container-Projekt bei den Wiener Festwochen. Er stellt einen Container auf den Wiener Opernplatz, in den unter großem Medieninteresse Asylbewerber einziehen - ob echte oder fingierte, ist nicht auszumachen. Über das Internet kann ein anonymes Publikum über die Abschiebung der Insassen entscheiden - ein hoch provokantes Szenario, noch dazu von einem Deutschen in Österreich. Schlingensiefs Beitrag für die Wiener Festwochen führt die Reality-TV-Show "Big Brother", die den Voyeurismus des Fernsehens zum Selektionsspiel potenziert, mit dem öffentlichkeitswirksamen Thema der Ausländerpolitik bzw. den problematischen Abschiebepraktiken zusammen, und zwar in dem Augenblick, in dem sich Österreich unter dem Blick eines Zensors weiß; die EU-Kommission überprüft die Einhaltung europäischer Grundwerte. Deponiert Schlingensief den Container auf dem Opernplatz, so trägt er in das Herz der Stadt ein, was die Normalität lieber verdrängt, dass nämlich Europa zur Festung wird, sich abschottet und seinen inneren Frieden durch Abschiebungen und Grenzziehungen erkauft.

Ein politisches Theater scheint allem voran, so sollte diese historische Skizze verdeutlichen, den Auftrag zu haben, die Norm zu stören, zu unterbrechen und die gewaltvollen Ausgrenzungen sichtbar zu machen, welche die Normalität erst produzieren. Ein politisches Theater macht die Wirklichkeit unmöglich (auch im Sinne von: schwer erträglich) und zielt auf das Unmögliche, beispielsweise die Utopie einer solidarischen Gesellschaft, die zunehmend in unerreichbare Ferne zu rücken droht.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Hans-Thies Lehmann, Das Politische Schreiben. Theater der Zeit (Recherchen 12), Berlin 2002, S. 7f.

  2. Vgl. ders., Postdramatisches Theater, Frankfurt/M. 1999.

  3. Vgl. Henning Rischbieter (Hrsg.), Durch den eisernen Vorhang. Theater im geteilten Deutschland 1945 bis 1990, Berlin 1999, S. 123.

  4. Vgl. dazu Dorothea Kraus, Theater-Proteste. Zur Politisierung von Straße und Bühne in den 1960er Jahren, Frankfurt/M.-New York 2007, S. 78f.

  5. Peter Handke, Publikumsbeschimpfung, in: Spectaculum, 10 (1967), S. 63 - 83, S. 67.

  6. Was ist politisches Theater? Eine Debatte mit Zeitzeugen, in: Ingrid Gilcher-Holtey/Dorothea Kraus/Franziska Schößler (Hrsg.), Politisches Theater nach 1968, Frankfurt/M.-New York 2006, S. 19 - 122, S. 77.

  7. Bertolt Brecht, Kleines Organon für das Theater, in: ders., Schriften zum Theater 7, 1948 - 1956, Frankfurt/M. 1964, S. 5 - 67, S. 31.

  8. Bertolt Brecht, Der Dreigroschenprozeß (1931), in: ders., Versuche 1 - 12, Heft 1 - 4, Frankfurt/M. 1977, S. 243 - 300, S. 278.

  9. Vgl. Ingrid Gilcher-Holtey, Eingreifendes Denken. Die Wirkungschancen von Intellektuellen, Weilerswist 2007, S. 106.

  10. Vgl. Joachim Luccesi (Hrsg.), Das Verhör in der Oper. Die Debatte um die Aufführung Das Verhör des Lukullus von Bertolt Brecht und Paul Dessau, Berlin 1993.

  11. Ebd., S. 59f.

  12. Vgl. Robin Detje, Castorf. Provokation aus Prinzip, Berlin 2002, S. 106f.

  13. Vgl. Heiner Müller, Krieg ohne Schlacht. Leben in zwei Diktaturen, Köln 1992, S. 160f.

  14. Zit. nach: Genia Schulz, Heiner Müller, Stuttgart 1980, S. 43.

  15. Zit. nach: Bernhard Greiner, Von der Allegorie zur Idylle. Die Literatur der Arbeitswelt in der DDR, Heidelberg 1974, S. 85.

  16. Vgl. dazu Petra Stuber, Spielräume und Grenzen. Studien zum DDR-Theater, Berlin 1998, S. 241f.

  17. Martin Halter, Warten uff de Godot. Feuerwehrmann der Utopie: Urs Widmer als Theaterautor, in: Urs Widmer. Text und Kritik, 10 (1998), S. 30 - 39, S. 39.

  18. Vgl. Volker Hesse/Stephan Müller (Hrsg.), Top Dogs, Zürich 1997, S. 48.

  19. Christoph Schlingensief/Carl Hegemann, Chance 2000. Wähle Dich selbst, Köln 1998. S. 77.

  20. So der Klappentext, ebd.

Dr. phil., geb. 1964; Professorin für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Trier, FB II Germanistik, 54286 Trier.
E-Mail: E-Mail Link: schoessl@uni-trier.de