Multilateralismus bezeichnet eine auf Dauer angelegte, von gemeinsamen Werten und Überzeugungen getragene regelbasierte Zusammenarbeit von Staaten und bildet damit den Gegensatz zur einseitigen Durchsetzung nationalstaatlicher Einzelinteressen.
Um die Menschenrechte als eine der drei zentralen Säulen der Vereinten Nationen soll es im Folgenden gehen. Heute existiert ein umfassendes Netz menschenrechtlicher Normen: Neben der sogenannten International Bill of Human Rights, die die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (AEMR) und die zwei Internationalen Menschenrechtspakte über bürgerliche und politische Rechte (Zivilpakt) sowie über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (Sozialpakt) umfasst, gibt es sieben weitere Kern-Menschenrechtsverträge samt Zusatzprotokollen, außerdem eine Vielzahl von Erklärungen, Resolutionen, Mindeststandards und Grundprinzipien. Diese Normenvielfalt wird von einem komplexen institutionellen Gefüge flankiert.
Wie hat sich dieses UN-Menschenrechtssystem über die vergangenen 75 Jahre entwickelt? Und wie können wir es angesichts des derzeitigen Widerstands gegen den Multilateralismus stärken?
Erste Schritte des UN-Menschenrechtssystems
In der UN-Charta sind die Menschenrechte in Artikel 1 Absatz 3 zwar benannt, sie enthält aber keinen eigenen Rechtekatalog. Die Idee eines solchen stand im Vorfeld der UN-Gründungskonferenz in San Francisco 1945 im Raum, wurde dann aber vertagt.
Parallel zu den Verhandlungen der beiden Pakte bot die Abteilung für Menschenrechte im UN-Generalsekretariat seit den 1950er Jahren "advisory services in the field of human rights" an.
Aufwind ab den 1960er Jahren
Das änderte sich ab den späten 1960er Jahren mit der Berichterstattung durch unabhängige Expert*innen zu Menschenrechtsverletzungen in verschiedenen Mitgliedstaaten, die heute als "Sonderverfahren" bekannt sind. Als erstes Sonderverfahren gilt die 1967 eingerichtete Ad-hoc-Expert*innen-Arbeitsgruppe eminenter Jurist*innen, die damit beauftragt wurde, der UN-Menschenrechtskommission regelmäßig über die Menschenrechtslage in Apartheid-Südafrika zu berichten. In der Arbeitsgruppe lagen gleich zwei wichtige Neuerungen: Nicht nur wurde sie ohne Zustimmung Südafrikas gegründet, sie war außerdem befugt, Beschwerden von Einzelpersonen zu hören und zu verwerten. Während die Mitgliedstaaten ursprünglich nicht beabsichtigten, ein komplett neues Verfahren einzurichten, enthielten die relevanten Resolutionen Textpassagen wie "Menschenrechtsverletzungen (…) wo auch immer sie auftreten" oder "Menschenrechtsverletzungen (…) in allen Mitgliedstaaten".
Es war kein Zufall, dass das erste Sonderverfahren in die zweite Hälfte der 1960er Jahre fiel. Denn ab diesem Jahrzehnt erfuhren auch das menschenrechtliche Vertragswesen und der allgemeine menschenrechtliche Diskurs erheblichen Aufwind: 1965 wurde zunächst das Übereinkommen gegen Rassendiskriminierung verabschiedet, 1966 folgten der Zivil- und der Sozialpakt. 20 Jahre nach der AEMR fand 1968 die erste Weltmenschenrechtskonferenz in Teheran statt, auf der die Mitgliedstaaten ihr Bekenntnis zu internationalen Menschenrechten bekräftigten, aber auch feststellten, dass auf der Umsetzungsebene noch viel zu tun sei.
Durch das Übereinkommen gegen Rassendiskriminierung und die beiden Pakte wurde ein weiteres Instrument des UN-Menschenrechtssystems ins Leben gerufen: die Vertragsausschüsse.
Ein weiterer Baustein des heutigen UN-Menschenrechtssystems sind die nationalen Menschenrechtsinstitutionen.
Nach dem Kalten Krieg: Enthusiasmus und Ernüchterung
Das Jahr 1993 markiert mit der zweiten Weltmenschenrechtskonferenz in Wien einen Meilenstein in der Geschichte des UN-Menschenrechtssystems. In der Abschlusserklärung bekräftigten die Mitgliedstaaten die universelle Gültigkeit und Unteilbarkeit aller Menschenrechte, und das Wiener Aktionsprogramm enthielt Empfehlungen für mehrere wegweisende Schritte, unter anderem die Einrichtung des Hochkommissariats für Menschenrechte als zentrale Anlauf- und Koordinierungsstelle im UN-Generalsekretariat und einen stärkeren Fokus auf die technischen Hilfsprogramme im Bereich Menschenrechte.
