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Fundierte Hoffnung | Menschenrechte | bpb.de

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Fundierte Hoffnung Der Kampf für Menschenrechte in Krisenzeiten - Essay

Wolfgang Kaleck

/ 13 Minuten zu lesen

Die Praxis der juristischen Menschenrechtsarbeit der vergangenen Dekaden zeigt: Der Abgesang auf die Menschenrechte kommt verfrüht. Denn sie birgt ein großes Potenzial und bietet eine konkrete Utopie sowie Anknüpfungspunkte für eine fundierte Hoffnung.

In der Corona-Krise manifestieren sich viele Entwicklungen der vergangenen Jahre, die die Lage der Menschenrechte negativ beeinflusst haben: ein die Welt umspannender Kapitalismus und eine unkontrollierte, beschleunigte Digitalisierung, die zu immer größerer Ungleichheit weltweit führen; die Zunahme prekärer Arbeitsverhältnisse; die Beschneidung von Sozialsystemen; die Privatisierung und der drastische Abbau der Gesundheitsversorgung; der Verlust von öffentlichen Räumen; die verheerenden Auswirkungen des Klimawandels; knapper werdende lebenswichtige Ressourcen wie Energie, sauberes Wasser und Nahrung.

Vor diesem Hintergrund ist es nicht einfach, einer Verkündung der "Endzeit der Menschenrechte" entgegenzutreten und sich kontrazyklisch dem Unbekannten der Geschichte positiv zu öffnen. Im Folgenden soll erstens ergründet werden, ob und – falls ja – warum die Menschenrechte in den vergangenen Jahren in eine Krise geraten sind, die Anlass für das grassierende dystopische Denken böte. Zweitens sollen der Skepsis Erfahrungen aus der Praxis von (juristischen) Kämpfen um Menschenrechte der vergangenen beiden Dekaden gegenübergestellt und drittens Ideen für neue Koalitionen im Kampf für die Menschenrechte formuliert werden.

Menschenrechte in der Krise?

Die Menschenrechte werden derzeit an vielen Orten der Welt mit Füßen getreten – nicht nur von den "üblichen Verdächtigen", den autokratischen Herrschern von China, Russland und der Türkei. Auch aus Indien, Brasilien und Südafrika werden gravierende Menschenrechtsverstöße und die Erosion von Rechtsstaatlichkeit und Justizwesen berichtet, ebenso aus Polen und Ungarn, insbesondere im Umgang mit Minderheiten und Migrant*innen. Auch die westeuropäischen Regierungen und die USA, nicht erst unter Präsident Donald Trump, verletzen Völkerrecht und Menschenrechte. Damit wenden sich diese Staaten von jenem Normensystem ab, das sie nach dem Zweiten Weltkrieg mit etabliert haben. Nicht zuletzt deshalb machen sich neue Dystopien und eine lähmende Hoffnungslosigkeit breit. Dagegen muss mit dem Philosophen Michel Serres erst einmal gefragt werden: "Was genau war früher besser?"

Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 und die beiden großen Pakte für politische und bürgerliche sowie für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte von 1966 sind zweifellos als Meilensteine zu bewerten. Sie formulierten Ansprüche und Versprechen, an denen alle Staaten, gerade auch von ihren jeweiligen Gegnern im Kalten Krieg, gemessen wurden. Die vagen Programmsätze wurden in den folgenden Jahrzehnten in konkretere Rechtsnormen gegossen und entsprechende Verfahren und Institutionen geschaffen.

Dem westlichen Narrativ einer Fortschrittsgeschichte der Menschenrechte nach dem Zweiten Weltkrieg sind jedoch die Realitäten entgegenzuhalten: Dem aus den Nürnberger Prozessen erwachsenen Anspruch, ein internationales Recht zu etablieren, mit dem die Verbrechen gegen die Menschlichkeit aller Nationen gleichermaßen geahndet werden können, handelten nicht nur das stalinistische Russland und das ebenfalls dem UN-Sicherheitsrat ständig angehörende China zuwider, auch die europäischen Imperialmächte verübten bei der Niederschlagung der Unabhängigkeitsbewegungen in ihren Kolonien Kriegsverbrechen, und die USA unterstützten Militärdiktaturen etwa in Süd- und Mittelamerika.

