Der internationale Menschenrechtsschutz ist der Phönix, der aus der Asche des Zweiten Weltkrieges aufgestiegen ist, schrieb der Oberste Gerichtshof Kanadas kürzlich in einem spektakulären Urteil gegen ein kanadisches Unternehmen, das eine Mine in Eritrea unter Ausnutzung von Zwangsarbeit betrieb.
Auf dem Papier gedeiht er. Kaum ein Staat der Welt spricht sich offen gegen Menschenrechtsschutz aus. Die völkerrechtlichen Instrumente und Institutionen werden ausgebaut und verfeinert. Es werden neue Menschenrechte proklamiert, vom Recht gegen Korruption über ein Recht auf Internet bis hin zu einem Recht auf Klimaschutz. Menschenrechte werden für neue Gruppen, etwa Tiere, diskutiert und gegen neue Verpflichtete, insbesondere Wirtschaftsunternehmen, eingesetzt. Immer mehr Rechtsregime werden im Lichte der Menschenrechte Betroffener verändert, etwa die Regeln zum Schutz von Auslandsinvestitionen im Verhältnis zu Rechten indigener Bevölkerungen.
Dem stehen anhaltende Menschenrechtsverletzungen in allen Regionen der Welt gegenüber.
Die Kluft zwischen den Lippenbekenntnissen der Staaten zu den Menschenrechten und ihrer praktischen Umsetzung ist also groß. Hinzu kommt ein intellektueller Backlash gegen die Idee der Menschenrechte. Diese Angriffe sind nicht nur strategisch, sondern hängen auch mit Kontroversen über die philosophischen Grundlagen von Menschenrechten zusammen.
Was sind Menschenrechte aus völkerrechtlicher Perspektive? Mithilfe welcher völkerrechtlicher Verfahren und Institutionen werden sie gefördert und durchgesetzt? Und was können Menschenrechte in der globalen oder gar post-globalisierten Konstellation leisten?
Schutz menschlicher Grundbedürfnisse und Interessen
Menschenrechte sollen grundlegende Interessen und Bedürfnisse schützen, etwa das Interesse am Leben und das damit einhergehende Bedürfnis nach Nahrung; sie sollen die Entfaltung menschlicher Fähigkeiten ermöglichen, etwa das Leben in Gemeinschaft und in Kommunikation mit anderen, und insgesamt Menschen befähigen, ihr Leben in Würde zu gestalten. Das Gegenstück zu den Menschenrechten sind die Pflichten des Staates, diese Rechte zu achten, zu schützen und zu gewährleisten.
Menschenrechte sind sogenannte subjektive Rechte, anders als rein objektive Schutznormen oder Standards wie Umwelt- oder Tierschutzvorschriften. Weil Menschenrechte juridische Ansprüche erzeugen, ermächtigen sie Einzelne, die Beeinträchtigung ihrer Rechte anzuprangern. Menschenrechte verwandeln damit Opfer in Bürger (empowerment).
Menschenrechte sind eine historische Antwort auf konkrete Bedrohungssituationen. Bereits im 17. Jahrhundert wurde in England die Habeas-Corpus-Beschwerdemöglichkeit geschaffen, mit der ein verhafteter Mensch eine richterliche Prüfung seiner Haft verlangen konnte. Habeas Corpus ist unvermindert wichtig und wurde etwa von inhaftierten Terrorverdächtigen in Guantánamo beansprucht. Da Menschenrechte eine konkrete juristische Antwort auf Bedrohungen sind, die sich stetig verändern, werden immer wieder neue Menschenrechte formuliert, etwa das Recht auf Datenschutz oder das Recht auf Schutz vor genetischer Diskriminierung.
