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Die Universalität der Menschenrechte überdenken | Menschenrechte | bpb.de

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Die Universalität der Menschenrechte überdenken

María do Mar Castro Varela Nikita Dhawan

/ 14 Minuten zu lesen

Die postkoloniale Theorie untersucht Implikationen des Kolonialismus für gegenwärtige globale Politiken. Insbesondere die ambivalente Rolle des Rechts wird kritisch beleuchtet. Dies umfasst auch eine Auseinandersetzung mit den internationalen Menschenrechten.

Anfang des 20. Jahrhunderts regierte Europa über etwa 85 Prozent des globalen Territoriums in Form von Kolonien, Protektoraten und Dependancen. Diese einzigartige Dominanz hinsichtlich des geografischen und historischen Ausmaßes wurde von brutalen Plünderungen der besetzten Territorien, Genoziden und der schrittweisen Etablierung eines transnationalen Sklavenhandels begleitet. Auch wenn Kolonialismus als ein Phänomen "kolossaler Uneindeutigkeit" beschrieben werden muss, handelt es sich trotz der pluralen und differenten Kolonisationsformen immer um dauerhafte Herrschaftsbeziehungen, die mit physischer, militärischer, epistemologischer und ideologischer Gewalt durchgesetzt wurden. Bei der Expansion der europäischen Mächte in Asien, Afrika und den Amerikas wurde der Prozess der materiellen und physischen Ausbeutung und Unterdrückung durch Legitimierungsdiskurse begleitet, die den Kolonialismus als eine notwendige "Zivilisierungsmission" präsentierten. Auch europäische Intellektuelle heute bemerken nicht selten, dass die Kolonisierung letztlich der "unzivilisierten" Welt die Aufklärung Europas, Rationalität und Humanismus und mithin auch die Menschenrechte gebracht habe. Die europäische Kolonisierung wurde und wird mitunter immer noch als Triumph der Wissenschaft und Vernunft über den Aberglauben und das Unwissen gefeiert. Dabei bedient sich der koloniale Diskurs einer gewaltvollen Repräsentation der "Anderen" als unverrückbar different und der gleichzeitigen Konstruktion eines souveränen, überlegenen europäischen Selbst.

Da die postkoloniale Theorie auf die Offenlegung epistemischer und diskursiver Gewalt eurozentrischer Normen fokussiert, wird die Frage der Dekolonisierung immer in ihrem Verhältnis zu Themen wie transnationaler Gerechtigkeit, Demokratisierung, Menschenrechten, Globalisierung, Entwicklungspolitiken und dem schwierigen Erbe der europäischen Aufklärung untersucht. So werden die komplexen kolonialen Genealogien gegenwärtiger Diskurse, Institutionen und Praktiken bearbeitet und die Implikationen des Kolonialismus für die Verfasstheit gegenwärtiger globaler Politiken analysiert. Insbesondere die ambivalente Rolle, die das Recht im (Post-)Kolonialismus eingenommen hat, wird kritisch beleuchtet. Dies schließt eine genauere Auseinandersetzung mit den zumeist a priori als positiv beschriebenen internationalen Menschenrechten ein.

Postkoloniale Menschenrechtskritik

Laut der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (AEMR) sind alle Menschen mit gleichen Rechten ausgestattet, die unveräußerlich, unteilbar und universal gültig sind. Die Menschenrechte sind eine äußerst wirkmächtige politische Norm unserer Zeit. Ihre Verletzung durch einen Staat oder eine Institution führt zur Delegitimation des- oder derselben, während politische Praktiken im Sinne der Menschenrechte als Marker für die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft liberaler, demokratischer Staaten gelesen werden.

Im ersten Artikel der AEMR heißt es: "Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren" – eine Erklärung, die bei ihrer Proklamation 1948 von den damals noch kolonisierten Ländern mit berechtigter Skepsis vernommen wurde. Während Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor allem von Europa ausgingen, denkt selbst heute die Mehrheit im Globalen Norden bei Menschenrechtsverletzungen nicht an Europa, sondern an jene Länder, die Europa "zivilisiert" hat. Immer wieder beruft sich der Globale Norden auf die Menschenrechte, um Staaten des Globalen Südens anzuprangern und in ihre internen Belange einzugreifen. Der Druck auf die Länder des Globalen Südens geht dabei auch von transnationalen Netzwerken und Hilfsorganisationen aus.