Nach dem Mauerfall 1989 erklärte der Politikwissenschaftler Francis Fukuyama das "Ende der Geschichte", den Erfolg des westlich-liberalkapitalistischen Gesellschaftsmodells, zu dem es keine Alternative mehr gebe. Doch auch in den 1990er Jahren war es nicht besser um die Menschenrechte bestellt als vorher. Abseits der Metropolen wurden Völkermorde auf dem Balkan und in Ruanda sowie zahlreiche Verbrechen gegen die Menschlichkeit verübt, unter anderem in den kurdischen Gebieten der Türkei, in Kolumbien und in Zentralafrika.

Das Ende dieser Erzählung leiteten die westlichen Staaten schließlich selbst ein: mit dem Einsatz der Nato im Kosovo ohne UN-Mandat 1999, mit willkürlichen Verhaftungen und Folterungen von Terrorismusverdächtigen nach dem 11. September 2001 sowie mit dem Irak-Krieg 2003, in den die USA und Großbritannien an der Spitze einer "Koalition der Willigen" ohne UN-Mandat zogen. Diese Rechtsverstöße signalisierten der Welt: Wir halten uns an das Völkerrecht, solange es unseren Interessen dient. Zeitgleich erstarkten weitere Akteure auf der Weltbühne wie China, Brasilien, Indien, Südafrika und erneut Russland, die in einer nunmehr multipolaren Weltordnung diese an den eigenen Interessen orientierte Einstellung zum Völkerrecht übernahmen.

Auch in die zurückliegende Dekade fallen viele Menschenrechtsverletzungen. Hinzu kommt allerdings, dass das seit 1945 entwickelte Menschenrechtsschutzsystem sowie die (Völker-)Rechtsordnung insgesamt als Referenzrahmen gerade von jenen Akteuren aufgegeben wird, die an ihrer Schaffung entscheidenden Anteil hatten. Nicht nur die USA vollziehen eine Abkehr vom Multilateralismus, auch in Europa beugt sich der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) insbesondere im Bereich Migration zunehmend politischem Druck. Ausdruck dafür sind zwei jüngere Entscheidungen zur Rechtmäßigkeit von Lagern im Grenzbereich von Ungarn und Serbien sowie im Fall von kollektiven Rückschiebungen nach Spanien.

Kritik am Menschenrechtssystem und seinen Institutionen etwa in New York und Genf ist durchaus berechtigt, wurde aber auch schon von postkolonialen Kritiker*innen westlicher Menschenrechtspraxis geäußert. So beklagt etwa der Rechtswissenschaftler Makau Mutua den fast ausschließlichen Fokus auf Menschenrechtsverletzungen im Globalen Süden nach dem Schema "Wilde-Opfer-Retter": Die Opfer von Menschenrechtsverletzungen durch unzivilisierte Wilde müssen gerettet werden, wobei die Staaten und Akteure des Globalen Nordens die Rolle der Retter für sich beanspruchen. Zudem kritisiert er, dass die großen zivilgesellschaftlichen Akteure wie Amnesty International und Human Rights Watch sich auf politische und bürgerliche Rechte sowie auf Individualrechte beschränkten und die kollektiven wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte vernachlässigten.

Befinden sich die Menschenrechte also in der Krise? Hat der Politikwissenschaftler Stephen Hopgood Recht, wenn er sagt, im Sinne einer entstehenden neowestfälischen Weltordnung stehen die Menschenrechte als säkulares, universelles und nicht verhandelbares Normensystem für das alte Modell Europa, das so nicht mehr existiere? Sind Menschenrechte als Konzept gescheitert?

Erfahrungen aus der menschenrechtlichen Praxis

Die Kritik ist in den vergangenen Jahren von Menschenrechtsorganisationen sowohl im Norden als auch im Süden rezipiert worden, sodass beispielsweise die Praxis der juristischen Menschenrechtsarbeit der zurückliegenden zwei Jahrzehnte ein sehr viel differenzierteres Bild ergibt. So trägt in weiten Teilen Lateinamerikas ein breites Spektrum an Organisationen sowohl individuelle als auch kollektive Kämpfe für Menschenrechte aus, zum Teil vor Gericht, zum Teil auf der Straße. Vieles von dem, was Kritiker*innen fordern, etwa den Kampf um die Menschenrechte als eine populäre Kultur zu etablieren und einen ganzheitlichen politischen Blick zu entwerfen, wird von solchen Organisationen, etwa dem Zentrum für Rechts- und Sozialwissenschaften CELS in Argentinien, längst gepflegt.

