Anfang des 20. Jahrhunderts regierte Europa über etwa 85 Prozent des globalen Territoriums in Form von Kolonien, Protektoraten und Dependancen. Diese einzigartige Dominanz hinsichtlich des geografischen und historischen Ausmaßes wurde von brutalen Plünderungen der besetzten Territorien, Genoziden und der schrittweisen Etablierung eines transnationalen Sklavenhandels begleitet. Auch wenn Kolonialismus als ein Phänomen "kolossaler Uneindeutigkeit" beschrieben werden muss,
Da die postkoloniale Theorie auf die Offenlegung epistemischer und diskursiver Gewalt eurozentrischer Normen fokussiert, wird die Frage der Dekolonisierung immer in ihrem Verhältnis zu Themen wie transnationaler Gerechtigkeit, Demokratisierung, Menschenrechten, Globalisierung, Entwicklungspolitiken und dem schwierigen Erbe der europäischen Aufklärung untersucht. So werden die komplexen kolonialen Genealogien gegenwärtiger Diskurse, Institutionen und Praktiken bearbeitet und die Implikationen des Kolonialismus für die Verfasstheit gegenwärtiger globaler Politiken analysiert. Insbesondere die ambivalente Rolle, die das Recht im (Post-)Kolonialismus eingenommen hat, wird kritisch beleuchtet.
Postkoloniale Menschenrechtskritik
Laut der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (AEMR) sind alle Menschen mit gleichen Rechten ausgestattet, die unveräußerlich, unteilbar und universal gültig sind. Die Menschenrechte sind eine äußerst wirkmächtige politische Norm unserer Zeit. Ihre Verletzung durch einen Staat oder eine Institution führt zur Delegitimation des- oder derselben, während politische Praktiken im Sinne der Menschenrechte als Marker für die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft liberaler, demokratischer Staaten gelesen werden.
Im ersten Artikel der AEMR heißt es: "Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren" – eine Erklärung, die bei ihrer Proklamation 1948 von den damals noch kolonisierten Ländern mit berechtigter Skepsis vernommen wurde. Während Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor allem von Europa ausgingen, denkt selbst heute die Mehrheit im Globalen Norden bei Menschenrechtsverletzungen nicht an Europa, sondern an jene Länder, die Europa "zivilisiert" hat. Immer wieder beruft sich der Globale Norden auf die Menschenrechte, um Staaten des Globalen Südens anzuprangern und in ihre internen Belange einzugreifen. Der Druck auf die Länder des Globalen Südens geht dabei auch von transnationalen Netzwerken und Hilfsorganisationen aus.
Kritik am vorherrschenden Menschenrechtsdiskurs kommt nicht zufällig verstärkt vonseiten postkolonialer Denker_innen. So kritisiert etwa der Rechtswissenschaftler Makau Mutua eine Menschenrechtsbewegung, die es darauf angelegt zu haben scheint, erneut unter Beweis zu stellen, dass die Länder des Globalen Südens barbarisch und keiner eigenen Regierung fähig seien.
Die Wirkmächtigkeit dieses Menschenrechtsdiskurses wird erst verständlich, wenn Recht und Rechtssetzungen als erforderliche Instrumente des Kolonialismus betrachtet werden, die sowohl in den kolonisierten Ländern als auch in Europa grundlegende Veränderungen im Verständnis von Gerechtigkeit hervorbrachten. Nicht selten haben Rechtsinstitutionen imperialistische Unternehmungen wortwörtlich legitimiert.
Der Rechtswissenschaftler Antony Anghie entfaltet eine alternative Geschichte des Völkerrechts.
Beispiel Frauenrechte
Die Schwierigkeit mit der Universalisierung und Instrumentalisierung der Menschenrechte ist besonders offensichtlich im Feld der Frauenrechte.
Wodurch wird eine Gruppe von Personen oder Nationen dazu ermächtigt, im Interesse der weit entfernten "Anderen" zu handeln und jenen ein ebenso gutes Leben bescheren zu wollen, wie sie es selbst haben? Um diese Prozesse zu verstehen, ist die Klärung folgender Fragen wichtig: Welche hegemonialen Normen helfen, darüber zu urteilen, wer als Mensch gilt und sich als legitimes Rechtssubjekt qualifiziert? Welche Ansprüche sind gerechtfertigt, und wer entscheidet darüber? Wer spricht für wen, und wer autorisiert welche Diskurse? Geht es letztlich um normative Ansprüche, die nicht realisiert werden können, oder grundlegender um Fragen normativer Gewalt?