Kritik am vorherrschenden Menschenrechtsdiskurs kommt nicht zufällig verstärkt vonseiten postkolonialer Denker_innen. So kritisiert etwa der Rechtswissenschaftler Makau Mutua eine Menschenrechtsbewegung, die es darauf angelegt zu haben scheint, erneut unter Beweis zu stellen, dass die Länder des Globalen Südens barbarisch und keiner eigenen Regierung fähig seien. Mutua illustriert dies anhand der Metapher "Wilde-Opfer-Retter": Die "Wilden" seien diejenigen, die die Menschenrechte brechen und typischerweise als ein nicht-westlicher Staat repräsentiert werden. Dass im Zentrum der Menschrechtspolitiken zumeist die "Opfer" stehen, befördere einen viktimisierenden Blick, der Handlungsmacht bei den als "Opfer" Gedachten nahezu undenkbar macht. Es seien vor allem Nichtregierungs-, und Wohlfahrtsorganisationen wie auch westliche Regierungen, die die "Opfer" vor den "Wilden" retten (müssen).

Die Wirkmächtigkeit dieses Menschenrechtsdiskurses wird erst verständlich, wenn Recht und Rechtssetzungen als erforderliche Instrumente des Kolonialismus betrachtet werden, die sowohl in den kolonisierten Ländern als auch in Europa grundlegende Veränderungen im Verständnis von Gerechtigkeit hervorbrachten. Nicht selten haben Rechtsinstitutionen imperialistische Unternehmungen wortwörtlich legitimiert. Die Universalisierung des Völkerrechts fungierte beispielsweise sowohl als Instrument als auch als Bedingung kolonialer und postkolonialer Herrschaft. Obschon sich nationale Befreiungsbewegungen durchaus auf das Völkerrecht beriefen, um ihr Selbstbestimmungsrecht einzufordern, blieben die institutionalisierten Hierarchien im internationalen Recht weiterhin erhalten und trugen zur Unterordnung vormals kolonisierter Länder bei. Schließlich wäre ohne das Instrument des internationalen Rechts und dessen Konzeption von Privateigentum und Besitz sowie der Legitimierung von Konfiszierung und dem Aufzwingen von Regierungsformen die Enteignung außereuropäischer Völker nicht in einer so systematischen Art und Weise möglich gewesen.

Der Rechtswissenschaftler Antony Anghie entfaltet eine alternative Geschichte des Völkerrechts. Im Gegensatz zu klassischen Darstellungen, die die Konsolidierung der Souveränitätsdoktrin auf den Westfälischen Frieden von 1648 datieren, zeigt Anghie die konstitutive Rolle des Kolonialismus in Diskursen über Souveränität und internationalem Recht auf. Er untersucht die Kontinuitäten dieser historischen Beziehung im Völkerrecht der Gegenwart, das, obwohl es Universalität beansprucht, diese grundlegende Asymmetrie nie überwunden hat. Die Legitimierungsstrategie von Kolonialismus als Rettungsmission werde in heutigen internationalen Diskursen durch Kategorien wie etwa "entwickelt" und "unterentwickelt" reproduziert und sei auch in der Unterscheidung von "entwickelten" und "unterentwickelten" Rechtssystemen wiederzufinden. Letzteren werde immer die Möglichkeit eingeräumt, sich zu entwickeln, doch freilich bleibe dafür die Anleitung durch Europa vonnöten. Es handele sich gewissermaßen um ein pädagogisch-politisches Projekt, das auf der Entmündigung ehemals kolonisierter Völker einerseits sowie der Bestätigung Europas als überlegene Macht andererseits beruhe. Der Zivilisierungsdiskurs stelle in Aussicht, dass die behauptete politische Inkompetenz der Kolonisierten durch Anstrengungen derselben überwunden werden könne, und rechtfertige zugleich, diejenigen, die keine Vernunft zeigen, auch ohne ihre Einwilligung zu regieren. Postkoloniale Subjekte, Gemeinschaften und Staaten, die als zivilisiert und modern gelten wollen, müssen sich anpassen, riskieren sie sonst, gegen ihren Willen "zivilisiert" und "modernisiert" zu werden.