Kodifikationen nach 1945
Menschenrechte waren historisch in erster Linie gegen den Staat gerichtet, weil dieser aufgrund seines Gewaltmonopols ein spezifisches Bedrohungspotenzial aufweist. Die Staaten sind aber auch diejenigen Institutionen, welche die Menschenrechte sichern und gewährleisten. In Situationen prekärer Staatlichkeit oder in failed states ist die Menschenrechtslage schlechter als in stabilen Staaten. Nachdem in den Staatsverfassungen der westlichen Welt Menschen- und Grundrechtskataloge schon im 18. Jahrhundert aufkamen, wurden zusätzliche überstaatliche Garantien erst nach dem Zweiten Weltkrieg in Reaktion auf Nationalsozialismus und Krieg eingeführt. Der Menschenrechtsschutz wurde als Ziel und Aufgabe der Vereinten Nationen in der UN-Charta von 1945 anerkannt. Am 10. Dezember 1948 wurde die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (AEMR) als Resolution der UN-Generalversammlung verabschiedet.
Das internationale Menschenrechtsschutzsystem steht mit dem ebenfalls völkerrechtlich abgesicherten Prinzip der Nichteinmischung in innere Angelegenheiten und der Staatensouveränität in einem Spannungsverhältnis, das mit dem Ende des Kalten Krieges zwar abgemildert, aber nicht vollkommen überwunden wurde. Ein wichtiger Meilenstein war hier die Wiener Menschenrechtskonferenz von 1993, deren Schlussdeklaration festhält, dass der Menschenrechtsschutz eine Sache der internationalen Gemeinschaft ist und keine innerstaatliche Angelegenheit. Unter der Maxime "alle Menschenrechte für alle" betonten die damaligen Staatsoberhäupter die Universalität, Unteilbarkeit und Interdependenz aller Menschenrechte.
Das Fundament des universellen Menschenrechtsschutzes, die International Bill of Human Rights, bilden neben der AEMR die beiden UN-Menschenrechtspakte von 1966. Der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte (Zivilpakt) umfasst die klassischen liberalen Freiheitsrechte beziehungsweise die sogenannten Rechte der ersten Generation wie das Recht auf Leben, Schutz vor Folter, Religionsfreiheit und die Meinungs- und Informationsfreiheit. Der Internationale Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (Sozialpakt) enthält hingegen die Rechte der zweiten Generation wie das Recht auf einen angemessenen Lebensstandard einschließlich Nahrung, Gesundheit oder Wasser, das Recht auf soziale Sicherheit und das Recht auf Bildung. Diese Aufteilung der Rechte in zwei völkerrechtliche Verträge hatte mit der damaligen ideologischen Auseinandersetzung zu tun: Das westliche Lager hielt die bürgerlichen und politischen Rechte für die "eigentlichen" Menschenrechte, im sozialistischen Block war es genau umgekehrt. Heute gelten die Menschenrechte als unteilbar. Dennoch lebt der alte Gegensatz fort: China hat nur den Sozialpakt ratifiziert, wohingegen die USA nur dem Zivilpakt beigetreten sind.
Tatsächlich unterscheidet sich die Verpflichtungsstruktur beider Gruppen von Menschenrechten: Während der Zivilpakt die darin enthaltenen Rechte für sofort und unmittelbar verbindlich erklärt, wird im Sozialpakt lediglich eine allmähliche Umsetzung unter dem Vorbehalt des Möglichen gefordert. Die Rechtsprechungsaktivität staatlicher Gerichte hat aber soziale Menschenrechte in vielen Staaten operationalisiert.
Weitere universelle Menschenrechtsabkommen wurden für bestimmte Themen oder Gruppen geschlossen, beispielsweise die Anti-Rassismuskonvention von 1965, die Frauenrechtskonvention von 1979 und die Anti-Folterkonvention von 1984.