Anders als noch vor einer Dekade beschäftigen sich weltweit immer mehr Netzwerke und Akteure mit dem Themenfeld Wirtschaft und Menschenrechte. Ablesbar ist dies sowohl an den Bemühungen um nationale und globale Regelungen zur Kontrolle und Sanktionierung transnationaler Unternehmen als auch bei Klagen gegen Menschenrechtsverletzungen. Neben Fällen von Verfolgungen von Gewerkschafter*innen in Konfliktregionen sowie von Lieferungen von Waffen, Überwachungstechnologien und anderen gefährlichen Gütern an repressive Regime, verfolgten die Klagen zuletzt komplexere Ziele wie die Herstellung von Verantwortlichkeit in globalen Lieferketten, etwa am Beispiel der südasiatischen Textilindustrie.

Zudem haben sich in vielen Staaten des Globalen Südens Menschenrechtsorganisationen und Aktivist*innenkollektive herausgebildet, um kollektive Rechte einzuklagen. So argumentierten etwa Anwält*innen 2001 vor dem Obersten Gericht in Indien, dass das verfassungsmäßige Recht auf Leben verletzt werde, wenn jährlich Tausende Inder*innen an Hunger sterben. Das Gericht folgte den Argumenten und diktierte der Regierung Ernährungsprogramme für etwa 300 Millionen Menschen. Nun haben infolge dieser Gerichtsentscheidung sicherlich nicht alle Menschen in Indien genügend Nahrung. Allerdings sind die Initiator*innen solcher Klagen auch nicht so naiv, für den Fall eines Erfolgs vor Gericht die prompte Lösung eines Problems zu erwarten. Sie begreifen ihre politischen und juristischen Kämpfe um Menschenrechte als politische Prozesse, die sich zum Teil über Jahrzehnte hinziehen. Durch die Entscheidung in Indien verbesserte sich dennoch die Lage von Millionen Menschen spürbar. Zugleich schrieb das Urteil globale Rechtsgeschichte, denn es zeigte, wie mittels des Rechts vermeintlich schwache soziale Menschenrechte durchgesetzt werden können.

Statt bei der Kritik an den Menschenrechten den Blick auf die im Globalen Norden angesiedelten Menschenrechtsinstitutionen zu verengen, sollte die Wechselwirkung zwischen dem, was dort und anderswo passiert, betrachtet werden. Denn auch dafür gibt es gute Beispiele. So ist etwa mit Blick auf die Verhaftung des chilenischen Ex-Diktators Augusto Pinochet im Oktober 1998 in London die größte Wirkung nicht in seiner Verhaftung, den Klarstellungen zur Immunität, die das House of Lords vor dem Hintergrund der Anklagepunkte Folter und Entführung sowie Pinochets Status als ehemaliges Staatsoberhaupt formulierte, und dem Gerichtsverfahren selbst zu sehen, sondern in der Tatsache, dass sich mit der Anklageerhebung gegen Pinochet die Verhältnisse in Chile und vor allem auch in Argentinien dynamisierten und politische Hindernisse für die juristische Aufarbeitung der Diktaturen in beiden Ländern wegfielen. Dies äußert sich bis heute in Hunderten Gerichtsverfahren und Verurteilungen gegen zum Teil hochrangige Militärs, Geheimdienstler*innen, Polizist*innen und andere Mittäter*innen der Diktaturmorde.

Ferner sollten nationale Strafverfahren nach dem Weltrechtsprinzip, auch "universelle Jurisdiktion" genannt, stärker in den Fokus rücken. Dieses ermöglicht, schwerste Verbrechen auch außerhalb des Staatsgebietes, auf dem sie begangen wurden, juristisch zu verfolgen und über das traditionelle Mittel des naming and shaming von Menschenrechtsorganisationen hinauszugehen. Ein aktuelles Beispiel ist die Aufarbeitung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Syrien. Natürlich ist es auch ein Versagen der internationalen Institutionen, dass es dort zu Hunderttausenden Toten und Gefolterten gekommen ist. Allerdings hat die internationale Gemeinschaft nicht wie beispielsweise vor zwei oder drei Jahrzehnten bei vergleichbaren Verbrechen fast nicht reagiert. Vielmehr haben die Vereinten Nationen eine Untersuchungskommission eingerichtet und mit dem IIIM einen neuen Mechanismus etabliert, die das Material über Menschenrechtsverletzungen sammeln, um diese für künftige Gerichtsverfahren bereitzuhalten. Darauf können bereits jetzt zahlreiche nach Westeuropa geflüchtete Oppositionelle und Überlebende zurückgreifen, die sich zusammengeschlossen und mithilfe von Menschenrechtsorganisationen Strafanzeigen unter anderem in Österreich, Deutschland, Frankreich, Norwegen und Schweden eingereicht haben. Erste Haftbefehle gegen hochrangige Geheimdienstgeneräle sowie Verhaftungen sind bereits erfolgt. Im April 2020 begann in Koblenz das weltweit erste Verfahren zur Staatsfolter der Assad-Regierung.