Beispiel Frauenrechte

Die Schwierigkeit mit der Universalisierung und Instrumentalisierung der Menschenrechte ist besonders offensichtlich im Feld der Frauenrechte. Das Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau von 1979, mittlerweile von den meisten Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen ratifiziert, bestimmt westliche Rechte per se als modern und emanzipatorisch, während die Quelle der Unterdrückung von Frauen in ehemals kolonisierten Ländern vor allem in den angeblich "traditionellen" kulturellen Praktiken gesucht wird. So tritt erneut die Moderne als Befreierin auf – dieses Mal der unterdrückten Frauen des Globalen Südens. Gewalt gegen Frauen wird in diesem Diskurs fetischisiert, wodurch stereotype Vorstellungen von "barbarischen" und patriarchalischen afrikanischen, hinduistischen oder islamischen Traditionen verstärkt und Frauen als Opfer eines fehlenden oder falschen Bewusstseins determiniert werden. Das Hauptproblem besteht also darin, dass Frauenrechtsdiskurse zumeist außereuropäische lokale Kulturen schlichtweg als frauenfeindlich essenzialisieren, während der Fokus auf kulturelle und politische Rechte dazu tendiert, die Frage nach den ökonomischen Verhältnissen zu übersehen. Aus einer feministisch-postkolonialen Perspektive ist der Einwand gegen den hegemonialen Menschenrechtsdiskurs daher folgerichtig, dass die Debatte sich auf den "notwendigen Universalismus" konzentriert und den ausufernden Kulturrelativismus gelassen betrachtet.

Wodurch wird eine Gruppe von Personen oder Nationen dazu ermächtigt, im Interesse der weit entfernten "Anderen" zu handeln und jenen ein ebenso gutes Leben bescheren zu wollen, wie sie es selbst haben? Um diese Prozesse zu verstehen, ist die Klärung folgender Fragen wichtig: Welche hegemonialen Normen helfen, darüber zu urteilen, wer als Mensch gilt und sich als legitimes Rechtssubjekt qualifiziert? Welche Ansprüche sind gerechtfertigt, und wer entscheidet darüber? Wer spricht für wen, und wer autorisiert welche Diskurse? Geht es letztlich um normative Ansprüche, die nicht realisiert werden können, oder grundlegender um Fragen normativer Gewalt?

Bigotter Helfen-Diskurs

Viele Menschenrechtsverletzungen sind auch Resultate von Strukturanpassungsprogrammen, die von den gleichen Geldgebern begleitet werden, die sich für die Menschenrechte einsetzen. Dass Staaten spezifische Rechte missachten, indem sie etwa gewerkschaftliche Organisierung verbieten oder erschweren, Kinderarbeit zulassen, Löhne unterhalb von Mindestlohngrenzen tolerieren und Ernährungs- und Bildungssubventionen kürzen, ist häufig schlicht Folge einer neoliberalen Strukturanpassungspolitik. Fatalerweise können selbst Entwicklungsorganisationen, die solchen Strukturanpassungen kritisch gegenüberstehen, darauf hinwirken, neokoloniale Strukturen zu stabilisieren, indem sie für die liberal-universalistischen Menschenrechte eintreten. Denn die Menschenrechtsagenda trägt dazu bei, die institutionelle Macht internationaler Organisationen zu vermehren, und dient immer wieder, oft unter dem Vorwand der Schutzverantwortung, als Alibi für strategische und/oder militärische Interventionen.

In Verteidigung (westlicher) Menschenrechtspolitiken könnte sicher angeführt werden, dass ihr Anliegen darin bestehe, die Verbesserung der Lebensverhältnisse aller Menschen anzustreben. Allerdings scheint eben das zweifelhaft. Eine feministisch-postkoloniale Lesart aktueller Menschenrechtspolitiken ermöglicht hier die erforderliche Problematisierung unkritischer Solidaritätsgebaren sowie eurozentrischer und androzentrischer Diskurse zu globaler Gerechtigkeit: Die "Politik des Helfens" verdeckt ökonomische und geopolitische Interessen, während die hegemonialen Menschenrechtsdiskurse dem Globalen Norden als Rechtfertigung dienen, um im Globalen Süden einzugreifen. Im Rahmen einer eurozentrischen Epistemologie werden die Ursprünge des Reichtums der Länder des Globalen Nordens von den Bedingungen des Kolonialismus losgelöst und stattdessen mit Diskursen von Fortschritt und Rationalität als Erfolge der europäischen Aufklärung repräsentiert. Eine wohltätige Helfen-Politik, bei dem der Globale Norden seinen "Anderen" dabei behilflich sein will, von ihm zu lernen, vernachlässigt den historischen Zusammenhang zwischen normalisierten Privilegien und kontinuierlicher kolonialer Ausbeutung.