Universalität und kulturelle Vielfalt
Zur Grundidee von Menschenrechten gehört, dass sie allen Menschen zukommen, also universell gelten. Aber erst nach Ende der Ost-West-Spaltung stieg in den 1990er Jahren die Ratifikation und damit die Verbindlichmachung der Verträge in allen Staaten der Welt steil an. Heute haben 80 Prozent der Staaten mindestens vier der wichtigsten Menschenrechtsverträge ratifiziert. Dennoch bestehen unterschiedliche Auffassungen über den Schutzumfang der in diesen Verträgen ausformulierten Rechte fort, vor allem mit Blick auf die Familie, die Geschlechterbeziehungen und das Verhältnis des Einzelnen zur Gruppe. Beispielsweise werden sogenannte Ehrenmorde in einigen arabischen Staaten und die Genitalverstümmelung von Frauen in einigen Staaten Afrikas von Behörden toleriert. Manche asiatischen Gesellschaften halten eine sehr weitgehende Datenerfassung und Personentracking zum Schutz der öffentlichen Gesundheit für angemessen. In vielen Bundesstaaten der USA sowie in anderen Weltregionen gilt die Todesstrafe als vereinbar mit dem Recht auf Leben.
In der Präambel der UNESCO-Konvention über den Schutz und die Förderung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen von 2005 wird die kulturelle Vielfalt als gemeinsames Menschheitserbe bezeichnet. Zugleich soll niemand die Vorschriften dieses Abkommens anführen dürfen, um die international garantierten Menschenrechte einzuschränken oder zu verletzen. Fraglich ist also, ab wann kulturell verwurzelte Menschenrechtsbeeinträchtigungen eine Verletzung der universellen Mindeststandards darstellen.
Das internationale Menschenrechtssystem stellt juristische Instrumente zur Verfügung, die der kulturellen Vielfalt Rechnung tragen. Da die in den Verträgen enthaltenen Rechte sehr vage und weit formuliert sind, können kulturelle Besonderheiten durch Auslegung berücksichtigt werden. Die Gerichte räumen hier den nationalen Behörden einen besonderen Spielraum ein. So hat der EGMR im Kontext des französischen Burkaverbots im öffentlichen Raum anerkannt, dass dieses durch das Prinzip des Zusammenlebens (vivre ensemble) in der französischen Gesellschaft mittels visueller Kommunikation gerechtfertigt sei.
Die Frage bleibt, wo genau der universelle Mindeststandard liegt, unter den Staaten trotz kultureller oder regionaler Eigenarten nicht fallen dürfen. Im internationalen Menschenrechtsschutzsystem gibt es kaum Durchsetzungsinstanzen, die verbindliche Entscheidungen zu solchen Fragen treffen können. Die Frage des universellen Minimums muss deshalb immer wieder im globalen Diskurs ausgehandelt werden. Entscheidend ist, dass hieran nicht nur die Machthaber, die von restriktiven Auslegungen profitieren, teilnehmen, sondern vor allem die Betroffenen selbst.
Durchsetzung
Für die Durchsetzung der Menschenrechte sind in erster Linie die Staaten verantwortlich, denn sie sind kraft ihrer Souveränität verpflichtet, die Menschenrechte auf eigenem Staatsgebiet zu verwirklichen. Vor diesem Hintergrund sind Individuen grundsätzlich angehalten, den innerstaatlichen Rechtsweg im Verletzerstaat zu durchlaufen, bevor sie sich an die überstaatlichen Instanzen wenden können. Auf völkerrechtlicher Ebene werden Menschenrechte zum einen mit dezentralen beziehungsweise bilateralen Mitteln durch die Staaten selbst durchgesetzt, etwa mittels Menschenrechtsdialogen oder Wirtschaftssanktionen. Zum anderen bestehen zentrale Durchsetzungsmechanismen. Zu unterscheiden sind hierbei die vertragsbezogenen von den nicht-vertragsspezifischen sowie die universellen von den regionalen Durchsetzungsmechanismen.
Universeller Menschenrechtsschutz
Die vertraglichen Prüfungsorgane der universellen Menschenrechtsverträge sind keine Gerichte, sondern unabhängige Expertenausschüsse. Diese arbeiten mit verschiedenen Durchsetzungsinstrumenten: Staatenberichtsverfahren, Individualmitteilungen und Staatenbeschwerden.