Bigotter Helfen-Diskurs
Viele Menschenrechtsverletzungen sind auch Resultate von Strukturanpassungsprogrammen, die von den gleichen Geldgebern begleitet werden, die sich für die Menschenrechte einsetzen. Dass Staaten spezifische Rechte missachten, indem sie etwa gewerkschaftliche Organisierung verbieten oder erschweren, Kinderarbeit zulassen, Löhne unterhalb von Mindestlohngrenzen tolerieren und Ernährungs- und Bildungssubventionen kürzen, ist häufig schlicht Folge einer neoliberalen Strukturanpassungspolitik. Fatalerweise können selbst Entwicklungsorganisationen, die solchen Strukturanpassungen kritisch gegenüberstehen, darauf hinwirken, neokoloniale Strukturen zu stabilisieren, indem sie für die liberal-universalistischen Menschenrechte eintreten. Denn die Menschenrechtsagenda trägt dazu bei, die institutionelle Macht internationaler Organisationen zu vermehren, und dient immer wieder, oft unter dem Vorwand der Schutzverantwortung, als Alibi für strategische und/oder militärische Interventionen.
In Verteidigung (westlicher) Menschenrechtspolitiken könnte sicher angeführt werden, dass ihr Anliegen darin bestehe, die Verbesserung der Lebensverhältnisse aller Menschen anzustreben. Allerdings scheint eben das zweifelhaft. Eine feministisch-postkoloniale Lesart aktueller Menschenrechtspolitiken ermöglicht hier die erforderliche Problematisierung unkritischer Solidaritätsgebaren sowie eurozentrischer und androzentrischer Diskurse zu globaler Gerechtigkeit: Die "Politik des Helfens" verdeckt ökonomische und geopolitische Interessen, während die hegemonialen Menschenrechtsdiskurse dem Globalen Norden als Rechtfertigung dienen, um im Globalen Süden einzugreifen. Im Rahmen einer eurozentrischen Epistemologie werden die Ursprünge des Reichtums der Länder des Globalen Nordens von den Bedingungen des Kolonialismus losgelöst und stattdessen mit Diskursen von Fortschritt und Rationalität als Erfolge der europäischen Aufklärung repräsentiert. Eine wohltätige Helfen-Politik, bei dem der Globale Norden seinen "Anderen" dabei behilflich sein will, von ihm zu lernen, vernachlässigt den historischen Zusammenhang zwischen normalisierten Privilegien und kontinuierlicher kolonialer Ausbeutung.
Der Neokolonialismus erhält sich gerade vor allem dadurch aufrecht, dass glaubhaft gemacht wird, es werde Gutes für die Menschen getan.
(Un-)Möglichkeit, Unrecht zu richten
Menschenrechtspolitiken werden jedoch nicht nur aufgrund der sie bestimmenden Euro- und Androzentrismus kritisiert. Die postkoloniale Intellektuelle Gayatri Chakravorty Spivak blickt darüber hinaus auf die Trennung zwischen jenen, die von oben "Unrecht richten" und jenen unten, denen Unrecht angetan wird.
Spivak kombiniert die in einem Gedicht von Rudyard Kipling 1899 artikulierte "Bürde des weißen Mannes" mit der darwinistischen Vorstellung des "Überlebens des Stärkeren" und formt daraus "die Bürde des Stärkeren". Zum Ausdruck kommt damit die zur Schau gestellte eigene Überlegenheit, die Länder des Globalen Nordens glauben macht, sie seien dazu verpflichtet, über die Menschenrechtsverletzungen im Globalen Süden zu richten.
In Richtung einer anderen Menschenrechtspolitik fordert Spivak eine Veränderung des Verständnisses von Verantwortung als einer Pflicht des "Stärkeren" für den "Anderen" hin zu einer Verantwortung gegenüber dem "Anderen".
Ambivalentes Erbe der Aufklärung
In den vergangenen Jahren wurde eine kontroverse Debatte um die Frage geführt, ob postkoloniale Studien, die in der Tradition der Aufklärung stehen, einen unguten Eurozentrismus reproduzieren. Besonders Vertreter_innen der US-amerikanischen Lateinamerikanistik wie Walter Mignolo oder Ramón Grosfoguel lehnen die Schriften der europäischen Aufklärung kategorisch als Vorboten von Ausbeutung und Zerstörung in Form von Kolonialismus und Kapitalismus ab und kritisieren die ideologische Löschung anderer Wissensformen.