Der Neokolonialismus erhält sich gerade vor allem dadurch aufrecht, dass glaubhaft gemacht wird, es werde Gutes für die Menschen getan. Der der Idee der Menschenrechte inhärente Anti-Etatismus ignoriert ausdrücklich, dass es für entrechtete Gruppen weiterhin darum geht, soziale Kämpfe innerhalb der Territorialität ihres Staates zu gewinnen. Subalterne Gruppen etwa sollten dazu befähigt werden, Forderungen an den Staat zu richten, in dem ihre Mitglieder leben, um so innerhalb der formellen Grammatik von Rechten und Staatsbürgerschaft eine Demokratie von unten zu ermöglichen. Hier wird die Notwendigkeit einer Reflexion und Neugestaltung des Verhältnisses zwischen dem Staat, der Zivilgesellschaft und denen, in deren Namen sie handeln, deutlich.

(Un-)Möglichkeit, Unrecht zu richten

Menschenrechtspolitiken werden jedoch nicht nur aufgrund der sie bestimmenden Euro- und Androzentrismus kritisiert. Die postkoloniale Intellektuelle Gayatri Chakravorty Spivak blickt darüber hinaus auf die Trennung zwischen jenen, die von oben "Unrecht richten" und jenen unten, denen Unrecht angetan wird. Aus dieser Perspektive führt die Menschenrechtspolitik unweigerlich zu einer Einteilung der Welt in zwei Räume: die, von denen die Rechte zu kommen scheinen, und jenen, in denen scheinbar keine vergleichbaren Rechte institutionalisiert sind. Statt Menschenrechte als eurozentrisch zurückzuweisen, geht es Spivak dabei darum, die prinzipielle Idee der Zuteilung von Rechten zu hinterfragen – und damit auch jene Auffassung von Gerechtigkeit, die in den Menschenrechtsdiskursen ihren Ausdruck findet. Letztlich handele es sich um eine Spielart des Sozialdarwinismus, nach dem die, die als Opfer markiert werden, wahrgenommen werden, als seien sie weder dazu in der Lage, sich selbst zu helfen, noch eigenständig zu regieren. Die Distanz zwischen jenen, die Rechte zuteilen, und jenen, die lediglich als Opfer von Unrecht und als Empfänger_innen von Rechten gelten, verharre unter dem Vorzeichen historischer Gewalt.

Spivak kombiniert die in einem Gedicht von Rudyard Kipling 1899 artikulierte "Bürde des weißen Mannes" mit der darwinistischen Vorstellung des "Überlebens des Stärkeren" und formt daraus "die Bürde des Stärkeren". Zum Ausdruck kommt damit die zur Schau gestellte eigene Überlegenheit, die Länder des Globalen Nordens glauben macht, sie seien dazu verpflichtet, über die Menschenrechtsverletzungen im Globalen Süden zu richten.

In Richtung einer anderen Menschenrechtspolitik fordert Spivak eine Veränderung des Verständnisses von Verantwortung als einer Pflicht des "Stärkeren" für den "Anderen" hin zu einer Verantwortung gegenüber dem "Anderen". Dabei unterscheidet sie zwischen kulturellen Systemen, die auf Verantwortung basieren, und Systemen, denen Rechte zugrunde liegen, und führt zur Illustration das islamische Konzept al-haq ein, das sie als "para-individuelle strukturelle Verantwortung" beschreibt. Die doppelte Bedeutung von al-haq als Recht einerseits und Verantwortung andererseits sei ein von den präkapitalistischen Kulturen geteiltes Imperativ, das nicht in eurozentrischer Manier verstanden werden solle, sondern einen Raum für eine Kollektivität zwischen den Gebenden und Empfangenden von Rechten zu schaffen. "Unser Recht, unsere Wahrheit besteht darin, verantwortlich zu sein und zwar in strukturell spezifischer Art und Weise."

