In der Corona-Krise manifestieren sich viele Entwicklungen der vergangenen Jahre, die die Lage der Menschenrechte negativ beeinflusst haben: ein die Welt umspannender Kapitalismus und eine unkontrollierte, beschleunigte Digitalisierung, die zu immer größerer Ungleichheit weltweit führen; die Zunahme prekärer Arbeitsverhältnisse; die Beschneidung von Sozialsystemen; die Privatisierung und der drastische Abbau der Gesundheitsversorgung; der Verlust von öffentlichen Räumen; die verheerenden Auswirkungen des Klimawandels; knapper werdende lebenswichtige Ressourcen wie Energie, sauberes Wasser und Nahrung.
Vor diesem Hintergrund ist es nicht einfach, einer Verkündung der "Endzeit der Menschenrechte"
Menschenrechte in der Krise?
Die Menschenrechte werden derzeit an vielen Orten der Welt mit Füßen getreten – nicht nur von den "üblichen Verdächtigen", den autokratischen Herrschern von China, Russland und der Türkei. Auch aus Indien, Brasilien und Südafrika werden gravierende Menschenrechtsverstöße und die Erosion von Rechtsstaatlichkeit und Justizwesen berichtet, ebenso aus Polen und Ungarn, insbesondere im Umgang mit Minderheiten und Migrant*innen. Auch die westeuropäischen Regierungen und die USA, nicht erst unter Präsident Donald Trump, verletzen Völkerrecht und Menschenrechte. Damit wenden sich diese Staaten von jenem Normensystem ab, das sie nach dem Zweiten Weltkrieg mit etabliert haben. Nicht zuletzt deshalb machen sich neue Dystopien und eine lähmende Hoffnungslosigkeit breit. Dagegen muss mit dem Philosophen Michel Serres erst einmal gefragt werden: "Was genau war früher besser?"
Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 und die beiden großen Pakte für politische und bürgerliche sowie für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte von 1966 sind zweifellos als Meilensteine zu bewerten. Sie formulierten Ansprüche und Versprechen, an denen alle Staaten, gerade auch von ihren jeweiligen Gegnern im Kalten Krieg, gemessen wurden. Die vagen Programmsätze wurden in den folgenden Jahrzehnten in konkretere Rechtsnormen gegossen und entsprechende Verfahren und Institutionen geschaffen.
Dem westlichen Narrativ einer Fortschrittsgeschichte der Menschenrechte nach dem Zweiten Weltkrieg sind jedoch die Realitäten entgegenzuhalten: Dem aus den Nürnberger Prozessen erwachsenen Anspruch, ein internationales Recht zu etablieren, mit dem die Verbrechen gegen die Menschlichkeit aller Nationen gleichermaßen geahndet werden können, handelten nicht nur das stalinistische Russland und das ebenfalls dem UN-Sicherheitsrat ständig angehörende China zuwider, auch die europäischen Imperialmächte verübten bei der Niederschlagung der Unabhängigkeitsbewegungen in ihren Kolonien Kriegsverbrechen, und die USA unterstützten Militärdiktaturen etwa in Süd- und Mittelamerika.
Nach dem Mauerfall 1989 erklärte der Politikwissenschaftler Francis Fukuyama das "Ende der Geschichte", den Erfolg des westlich-liberalkapitalistischen Gesellschaftsmodells, zu dem es keine Alternative mehr gebe. Doch auch in den 1990er Jahren war es nicht besser um die Menschenrechte bestellt als vorher. Abseits der Metropolen wurden Völkermorde auf dem Balkan und in Ruanda sowie zahlreiche Verbrechen gegen die Menschlichkeit verübt, unter anderem in den kurdischen Gebieten der Türkei, in Kolumbien und in Zentralafrika.
Das Ende dieser Erzählung leiteten die westlichen Staaten schließlich selbst ein: mit dem Einsatz der Nato im Kosovo ohne UN-Mandat 1999, mit willkürlichen Verhaftungen und Folterungen von Terrorismusverdächtigen nach dem 11. September 2001 sowie mit dem Irak-Krieg 2003, in den die USA und Großbritannien an der Spitze einer "Koalition der Willigen" ohne UN-Mandat zogen. Diese Rechtsverstöße signalisierten der Welt: Wir halten uns an das Völkerrecht, solange es unseren Interessen dient. Zeitgleich erstarkten weitere Akteure auf der Weltbühne wie China, Brasilien, Indien, Südafrika und erneut Russland, die in einer nunmehr multipolaren Weltordnung diese an den eigenen Interessen orientierte Einstellung zum Völkerrecht übernahmen.