Regelmäßige Staatenberichte sind alle zwei bis fünf Jahre obligatorisch. Die Ausschüsse verfassen zu den Berichten sogenannte Abschließende Bemerkungen, in denen sie Empfehlungen an den überprüften Staat abgeben. Der Ausschuss zum Sozialpakt, der UN-Sozialausschuss, hat beispielsweise in den Abschließenden Bemerkungen zum Staatenbericht von Deutschland 2018 die Menschenrechtsstandards für Unternehmen als zu unverbindlich kritisiert und die Bundesrepublik angemahnt, die menschenrechtsrelevanten Auswirkungen ihrer Handels- oder Investitionspolitik auf Individuen im Ausland zu berücksichtigen.
Individualmitteilungsverfahren, wie sie in einigen Menschenrechtsverträgen vorgesehen sind, eröffnen Einzelnen die Möglichkeit, sich direkt an einen Expertenausschuss zu wenden. Vorbedingung ist allerdings, dass der jeweilige Verletzerstaat dieser Möglichkeit grundsätzlich zugestimmt hat. So hat etwa Deutschland die Zuständigkeit des Menschenrechtsausschusses zum Zivilpakt zur Prüfung von Individualmitteilungen anerkannt. Der Ausschuss spricht in der Regel eine Empfehlung zur Wiedergutmachung der Menschenrechtsverletzung an den Verletzerstaat aus. Die das Verfahren abschließenden Auffassungen des Ausschusses entfalten jedoch keine rechtliche Bindungswirkung. Die Verletzerstaaten sind lediglich zu ihrer Berücksichtigung nach Treu und Glauben verpflichtet. 2013 wurde das Individualmitteilungsverfahren vor dem UN-Sozialausschuss eingeführt.
Staatenbeschwerdeverfahren berechtigen einen Vertragsstaat, gegen eine andere Vertragspartei Beschwerde wegen Verletzung der Menschenrechtspflichten einzureichen. Da eine Staatenbeschwerde die Beziehungen zum beklagten Staat erheblich beeinträchtigen kann, setzen Staaten dieses Verfahren nur selten in Gang.
Zu den universellen nicht-vertragsspezifischen Durchsetzungsinstanzen zählt insbesondere der 2006 gegründete UN-Menschenrechtsrat. Dieser setzt sich aus Vertretern von 47 UN-Mitgliedstaaten zusammen, die turnusmäßig von der Generalversammlung gewählt werden. Seine Mitglieder sind also keine unabhängigen Sachverständigen, sondern weisungsgebunden. Der Menschenrechtsrat ist dementsprechend ein genuin politisches Organ. Er befasst sich unter anderem mit groben und systematischen Menschenrechtsverletzungen durch Abgabe von Empfehlungen. Mit Gründung des Menschenrechtsrates wurde auch der Universal Periodic Review (UPR) eingeführt. Hiermit überprüfen sich die Staaten gegenseitig am Maßstab der jeweils für den Staat geltenden Menschenrechtspflichten. Es kann zu Manipulationen bei der Überprüfung kommen, etwa wenn einflussreiche Staaten sich von befreundeten Staaten oder Schein-NGOs loben lassen. Ein UPR endet mit einem Schlussbericht, der eine Einschätzung der Menschenrechtssituation und Empfehlungen enthält. Deutschland wurde zuletzt 2018 überprüft und erhielt Empfehlungen zum Umgang mit Rassismus und Hassrede.
Regionaler Menschenrechtsschutz
Anders als auf der UN-Ebene finden sich auf regionaler Ebene Menschenrechtsgerichte. Das europäische Menschenrechtssystem ist am stärksten entwickelt. Der EGMR in Straßburg ist seit 1998 eine ständige Institution. Jeder der 47 Mitgliedstaaten des Europarates ist automatisch seiner Gerichtsbarkeit unterworfen. Die Individualbeschwerde zum EGMR ist das wichtigste Verfahren. Jede Person, die sich in der Hoheitsgewalt (Jurisdiktion) eines Konventionsstaates befindet, hat ein individuelles Beschwerderecht gegen diesen Staat. Der Konventionsschutz gilt auch hier nur subsidiär. Geschädigte Individuen müssen also zunächst den innerstaatlichen Rechtsweg durchlaufen, bevor sie sich an den EGMR wenden dürfen. Ferner besteht die Möglichkeit, dass ein Staat mittels Staatenbeschwerde stellvertretend für seine Staatsangehörigen oder in seiner "Wächterfunktion" der EMRK eine andere Vertragspartei verklagt. Beispielsweise hat Zypern gegen die Türkei wegen der Besetzung Nordzyperns Beschwerde erhoben und die Ukraine gegen Russland nach der Annexion der Krim und dem Krieg in der Ostukraine.