Ambivalentes Erbe der Aufklärung

In den vergangenen Jahren wurde eine kontroverse Debatte um die Frage geführt, ob postkoloniale Studien, die in der Tradition der Aufklärung stehen, einen unguten Eurozentrismus reproduzieren. Besonders Vertreter_innen der US-amerikanischen Lateinamerikanistik wie Walter Mignolo oder Ramón Grosfoguel lehnen die Schriften der europäischen Aufklärung kategorisch als Vorboten von Ausbeutung und Zerstörung in Form von Kolonialismus und Kapitalismus ab und kritisieren die ideologische Löschung anderer Wissensformen. Sie sprechen von hohlen Behauptungen mit emanzipatorischem Charakter der Aufklärungsschriften und plädieren stattdessen für eine (Rück-)Besinnung auf indigene Kosmologien und Wissensbestände, die nicht durch Kolonialismus und Modernität kontaminiert seien.

Vertreter_innen der Frankfurter Schule beklagen, dass die postkoloniale Kritik emanzipatorische Ideale aufgebe. Dagegen verweisen postkoloniale Denker_innen auf die Gewaltsamkeit eines fundamentalistischen Verständnisses von Normativität: Die Kritische Theorie brauche Prinzipien von Fortschritt und Entwicklung als zukunftsgerichtete Ideen von Perfektion und Verbesserung, um kritisch zu agieren. Entsprechend seien Normen in der Kritischen Theorie moralisch-politische Imperative, die "gerechtere" politische Ordnungen inspirierten. Aus einer solchen Perspektive könne ein Aufgeben dieser normativen Verpflichtungen nur als historischer Pessimismus interpretiert werden. Aufgrund der Infragestellung der emanzipatorischen Funktion von Normen wie Menschenrechten, Säkularismus und Demokratie werden postkoloniale Studien als unkritisch in ihren Analysen beurteilt. Im Gegenzug werfen postkoloniale Theoretiker_innen Vertreter_innen der Kritischen Theorie vor, Ideen von Fortschritt, Entwicklung und Rationalität im Rahmen eines normativen erkenntnistheoretischen Fundamentalismus nicht zu hinterfragen, und beschreiben diese daher als koloniale Rechtfertigungsnarrative. Dies lässt eine breite Kluft zwischen der Kritischen Theorie und postkolonialen Studien sichtbar werden.

Es ist auch unsere Meinung, dass eine unkritische Festlegung auf einen normativen erkenntnistheoretischen Fundamentalismus das gewaltvolle Erbe des europäischen Kolonialismus letztlich leugnet und seine Konsequenzen unsichtbar macht. Trotzdem kann das Gegenmittel zum Eurozentrismus und Imperialismus weder ein naiver Nativismus, also der Glaube, alles außereuropäische und präkoloniale Wissen sei gut, rein und überlegen, noch eine kategorische Negierung jeder normativen aufklärerischen Theoriebildung sein. Stattdessen schlagen wir eine Pluralisierung und Diversifizierung der Narrative normativer Legitimität vor.

Normative Verpflichtungen sind auch ohne Rückgriff auf fundamentalistische Prämissen möglich. Entgegen der rigorosen Annahme normativer Theoretiker_innen argumentieren wir, dass postkoloniale Theorien über eine nicht-fundamentalistische Herangehensweise an normative Legitimität die Konturen des Kritischen rekonfigurieren können. Anstatt also zu behaupten, dass normative Standards zwangsläufig durch universelle Prinzipien untermauert sein müssen, werden die Ungewissheiten und Dilemmata normativer Prinzipien akzeptiert und umrissen. Da eurozentrische Narrative legitimierender Normativität mit einer Abwertung und Disqualifikation außereuropäischer normativer Prinzipien einhergehen, zeigen sich "universelle" normative Prinzipien als provinziell und exkludierend. Es gilt, durch die Offenlegung des Eurozentrismus der Aufklärung ihre Normativität von destruktiven und regressiven Tendenzen zu befreien.