Auch in die zurückliegende Dekade fallen viele Menschenrechtsverletzungen. Hinzu kommt allerdings, dass das seit 1945 entwickelte Menschenrechtsschutzsystem sowie die (Völker-)Rechtsordnung insgesamt als Referenzrahmen gerade von jenen Akteuren aufgegeben wird, die an ihrer Schaffung entscheidenden Anteil hatten. Nicht nur die USA vollziehen eine Abkehr vom Multilateralismus, auch in Europa beugt sich der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) insbesondere im Bereich Migration zunehmend politischem Druck. Ausdruck dafür sind zwei jüngere Entscheidungen zur Rechtmäßigkeit von Lagern im Grenzbereich von Ungarn und Serbien sowie im Fall von kollektiven Rückschiebungen nach Spanien.
Kritik am Menschenrechtssystem und seinen Institutionen etwa in New York und Genf ist durchaus berechtigt, wurde aber auch schon von postkolonialen Kritiker*innen westlicher Menschenrechtspraxis geäußert.
Befinden sich die Menschenrechte also in der Krise? Hat der Politikwissenschaftler Stephen Hopgood Recht, wenn er sagt, im Sinne einer entstehenden neowestfälischen Weltordnung stehen die Menschenrechte als säkulares, universelles und nicht verhandelbares Normensystem für das alte Modell Europa, das so nicht mehr existiere? Sind Menschenrechte als Konzept gescheitert?
Erfahrungen aus der menschenrechtlichen Praxis
Die Kritik ist in den vergangenen Jahren von Menschenrechtsorganisationen sowohl im Norden als auch im Süden rezipiert worden, sodass beispielsweise die Praxis der juristischen Menschenrechtsarbeit der zurückliegenden zwei Jahrzehnte ein sehr viel differenzierteres Bild ergibt. So trägt in weiten Teilen Lateinamerikas ein breites Spektrum an Organisationen sowohl individuelle als auch kollektive Kämpfe für Menschenrechte aus, zum Teil vor Gericht, zum Teil auf der Straße. Vieles von dem, was Kritiker*innen fordern, etwa den Kampf um die Menschenrechte als eine populäre Kultur zu etablieren und einen ganzheitlichen politischen Blick zu entwerfen, wird von solchen Organisationen, etwa dem Zentrum für Rechts- und Sozialwissenschaften CELS in Argentinien, längst gepflegt.
Anders als noch vor einer Dekade beschäftigen sich weltweit immer mehr Netzwerke und Akteure mit dem Themenfeld Wirtschaft und Menschenrechte. Ablesbar ist dies sowohl an den Bemühungen um nationale und globale Regelungen zur Kontrolle und Sanktionierung transnationaler Unternehmen als auch bei Klagen gegen Menschenrechtsverletzungen. Neben Fällen von Verfolgungen von Gewerkschafter*innen in Konfliktregionen sowie von Lieferungen von Waffen, Überwachungstechnologien und anderen gefährlichen Gütern an repressive Regime, verfolgten die Klagen zuletzt komplexere Ziele wie die Herstellung von Verantwortlichkeit in globalen Lieferketten, etwa am Beispiel der südasiatischen Textilindustrie.
Zudem haben sich in vielen Staaten des Globalen Südens Menschenrechtsorganisationen und Aktivist*innenkollektive herausgebildet, um kollektive Rechte einzuklagen. So argumentierten etwa Anwält*innen 2001 vor dem Obersten Gericht in Indien, dass das verfassungsmäßige Recht auf Leben verletzt werde, wenn jährlich Tausende Inder*innen an Hunger sterben. Das Gericht folgte den Argumenten und diktierte der Regierung Ernährungsprogramme für etwa 300 Millionen Menschen.
Statt bei der Kritik an den Menschenrechten den Blick auf die im Globalen Norden angesiedelten Menschenrechtsinstitutionen zu verengen, sollte die Wechselwirkung zwischen dem, was dort und anderswo passiert, betrachtet werden.
Ferner sollten nationale Strafverfahren nach dem Weltrechtsprinzip, auch "universelle Jurisdiktion" genannt, stärker in den Fokus rücken. Dieses ermöglicht, schwerste Verbrechen auch außerhalb des Staatsgebietes, auf dem sie begangen wurden, juristisch zu verfolgen und über das traditionelle Mittel des naming and shaming von Menschenrechtsorganisationen hinauszugehen. Ein aktuelles Beispiel ist die Aufarbeitung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Syrien. Natürlich ist es auch ein Versagen der internationalen Institutionen, dass es dort zu Hunderttausenden Toten und Gefolterten gekommen ist. Allerdings hat die internationale Gemeinschaft nicht wie beispielsweise vor zwei oder drei Jahrzehnten bei vergleichbaren Verbrechen fast nicht reagiert. Vielmehr haben die Vereinten Nationen eine Untersuchungskommission eingerichtet und mit dem IIIM einen neuen Mechanismus etabliert,
Die Praxis der universellen Jurisdiktion ist nicht auf westeuropäische Staaten beschränkt. 2016 wurden 15 ranghohe Militärs in Buenos Aires wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Rahmen der "Operation Condor", einer transnationalen Geheimdienstkooperation zur Verfolgung und Ermordung Andersdenkender und politischer Gegner*innen der lateinamerikanischen Diktaturen in den 1970er und 1980er Jahren, verurteilt.