Der EGMR ist extrem ausgelastet, sodass in jüngerer Zeit Reformen zur Bewältigung des Rückstaus in der Aburteilung und Umsetzung der Urteile diskutiert werden.
Im interamerikanischen Menschenrechtsschutzsystem existieren zur Umsetzung der Amerikanischen Menschenrechtskonvention (AMRK) von 1969 eine Kommission (IAKMR) und der Interamerikanische Gerichtshof (IAGMR). Mit der Ratifizierung der AMRK erkennen die Staaten die Zuständigkeit der Kommission für Individualbeschwerdeverfahren automatisch an. Dies gilt aktuell für 25 Staaten. Die USA haben die AMRK nicht ratifiziert, erkennen jedoch die Amerikanische Menschenrechtserklärung an. Anhand dieser kann die IAKMR auch die USA messen. Der IAGMR kann nicht automatisch von Individuen angerufen werden, sondern wird lediglich nach Behandlung einer Beschwerde durch die Kommission zuständig. Deshalb ist dieser Gerichtshof auch viel weniger ausgelastet als der EGMR. Beide interamerikanischen Instanzen behandeln schwerste Regimekriminalität und zunehmend auch "alltägliche" Menschenrechtsverletzungen wie Diskriminierungen gleichgeschlechtlicher Paare in Kolumbien oder moderne Sklaverei in Brasilien.
Auch das afrikanische Menschenrechtsschutzsystem ist zweistufig, mit einer Kommission und einem Gerichtshof. Unter bestimmten Voraussetzungen können Nichtregierungsorganisationen oder Einzelne direkt an das Gericht gelangen. Es sind bisher erst einige Hundert Kommissionsentscheidungen und gut 30 Urteile ergangen. Beispielsweise wurde festgestellt, dass Kenia durch die Vertreibung der indigenen Volksgruppe Ogiek von ihrem angestammten Land im Mau-Wald die Konvention verletzt hat.
Die Arabische Menschenrechtscharta begründet keinen Gerichtshof, sondern lediglich eine Kommission, die Staatenberichte zu prüfen hat. Individualbeschwerden sind nicht vorgesehen. Eine wirksame Kommissionstätigkeit ist nicht zu verzeichnen. In Asien wurde bislang kein verbindliches Menschenrechtsschutzsystem geschaffen. Zwar liegen verschiedene Menschenrechtserklärungen vor, wie etwa die von der ASEAN ausgearbeitete Menschenrechtserklärung von 2012. Diese Instrumente entfalten allerdings keine rechtlichen Bindungswirkungen.
Backlash
Die Urteile der regionalen Menschenrechtsgerichte sind rechtsverbindlich, aber es häufen sich die Fälle von Nichtbefolgung. So haben Russland oder die Türkei in den vergangenen Jahren die meisten gegen sie ergangenen Urteile des EGMR nicht vollständig oder überhaupt nicht umgesetzt, oft unter Verweis auf die "Politisierung" des Gerichts. 2015 wurde in Russland ein Gesetz verabschiedet, das die Umsetzung von Urteilen verhindert, wenn diese der russischen Verfassung widersprechen würden.
Auf nationaler Ebene fällt in immer mehr Staaten eine populistische Unterminierung von Menschenrechtserrungenschaften unter Verweis auf die angebliche Mehrheitsmeinung in der Gesellschaft auf, die sich für Minderheitenanliegen wie die Stärkung der Rechte Homosexueller nicht interessierte.