Die Praxis der universellen Jurisdiktion ist nicht auf westeuropäische Staaten beschränkt. 2016 wurden 15 ranghohe Militärs in Buenos Aires wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Rahmen der "Operation Condor", einer transnationalen Geheimdienstkooperation zur Verfolgung und Ermordung Andersdenkender und politischer Gegner*innen der lateinamerikanischen Diktaturen in den 1970er und 1980er Jahren, verurteilt. In dem wichtigsten afrikanischen Fall gegen den ehemaligen Diktator des Tschad, Hissène Habré, kämpften die Überlebenden von Folter vor Gerichten im Tschad, im Senegal, in Belgien und vor dem Internationalen Gerichtshof. In einem historischen Rechtsspruch verurteilte 2016 schließlich ein eigens gebildetes Sondergericht in Senegals Hauptstadt Dakar Habré zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe.

Der häufig kritisierten Tatsache, dass der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag überwiegend gegen afrikanische Tatverdächtige und Angehörige besiegter Staaten oder politischer Formationen vorgeht, wirken Netzwerke aus der ganzen Welt aktiv entgegen. Gegen Angehörige der Bush-Administration wurden seit 2004 in Deutschland, Spanien, Frankreich, Belgien und der Schweiz mehrere Strafanzeigen wegen systematischer Folter im irakischen Abu Ghraib und im Gefangenenlager von Guantánamo erstattet – mit dem erklärten Ziel, die doppelten Standards bei der Verfolgung von Völkerstraftaten zu bekämpfen. Die Verfahren führten zwar zu wenigen juristischen Erfolgen, allerdings wurde die Verantwortlichkeit höchster militärischer und politischer Führer*innen nachgewiesen. In der Folge erließen die Staatsanwaltschaften von München und Mailand Haftbefehle gegen einzelne CIA-Angehörige wegen ihrer Beteiligung am "Extraordinary Rendition Program" der CIA, in dessen Zuge Terrorverdächtige ohne juristische Grundlage in zum Teil geheime Gefängnisse überführt wurden. Die Rechtswidrigkeit des genannten Programms wurde implizit in mehreren Entscheidungen des EGMR, namentlich im Fall Khaled El-Masri gegen Mazedonien sowie gegen Polen und Litauen, festgestellt, der auch Großbritannien in zwei Entscheidungen verurteilte. Zudem untersuchten britische Institutionen Todesfälle irakischer Kriegsgefangener sowie Entschädigungszahlungen in mehreren Hundert Folterfällen durch Großbritannien. Vor diesem Hintergrund wurden CIA-intern gegenüber betroffenen Mitarbeiter*innen Warnungen vor Reisen nach Europa und in andere Regionen ausgesprochen, in denen Strafverfahren wegen Folter zu befürchten sind.

In Sachen Menschenrechte ist also nicht alles verloren. Wie die Politikwissenschaftlerin Kathryn Sikkink gezeigt hat, führt die zunehmende Zahl von gerichtlichen Untersuchungen und Ahndungen von großen Menschenrechtsverletzungen zu einer Wiederherstellung eines gewissen Maßes an Rechtsstaatlichkeit in den betroffenen Staaten. Ferner belegt Sikkink in vielen Bereichen der weltweiten Menschenrechtslage Verbesserungen, etwa mit Blick auf die Zahl von Genoziden und Politiziden sowie auf den Rückgang der Todesstrafe und die abnehmende Kindersterblichkeit. Man dürfe Fortschritt nicht an einem Idealzustand messen, daran könne man nur scheitern. Demnach müsse man auch solchen Delegitimierungsversuchen entgegentreten, die die Normierung von Menschenrechten und das Streiten für diese mit Verweis auf die unverändert miserablen Realitäten für obsolet erklären.

Neue Koalitionen

Die Durchsetzung der Menschenrechte ist ein politisches Anliegen, vor allem wenn mit Menschenrechten nicht nur die in Konventionen, Verfassungen und Gesetzen verbrieften Rechte gemeint sind, sondern sie als der offene, immerwährende utopische Anspruch für alle Menschen, in Freiheit und Würde zu leben, verstanden werden. Menschenrechte mit juristischen Mitteln durchzusetzen, ist demnach ebenfalls eine politische Aufgabe, denn es existiert kein neutraler, unpolitischer, von Machtverhältnissen unberührter Ort – ein solcher ist auch kein Gericht.