Das normative Erbe der Aufklärung ist höchst ambivalent und widersprüchlich: geprägt zugleich von Barbarismus und Zivilität, Beherrschung und Emanzipation. Die Kritik an den durch die Aufklärung inspirierten Menschenrechten bedeutet mithin keineswegs, dass die Idee der Menschenrechte an und für sich abgelehnt wird. Die postkoloniale Kritik der Aufklärung bleibt in einem performativen Widerspruch gefangen, weil sie ihr kritisches Vokabular vom Zielobjekt ihrer Kritik geerbt hat. Dies hat zweifellos Auswirkungen auf die Beziehung postkolonialer Theoretiker_innen zu den von der Aufklärung bereitgestellten Werkzeugen der Kritik. Spivak beschreibt den Zugang zur europäischen Aufklärung durch Kolonisierung zugespitzt als eine "befähigende Verletzung" und schlägt vor, diese strategisch zu nutzen, auch wenn die Verletzung neu verhandelt werden muss. Da marginalisierte soziale Gruppen sich innerhalb des Diskurses der Aufklärung bewegen, wenn sie bürgerliche und politische Rechte einfordern, lehnt sie eine kategorische Zurückweisung der Aufklärung ab und plädiert stattdessen für einen anderen Umgang mit den Schriften der Aufklärung, der darin bestehe, "sie von unten zu gebrauchen". In Anlehnung daran scheint es uns vielversprechender als eine kulturrelativistische Anklage gegen das Erbe der Aufklärung oder eine ethnozentrische Suche nach reinen nicht-westlichen Wissenssystemen, die Verflechtungen von westlichen mit nicht-westlichen Theorieproduktionen zu untersuchen.

In diesem Zusammenhang ist folgende Frage zentral: Wie kann mit dem Paradoxon umgegangen werden, dass die Aufklärung trotz ihrer Ausrichtung auf das weiße, männliche bürgerliche Subjekt für kritische Analysen weiterhin unverzichtbar bleibt? So wurde etwa in vielen postkolonialen Kontexten die Erfahrung gemacht, dass die Kritik an der Moderne zu einer Stärkung von konservativen und nationalistischen Ordnungen geführt hat. Es muss untersucht werden, wie die Thesen, Konzepte und Annahmen der europäischen Aufklärung über die Grenzen Europas hinaus befördert werden können, um den ehemals Kolonisierten zu dienen, ihr eigenes Verständnis von Demokratie, Recht und Freiheit zu erarbeiten.

Die Aufklärungsideale bleiben unverzichtbar. Wir können diese "nicht nicht wollen", obwohl wir ihre Mobilisierung für die Rechtfertigung des Imperialismus einer ständigen Kritik unterziehen müssen. Spivak versteht das Erbe der Aufklärung, also auch die Normen, die die Menschenrechte informieren, als Pharmakon, als Gift und Arznei zugleich. Mit Blick auf die Menschenrechte besteht die Herausforderung nun darin, sie ausschließlich zu Medizin zu machen. Damit dies gelingt, ist unabdingbar, dass die gewalttätige Geschichte Europas, die im Erbe der Aufklärung widerhallt, reflektiert und herausgefordert wird. Weder eine Leugnung der Gewalt noch der zwecklose Versuch, der Geschichte zu entkommen, wird letztlich Erfolg zeitigen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Jürgen Osterhammel, Kolonialismus. Geschichte – Formen – Folgen, München 2006, S. 8.

  2. Vgl. María do Mar Castro Varela/Nikita Dhawan, Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung, Bielefeld 2020.

  3. Vgl. dazu María do Mar Castro Varela/Malika Mansouri, Das Erbe kritisch betrachten. Verflechtungen von Kolonialismus, Rassismus und Migrationsrechtsetzung, in: Jekaterina Markow/Frederick Harbou (Hrsg.), Philosophie des Migrationsrechts. Tübingen 2020, S. 291–316.

  4. Vgl. Edward Said, Orientalism, New York 1978.

  5. Vgl. Vidya Kumar, A Proleptic Approach to Postcolonial Legal Studies?, in: Law, Social Justice & Global Development Journal 2/2003, Externer Link: http://www2.warwick.ac.uk/fac/soc/law/elj/lgd/2003_2/kumar.