Diese institutionelle Stärkung der Menschenrechte wurde durch den damaligen UN-Generalsekretär Kofi Annan weiter vorangetrieben, der in seiner ersten Reform 1997 veranlasste, dass Menschenrechte als Querschnittsthema in allen Arbeitsbereichen der Vereinten Nationen, insbesondere also in der Entwicklungszusammenarbeit und in der Friedenssicherung, eine herausgehobene Rolle spielen sollten.
Die langen 1990er Jahre waren aber auch von Ernüchterung geprägt. Während 1993 die Weltmenschenrechtskonferenz in Wien tagte, wurden keine tausend Kilometer entfernt auf dem Balkan Kriegsverbrechen begangen, deren trauriger Höhepunkt 1995 der Völkermord von Srebrenica markierte. 1994 fiel in Ruanda ein Fünftel der Bevölkerung einem Genozid zum Opfer. In beiden Situationen waren die Vereinten Nationen machtlos und zogen sogar Blauhelmtruppen aus der Krise ab.
In der Folge wurde das Konzept der Schutzverantwortung (responsibility to protect) entwickelt, das im Grundsatz 2005 durch die Staatengemeinschaft anerkannt wurde.
In den 1990er Jahren geriet auch die UN-Menschenrechtskommission zunehmend in die Kritik. Angewachsen von 18 auf 53 Vertreter*innen war die Kommission unfähig, auf Menschenrechtsverletzungen zu reagieren, und ihr wurde vorgeworfen, einseitig bestimmte Länder anzuprangern, während sie gleichzeitig Vertreter*innen autoritär regierter Staaten im Konsensverfahren in ihre Reihen wählte.
Auch wenn Menschenrechte heute aus dem internationalen Diskurs nicht mehr wegzudenken sind, bleiben viele Kritikpunkte offen. Das betrifft auch die Vereinten Nationen als Organisation selbst: Lange sahen sie sich nicht unmittelbar an die Standards gebunden, für deren Einhaltung sie warben, und lehnten eine rechtliche Verantwortung für das Fehlverhalten von Blauhelmsoldaten ab, etwa im Fall von Srebrenica, als Blauhelmsoldaten den Genozid an bosnischen Muslimen nicht verhinderten, oder in Haiti, wo Blauhelmsoldaten vermutlich für den Ausbruch der Cholera verantwortlich waren.
Krise des Multilateralismus
Das UN-Menschenrechtssystem sieht sich heute allerdings einer weiteren Gefahr ausgesetzt, die im weiteren Kontext der derzeit beschworenen Krise des Multilateralismus betrachtet werden muss. Der Eindruck dieser Krise lässt sich heute vor allem an der Haltung der Vereinigten Staaten unter Präsident Donald Trump festmachen, die unter dem Motto "America first" eine Abkehr vom Multilateralismus vollziehen, den sie seit 1945 stark geprägt haben. So haben sich die USA polternd aus wichtigen UN-Unterorganen und Abkommen wie dem Menschenrechtsrat oder dem Pariser Klimaabkommen zurückgezogen. Schon kurz nach seinem Amtsantritt kürzte Trump die Zahlungen an die Vereinten Nationen, verbunden mit deutlicher Kritik an der Organisation.
Um zu bestimmen, inwiefern die Krise des multilateralen Denkens die Vereinten Nationen selbst in eine Krise stürzen, sind Angriffe und Krisensymptome auf unterschiedlichen Ebenen zu unterscheiden: Halten sich die Staaten an bestehende Normen? Gelingt es, neue Normen und Problemlösungen zu entwickeln? Wie handlungsfähig sind die Vereinten Nationen auf operativer Ebene?
Die Bilanz fällt gemischt aus. Grundsätzlich hat die regelbasierte internationale Ordnung Bestand. Die Öffentlichkeit beziehungsweise die Staatengemeinschaft reagiert zu Recht scharf auf Regelbrüche wie die Annexion der Krim durch Russland 2014 oder die gezielte Tötung des iranischen Generals Qasem Soleimani 2020 durch die USA. Diese bleiben aber (noch) die zu verurteilende Ausnahme in der alltäglichen internationalen Zusammenarbeit.