Vielfach sind Einwände gegen Menschenrechte Schutzbehauptungen lokaler Eliten, die ihre Pfründe und Privilegien durch die Forderungen nach gleicher Freiheit für alle bedroht sehen. Die politisch-strategische Gegenbewegung trifft heute mit einer Fundamentalkritik an den Menschenrechten zusammen, die sich aus unterschiedlichen ideologischen Quellen speist.
Ausweitung
Trotz dieser Gegenbewegungen und der Überlastung der Durchsetzungsinstanzen erfahren Menschenrechte immer mehr Ausweitungen und Verfeinerungen. Es werden zunehmend neue Menschenrechte anerkannt und neue Rechtsträger identifiziert. Auch eine örtliche Ausweitung des Anwendungsbereichs der Verträge ist zu verzeichnen. Angesichts steigender Polizei- und Militäreinsätze im Ausland stellt sich etwa in Europa die Frage, ob Polizeibeamte und Soldaten auch auf fremdem Territorium an Menschenrechtsverträge gebunden sind. Der EGMR hat vielfach die EMRK "extraterritorial" angewendet, etwa auf Patrouillen britischer Soldaten im Irak.
Auch in Richtung der Pflichtenträger werden Menschenrechte ausgeweitet. Die Frage, wie auch private Akteure, insbesondere transnationale Wirtschaftsunternehmen, für von ihnen mitverursachte Menschenrechtsprobleme juristisch zur Verantwortung gezogen werden können, wird gegenwärtig intensiv diskutiert. Vorstöße wie das französische Sorgfaltspflichtengesetz und die schweizerische Konzernverantwortungsinitative versuchen, die Unternehmen indirekt, über eine schärfere staatliche Gesetzgebung, in die Pflicht zu nehmen. Und im Rahmen des UN-Menschenrechtsrates wird gegenwärtig ein Vertragsentwurf beraten, der Staaten dazu verpflichten soll, ihre Unternehmen für Menschenrechtsverstöße zu belangen.
Fazit
Der internationale Menschenrechtsschutz unterliegt aktuell gegenläufigen Trends. Funktioniert er in dieser ambivalenten Situation? Klar ist, dass die völkerrechtlichen Verträge keine harten Durchsetzungsmaßnahmen erlauben, um Staaten zu ihrer wirksamen Einhaltung zu zwingen. Zudem haben die internationalen Schutzinstanzen durch zunehmende Überlastung und Legitimitätskrisen an Effektivität eingebüßt. Die Verwirklichung der Menschenrechte ist aber ohnehin weniger mit Druck von außen als vielmehr durch Sozialisierung, also durch gesellschaftliche und politische Auseinandersetzung im Inneren eines Verletzerstaates, zu erreichen. Menschenrechte erlauben die "Kanalisierung" von Diskursen in der Sprache der Rechte und können so von Vertretern der Zivilgesellschaft als Argumente aufgegriffen werden. Allerdings bestehen hier zwei Gefahren: Erstens sind Menschenrechte nur beschränkt geeignet, jeglichen gesellschaftlichen Anforderungen in Zeiten der Globalisierung effektiv zu begegnen. Das Vokabular der Menschenrechte sollte nicht zum cheap talk werden und die Menschenrechtsidee überstrapazieren. Zweitens wird nicht selten mit zweierlei Maß gemessen, also schwachen Staaten menschenrechtliche Pflichten auferlegt, die reiche und mächtige Staaten selbst nicht einhalten. Westliche Akteure sollten sich hier konsistent verhalten, um glaubwürdig zu bleiben. Außerdem ist ein "milder" Relativismus angemessen, der auf verschiedene Regionen und Kulturen der Welt Rücksicht nimmt, ohne aber ein universelles Minimum zu unterschreiten. Dieses Minimum muss immer wieder neu definiert werden, und zwar letztlich bottom-up, nach den Wertvorstellungen der Opfer, nicht der Täter.