  6. Vgl. Makau Mutua, Human Rights. A Political and Cultural Critique, Philadelphia 2002.

  7. Vgl. Gayatri Chakravorty Spivak, Can the Subaltern Speak?, in: Patrick Williams/Laura Chrisman (Hrsg.), Colonial Discourse and Post-Colonial Theory, New York 1994, S. 66–111, hier S. 92.

  8. Vgl. Upendra Baxi, Postcolonial Legality, in: Sangeeta Ray/Henry Swartz (Hrsg.), A Companion to Postcolonial Studies, Malden–Oxford 2000, S. 540–555; Diane Elizabeth Kirkby/Catharine Coleborne, Law, History, Colonialism: The Reach of Empire, Manchester 2001.

  9. Vgl. Makau Mutua, What Is TWAIL?, in: American Society of International Law Proceedings 94/2000, S. 31–40; Antony Anghie/B.S. Chimni, Third World Approaches to International Law and Individual Responsibility in Internal Conflicts, in: Chinese Journal of International Law 1/2003, S. 77–103; B.S. Chimni, Third World Approaches to international Law: Manifesto, in: International Community Law Review 8/2006, S. 3–27.

  10. Vgl. Antony Anghie, Imperialism, Sovereignty, and the Making of International Law, Cambridge 2007.

  11. Vgl. auch Martti Koskenniemi, The Gentle Civilizer of Nations: The Rise and Fall of International Law 1870–1960, Cambridge 2004; Sundhya Pahuja, Decolonizing International Law. Development, Economic Growth and the Politics of Universality, Cambridge 2013.

  12. Vgl. Ilan Kapoor, The Postcolonial Politics of Development, London–New York 2008, S. 35.

  13. Rosalind Morris, Introduction, in: dies. (Hrsg.), Can the Subaltern Speak? Reflections on the History of an Idea, New York 2010, S. 1–20, hier S. 5.

  14. Vgl. Gayatri Chakravorty Spivak, Feminism and Human Rights, in: Nermeen Shaikh (Hrsg.), The Present as History: Critical Perspectives on Global Power, New York 2007, S. 172–201, hier S. 177.

  15. Vgl. Michel Foucault, Staatsphobie, in: Ulrich Bröckling/Susanne Krasmann/Thomas Lemke (Hrsg.), Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen, Frankfurt/M. 2000, S. 68–71.

  16. Vgl. Gayatri Chakravorty Spivak, Other Asias, Malden–Oxford 2008, S. 16.

  17. Vgl. hier und im Folgenden dies. (Anm. 14).

  18. Vgl. Kapoor (Anm. 12), S. 28.

  19. Vgl. Spivak (Anm. 7), S. 180.

  20. Dies., Imperative zur Neuerfindung des Planeten, Wien 1999, S. 55.

  21. Dies. (Anm. 14), S. 5.

  22. Vgl. Walter Mignolo, The Darker Side of the Renaissance. Literacy, Territoriality and Colonization, Michigan 1995; Ramón Grosfoguel, The Epistemic Turn. Beyond Political-economy Paradigms, in: Cultural Studies 21/2007, S. 211–223.

  23. Vgl. Amy Allen, The End of Progress. Decolonizing the Normative Foundations of Critical Theory, New York 2016, S. 11.

  24. Vgl. Nikita Dhawan, Die Aufklärung retten: Postkoloniale Interventionen, in: Zeitschrift für Politische Theorie 2/2016, S. 249–255.

  25. Spivak (Anm. 14), Zitate S. 18, S. 263.

  26. Vgl. Boaventura de Sousa Santos (Hrsg.), Another Knowledge Is Possible: Beyond Northern Epistemologies, London–New York 2008.

  27. Gayatri Chakravorty Spivak, Neocolonialism and the Secret Agent of Knowledge. Interview mit Robert Young, in: Oxford Literary Review 1–2/1991, S. 220–251, hier S. 234.

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ist Professorin für Allgemeine Pädagogik und Soziale Arbeit an der Alice-Salomon-Hochschule Berlin. E-Mail Link: castrovarela@posteo.de

ist Professorin für Politikwissenschaft an der Justus-Liebig-Universität Gießen. E-Mail Link: nikita.dhawan@sowi.uni-giessen.de