Eine unmittelbare Gefahr für die Vereinten Nationen entsteht vor allem durch Unterfinanzierung. Neben strukturellen Fragen wie der zunehmenden Zweckbindung von Mitteln oder Dissens über die Verteilung der Gelder ist das größte Problem dabei die schlechte Zahlungsmoral der UN-Mitglieder: Viele Staaten zahlen ihre Beiträge nicht vollständig und pünktlich, sodass die Vereinten Nationen kurzfristig ihre Aufgaben nicht mehr erfüllen und tatsächlich auch auf operativer Ebene handlungsunfähig werden können. Häufig fehlt zum Jahresende das Geld für Gehälter, oder Sitzungen entfallen, weil Übersetzungen nicht finanziert werden können. Erst Ende 2019 zeigte sich wieder, wie schnell die Finanznot die Arbeit der Vereinten Nationen gefährden kann.
Menschenrechtssystem unter Druck
Die Krise des Multilateralismus betrifft auch das internationale Menschenrechtssystem und setzt dieses sogar ganz besonders unter Druck. Nicht nur sind die Menschenrechte und jene, die sie verteidigen, in vielen Staaten heftigen Angriffen ausgesetzt und werden Menschenrechtsorganisationen in ihrer Arbeit behindert – einige Staaten setzen vermehrt auch innerhalb der Vereinten Nationen darauf, die Beteiligung menschenrechtlicher NGOs zu beschneiden und den Einfluss kritischer Stimmen zurückzudrängen.
Dies gilt besonders etwa mit Blick auf die Menschenrechte von Frauen und Standards der Geschlechtergerechtigkeit. Der Rechtspopulismus, aus dem sich die Ablehnung multilateraler Kooperation speist, zeichnet sich auch durch Antifeminismus aus.
Auch wenn das internationale Menschenrechtssystem schon immer Anfechtungen von unterschiedlichen Seiten ausgesetzt war, löst das Handeln einiger weniger Staaten besondere Sorgen aus, weil sie das wirtschaftliche und politische Gewicht mitbringen, um die Menschenrechte innerhalb der Vereinten Nationen dauerhaft zu schwächen. Dazu gehören nicht nur die Vereinigten Staaten, die bisher in vielerlei Hinsicht als Vorkämpfer für Menschenrechte galten, auch China hat eigene Strategien entwickelt, um Menschenrechte im UN-System zu schwächen. Im UN-Menschenrechtsrat wehrt China Resolutionen, die die Menschenrechtslage im eigenen Land in den Blick nehmen, mit dem Hinweis ab, es handele sich um unzulässige Einmischungen in innere Angelegenheiten.
Ausblick
Im Bereich der Menschenrechte ist in den vergangenen 75 Jahren viel erreicht worden. Die Mehrheit der UN-Mitgliedstaaten unterstützt und fördert die Menschenrechte auch in der heutigen Krise des Multilateralismus und stellt sie im Grundsatz nicht infrage. Dass sich die Staaten zum Beispiel der neuen, mühsamen Prozedur der Allgemeinen Periodischen Überprüfung im UN-Menschenrechtsrat stellen und ihre Menschenrechtsbilanz von anderen Staaten erstellen lassen,
Anlässlich des 75-jährigen Jubiläums der Gründung der Vereinten Nationen müssen Menschenrechte besonders thematisiert werden: Dazu gehört in erster Linie die Entwicklung einer menschenrechtlichen Vision für die nächsten 25, besser noch die nächsten 50 Jahre. Das beinhaltet zum einen, verschiedene institutionelle Prozesse zu bündeln und die Menschenrechtsarbeit sowohl auf Ebene des UN-Hauptquartiers als auch zwischen Genf und dem operativen Geschäft besser zu koordinieren. Für Mitgliedstaaten wie Deutschland, die sich die Verteidigung der Menschenrechte auf die Fahnen schreiben, bedeutet eine solche menschenrechtliche Vision vor allem, die Arbeit von Menschenrechtsverteidiger*innen vor Ort und bei den Vereinten Nationen entschieden zu unterstützen. Dies erfordert eine enge strategische Zusammenarbeit im UN-Menschenrechtsrat, aber auch mit dem UN-Hochkommissariat für Menschenrechte. Die Menschenrechte sind ein Herzstück der Arbeit der Vereinten Nationen – das sollte zu ihrem 75. Geburtstag nicht vergessen werden.