Der häufig kritisierten Tatsache, dass der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag überwiegend gegen afrikanische Tatverdächtige und Angehörige besiegter Staaten oder politischer Formationen vorgeht,
In Sachen Menschenrechte ist also nicht alles verloren. Wie die Politikwissenschaftlerin Kathryn Sikkink gezeigt hat, führt die zunehmende Zahl von gerichtlichen Untersuchungen und Ahndungen von großen Menschenrechtsverletzungen zu einer Wiederherstellung eines gewissen Maßes an Rechtsstaatlichkeit in den betroffenen Staaten. Ferner belegt Sikkink in vielen Bereichen der weltweiten Menschenrechtslage Verbesserungen, etwa mit Blick auf die Zahl von Genoziden und Politiziden sowie auf den Rückgang der Todesstrafe und die abnehmende Kindersterblichkeit. Man dürfe Fortschritt nicht an einem Idealzustand messen, daran könne man nur scheitern. Demnach müsse man auch solchen Delegitimierungsversuchen entgegentreten, die die Normierung von Menschenrechten und das Streiten für diese mit Verweis auf die unverändert miserablen Realitäten für obsolet erklären.
Neue Koalitionen
Die Durchsetzung der Menschenrechte ist ein politisches Anliegen, vor allem wenn mit Menschenrechten nicht nur die in Konventionen, Verfassungen und Gesetzen verbrieften Rechte gemeint sind, sondern sie als der offene, immerwährende utopische Anspruch für alle Menschen, in Freiheit und Würde zu leben, verstanden werden. Menschenrechte mit juristischen Mitteln durchzusetzen, ist demnach ebenfalls eine politische Aufgabe, denn es existiert kein neutraler, unpolitischer, von Machtverhältnissen unberührter Ort – ein solcher ist auch kein Gericht.
Aber Menschenrechte werden nicht von oben gewährt. Sie werden nicht allein dadurch Realität, dass sie einmal in Gesetze gegossen sind. Es sind überwiegend zivilgesellschaftliche Akteure, die, wie es die Frauenbewegung, die Arbeiterbewegung oder die Bürgerrechtsbewegung in den USA getan haben, Menschenrechte einfordern und erkämpfen.
Angesichts der aktuellen Krise und der weltweiten Transformationsprozesse sind neue Ansätze und Koalitionen zwischen zivilgesellschaftlichen Akteuren vonnöten. Business as usual, ausgeführt von spezialisierten Menschenrechtlern, stets im Wettbewerb um Aufmerksamkeit, Fördergelder und Reputation, wird nicht ausreichen. Selbstreflexion der eigenen Rolle und Methoden ist ebenso gefragt wie ein Bewusstsein für die eigenen Privilegien. Es müssen neue Bündnisse zwischen lokal und global agierenden Akteuren, zwischen Globalem Norden und Globalem Süden sowie interdisziplinäre Koalitionen, beispielsweise zwischen Umweltaktivist*innen, Gewerkschafter*innen, Künstler*innen, Wissenschaftler*innen und Jurist*innen gebildet werden, um die Menschenrechte weiter voranzubringen – immer auf die jeweilige Situation ausgerichtet, kein copy and paste, kein one size fits all.
Auch hier gehen Länder des Globalen Südens mit gutem Beispiel voran: Für die Aufarbeitung der Diktaturen vor allem in Argentinien und in Chile haben verschiedenste Akteure zusammengefunden. Das in den Gerichtssälen generierte dokumentarische Material kommunizieren die Überlebenden der Militärdiktaturen und ihre Angehörigen unterstützt von Akademiker*innen und Künstler*innen, in wissenschaftlichen Veröffentlichungen, in Zeitungsberichten, in Essays, in Theaterstücken und in Kinofilmen.
Nicht zu vergessen sind aber auch die Kooperationen zwischen Menschenrechtsorganisationen und -aktivist*innen – nicht nur lokal, sondern sich gegenseitig komplementierend, arbeitsteilig, gemeinsam auch über die Grenzen des Globalen Nordens und Südens hinaus. Nur abseits der Kategorien von "wir" und "ihr", "Opfern" und "Rettern" können wir als Verbündete und als Optimist*innen des Willens notwendige Veränderungen erreichen. Diese Praxis zeigt, dass der Abgesang auf die Menschenrechte verfrüht ist. Denn sie bietet ein großes Potenzial, eine konkrete Utopie sowie Anknüpfungspunkte für das, was der Philosoph Ernst Bloch als eine "fundierte Hoffnung" bezeichnet hat – oder wie der Schriftsteller James Baldwin es ausdrückte: "Not everything that is faced can be changed, but nothing can be changed until it is faced."
Für die kritische Durchsicht des Textes danke ich Michelle Trimborn.