Vertreter_innen der Frankfurter Schule beklagen, dass die postkoloniale Kritik emanzipatorische Ideale aufgebe.
Es ist auch unsere Meinung, dass eine unkritische Festlegung auf einen normativen erkenntnistheoretischen Fundamentalismus das gewaltvolle Erbe des europäischen Kolonialismus letztlich leugnet und seine Konsequenzen unsichtbar macht. Trotzdem kann das Gegenmittel zum Eurozentrismus und Imperialismus weder ein naiver Nativismus, also der Glaube, alles außereuropäische und präkoloniale Wissen sei gut, rein und überlegen, noch eine kategorische Negierung jeder normativen aufklärerischen Theoriebildung sein. Stattdessen schlagen wir eine Pluralisierung und Diversifizierung der Narrative normativer Legitimität vor.
Normative Verpflichtungen sind auch ohne Rückgriff auf fundamentalistische Prämissen möglich. Entgegen der rigorosen Annahme normativer Theoretiker_innen argumentieren wir, dass postkoloniale Theorien über eine nicht-fundamentalistische Herangehensweise an normative Legitimität die Konturen des Kritischen rekonfigurieren können. Anstatt also zu behaupten, dass normative Standards zwangsläufig durch universelle Prinzipien untermauert sein müssen, werden die Ungewissheiten und Dilemmata normativer Prinzipien akzeptiert und umrissen. Da eurozentrische Narrative legitimierender Normativität mit einer Abwertung und Disqualifikation außereuropäischer normativer Prinzipien einhergehen, zeigen sich "universelle" normative Prinzipien als provinziell und exkludierend. Es gilt, durch die Offenlegung des Eurozentrismus der Aufklärung ihre Normativität von destruktiven und regressiven Tendenzen zu befreien.
Das normative Erbe der Aufklärung ist höchst ambivalent und widersprüchlich: geprägt zugleich von Barbarismus und Zivilität, Beherrschung und Emanzipation. Die Kritik an den durch die Aufklärung inspirierten Menschenrechten bedeutet mithin keineswegs, dass die Idee der Menschenrechte an und für sich abgelehnt wird. Die postkoloniale Kritik der Aufklärung bleibt in einem performativen Widerspruch gefangen, weil sie ihr kritisches Vokabular vom Zielobjekt ihrer Kritik geerbt hat. Dies hat zweifellos Auswirkungen auf die Beziehung postkolonialer Theoretiker_innen zu den von der Aufklärung bereitgestellten Werkzeugen der Kritik. Spivak beschreibt den Zugang zur europäischen Aufklärung durch Kolonisierung zugespitzt als eine "befähigende Verletzung" und schlägt vor, diese strategisch zu nutzen, auch wenn die Verletzung neu verhandelt werden muss. Da marginalisierte soziale Gruppen sich innerhalb des Diskurses der Aufklärung bewegen, wenn sie bürgerliche und politische Rechte einfordern, lehnt sie eine kategorische Zurückweisung der Aufklärung ab und plädiert stattdessen für einen anderen Umgang mit den Schriften der Aufklärung, der darin bestehe, "sie von unten zu gebrauchen".
In diesem Zusammenhang ist folgende Frage zentral: Wie kann mit dem Paradoxon umgegangen werden, dass die Aufklärung trotz ihrer Ausrichtung auf das weiße, männliche bürgerliche Subjekt für kritische Analysen weiterhin unverzichtbar bleibt? So wurde etwa in vielen postkolonialen Kontexten die Erfahrung gemacht, dass die Kritik an der Moderne zu einer Stärkung von konservativen und nationalistischen Ordnungen geführt hat. Es muss untersucht werden, wie die Thesen, Konzepte und Annahmen der europäischen Aufklärung über die Grenzen Europas hinaus befördert werden können, um den ehemals Kolonisierten zu dienen, ihr eigenes Verständnis von Demokratie, Recht und Freiheit zu erarbeiten.
Die Aufklärungsideale bleiben unverzichtbar. Wir können diese "nicht nicht wollen",