Aber Menschenrechte werden nicht von oben gewährt. Sie werden nicht allein dadurch Realität, dass sie einmal in Gesetze gegossen sind. Es sind überwiegend zivilgesellschaftliche Akteure, die, wie es die Frauenbewegung, die Arbeiterbewegung oder die Bürgerrechtsbewegung in den USA getan haben, Menschenrechte einfordern und erkämpfen.

Angesichts der aktuellen Krise und der weltweiten Transformationsprozesse sind neue Ansätze und Koalitionen zwischen zivilgesellschaftlichen Akteuren vonnöten. Business as usual, ausgeführt von spezialisierten Menschenrechtlern, stets im Wettbewerb um Aufmerksamkeit, Fördergelder und Reputation, wird nicht ausreichen. Selbstreflexion der eigenen Rolle und Methoden ist ebenso gefragt wie ein Bewusstsein für die eigenen Privilegien. Es müssen neue Bündnisse zwischen lokal und global agierenden Akteuren, zwischen Globalem Norden und Globalem Süden sowie interdisziplinäre Koalitionen, beispielsweise zwischen Umweltaktivist*innen, Gewerkschafter*innen, Künstler*innen, Wissenschaftler*innen und Jurist*innen gebildet werden, um die Menschenrechte weiter voranzubringen – immer auf die jeweilige Situation ausgerichtet, kein copy and paste, kein one size fits all.

Auch hier gehen Länder des Globalen Südens mit gutem Beispiel voran: Für die Aufarbeitung der Diktaturen vor allem in Argentinien und in Chile haben verschiedenste Akteure zusammengefunden. Das in den Gerichtssälen generierte dokumentarische Material kommunizieren die Überlebenden der Militärdiktaturen und ihre Angehörigen unterstützt von Akademiker*innen und Künstler*innen, in wissenschaftlichen Veröffentlichungen, in Zeitungsberichten, in Essays, in Theaterstücken und in Kinofilmen. All diese Akteure und Formate haben ihre Stärken im Kampf für die Menschenrechte: So können Akademiker*innen dazu beitragen, die Ursachen der Menschheitsverbrechen zu analysieren und das Recht kritisch weiterzuentwickeln, sodass es im Sinne der Marginalisierten und Betroffenen wirkt. Kunst in jeglicher Form kann nicht nur Betroffenen von Menschenrechtsverletzungen bei der Verarbeitung ihrer Erlebnisse helfen, sondern auch Unrecht in seiner Komplexität und das Unsagbare sichtbar machen und so die Notwendigkeit der Durchsetzung der Menschenrechte zeigen; oder, wie es die Londoner Gruppe um Forensic Architecture vormacht, zugleich ein spezifisches intellektuelles Expertenwissen vor Gericht einbringen und die dahinter liegenden systemischen Probleme im öffentlichen Diskurs verhandeln.

Nicht zu vergessen sind aber auch die Kooperationen zwischen Menschenrechtsorganisationen und -aktivist*innen – nicht nur lokal, sondern sich gegenseitig komplementierend, arbeitsteilig, gemeinsam auch über die Grenzen des Globalen Nordens und Südens hinaus. Nur abseits der Kategorien von "wir" und "ihr", "Opfern" und "Rettern" können wir als Verbündete und als Optimist*innen des Willens notwendige Veränderungen erreichen. Diese Praxis zeigt, dass der Abgesang auf die Menschenrechte verfrüht ist. Denn sie bietet ein großes Potenzial, eine konkrete Utopie sowie Anknüpfungspunkte für das, was der Philosoph Ernst Bloch als eine "fundierte Hoffnung" bezeichnet hat – oder wie der Schriftsteller James Baldwin es ausdrückte: "Not everything that is faced can be changed, but nothing can be changed until it is faced."

Für die kritische Durchsicht des Textes danke ich Michelle Trimborn.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Stephen Hopgood, The Endtimes of Human Rights, New York 2013.

  2. Michel Serres, Was genau war früher besser? Ein optimistischer Wutanfall, Berlin 2019.

  3. Vgl. EGMR, Ilias u. Ahmed v. Ungarn, Urt. v. 21.11.2019 (Nr. 47287/15); ders., N.D. u. N.T. v. Spanien, Urt. v. 13.2.2020 (Nr. 8675/15 und 8697/15).

  4. Vgl. etwa Antony Anghie, Whose Utopia? Development, Human Rights and the Third World, in: Qui Parle 1/2013, S. 63–80; ders., Imperialism and International Legal Theory, in: Anne Orford/Florian Hoffmann (Hrsg.), The Oxford Handbook of the Theory of International Law, Oxford 2016, S. 155–172; Upendra Baxi, The Future of Human Rights, Delhi 2006; Bhupinder Chimni, International Law and World Order: A Critique of Contemporary Approaches, Cambridge 2017; Makau Mutua, Human Rights Standards: Hegemony, Law, and Politics, Albany 2016.

  5. Vgl. Makau Mutua, Savages, Victims, and Saviors: The Metaphor of Human Rights, in: Harvard International Law Journal 1/2001, S. 201–245.

  6. Vgl. ders., Die Rolle von Nichtregierungsorganisationen bei der Rechtserzeugung, in: Karina Theurer/Wolfgang Kaleck (Hrsg.), Dekoloniale Rechtskritik und Rechtspraxis, Baden-Baden 2020, S. 223–262; Tshepo Madlingozi, On Transitional Justice Entrepreneurs and the Production of Victims, in: Journal of Human Rights Practice 2/2010, S. 208–228.

  7. So etwa die Klage vier pakistanischer Staatsangehöriger gegen KiK vor dem Landgericht Dortmund (Urt. v. 10.1.2019, Az. 7 O 95/15). Vgl. dazu Philipp Wesche/Miriam Saage-Maaß, Holding Companies Liable for Human Rights Abuses Related to Foreign Subsidiaries and Suppliers before German Civil Courts: Lessons from Jabir and Others v KiK, in: Human Rights Law Review 2/2016, S. 370–385.

  8. Vgl. Karina Theurer, Globalisierung und "Hunger by Design": Der Kampf für soziale und wirtschaftliche Rechte. Gespräch mit Colin Gonsalves, in: dies./Kaleck (Anm. 6), S. 357–366.

  9. In diesem Sinne auch César Rodríguez-Garavito, Anti-capitalist Human Rights for the 21st Century, 24.10.2019, Externer Link: http://www.openglobalrights.org/anti-capitalist-human-rights-for-the-21st-century.

  10. Vgl. Naomi Roht-Arriaza, The Pinochet Effect, Philadelphia 2005.

  11. IIIM steht für "International, Impartial and Independent Mechanism to Assist in the Investigation and Prosecution of Persons Responsible for the most Serious Crimes under International Law Committed in the Syrian Arab Republic since March 2011".

  12. Vgl. Wolfgang Kaleck/Patrick Kroker, Syrian Torture Investigations in Germany and Beyond: Breathing New Life into Universal Jurisdiction in Europe?, in: Journal of International Criminal Justice 1/2018, S. 165–191.

  13. Vgl. Francesca Lessa, Operation Condor on Trial: Justice for Transnational Human Rights Crimes in South America, in: Journal of Latin American Studies 2/2019, S. 409–439.

  14. Vgl. die Dokumentation des Nebenkläger-Rechtsanwaltes Reed Brody, Lebenslänglich für Diktator Hissène Habré, Berlin 2017.

  15. Vgl. Wolfgang Kaleck, Mit zweierlei Maß, Berlin 2012.

  16. Vgl. Katherine Gallagher, Universal Jurisdiction in Practice: Efforts to Hold Donald Rumsfeld and Other High-level United States Officials Accountable for Torture, in: Journal of International Criminal Justice 5/2009, S. 1087–1116.

  17. Vgl. Marko Milanovic, European Court Decides Al-Skeini and Al-Jedda, 7.7.2011, Externer Link: http://www.ejiltalk.org/european-court-decides-al-skeini-and-al-jedda.

  18. Vgl. Kathryn Sikkink, Evidence for Hope. Making Human Rights Work in the 21st Century, Princeton–Oxford 2017.

  19. Vgl. etwa die Ausstellungskataloge Alltag und Vergessen. Argentinien 1976/2003, Berlin 2003; Schritte zur Flucht von der Arbeit zum Tun, Köln 2004.

Lizenz

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 3.0 DE - Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland" veröffentlicht. Autor/-in: Wolfgang Kaleck für Aus Politik und Zeitgeschichte/bpb.de

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ist Generalsekretär des European Center for Constitutional and Human Rights in Berlin. E-Mail Link: kaleck@ecchr.eu