Einleitung
Deutsche Außen- und Sicherheitspolitik vollzieht sich nach wie vor in einem dezentralisierten anarchischen Selbsthilfesystem, in dem Staaten unter den Bedingungen eines Macht- und Sicherheitsdilemmas agieren und interagieren.
Während es im Hinblick auf die Grundstruktur des internationalen Systems seit dem Westfälischen Frieden von 1648 keine Veränderung gab, so hat das Ende des Ost-West-Konflikts, was die Machtverteilung zwischen den Großmächten angeht, einen entscheidenden Wandel eingeleitet. Das Resultat wird von einigen Wissenschaftlern
Konsequenzen
1. Der Aufstieg von Großmächten: Nicht erst seit dem bewaffneten russisch-georgischen Konflikt vom Sommer 2008 ist die Tendenz zu beobachten, dass regionale Mächte mit zunehmendem Selbstbewusstsein und ordnungspolitischem Anspruch auf die Bühne der internationalen Politik getreten sind. Insbesondere Russland und China machen aus ihren Ansprüchen keinen Hehl. Teils offen, teils verdeckt verfolgen sie eine "strategy of denial", die darauf abzielt, den militärischen, politischen und ökonomischen Einfluss der USA in ihren jeweiligen Regionen zurückzudrängen.
All diesen aufsteigenden Mächten ist gemein, dass sie (noch?) keine offen revisionistische Politik betreiben, die auf eine revolutionäre Umgestaltung der gegenwärtigen internationalen Ordnung zielt. Jedoch gibt es bereits Anzeichen dafür, dass einige dieser Staaten neben der machtpolitischen Konkurrenz zu den USA auch einen ordnungspolitischen Dissens im Bereich der Interpretation staatlicher Souveränität zu westlichen Staaten suchen. Die von den westlichen Industrieländern im vergangenen Jahrzehnt betriebene Aufweichung der Souveränitätsnorm durch eine vermeintliche Schutzpflicht ("duty to protect"),
2. Die Schwächung multilateraler Institutionen: Die bisherige multilaterale Ordnung gerät auch seitens der Staaten, die maßgeblich an ihrem Aufbau beteiligt waren (vor allem der USA) zunehmend unter Druck. Denn seit dem Ende des Ost-West-Konflikts lehnen die Vereinigten Staaten zwar nicht den Multilateralismus als System der zwischenstaatlichen Beziehungen ab, torpedieren jedoch einen vertragsbasierten Multilateralismus, der ihre eigene Handlungsfreiheit (aus ihrer Perspektive) unnötig einschränkt.
Die Schwächung multilateraler Institutionen ist jedoch nicht nur auf der globalen Ebene zu beobachten und nicht nur durch die USA verursacht. Sie vollzieht sich auch regional: Durch die Ost-Erweiterung der Europäischen Union (EU) bei gleichzeitig ausbleibender Vertiefung hat sich auch der Handlungsrahmen Deutschlands in Europa stark geändert - und zwar nicht nur, was die institutionelle Weiterentwicklung der EU anbetrifft, sondern auch was ihre Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik anbelangt. Insbesondere die Frage, wie die Beziehungen zu den USA und zu Russland zukünftig gestaltet werden sollen, spaltet die Unionsmitglieder. Die meisten osteuropäischen Staaten würden eine Konzeption befürworten, in der Europa unter amerikanischer Hegemonie eine konfrontative Politik gegenüber der russischen Föderation betreibt, was von den meisten Gründungsmitgliedern der EU abgelehnt wird. Dieser konzeptionelle Dissens lähmt die konsequente Weiterentwicklung der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) und vor allem der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) zu Instrumenten politischer und militärischer Machtprojektion der EU.
3. Das Ende des politischen Westens: Die skizzierte Schwächung von NATO und EU - der beiden für die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik zentralen multilateralen Institutionen - fördert eine Einsicht zu Tage, der sich die meisten führenden Politiker der Bundesrepublik bis heute verstellen: nämlich die Tatsache, dass "der Westen" als politische Handlungseinheit nicht mehr existiert. Zwar werden die europäischen Staaten und die USA auch weiterhin durch ihre gemeinsame Geschichte und Kultur aufs Engste miteinander verbunden bleiben. Aber daraus zu folgern, dass sie auch zukünftig eine stabile politische Handlungseinheit bilden, wäre verfehlt.
Nach dem Wegfall des gemeinsamen Feindes werden die USA und Europa nur noch auf einer Ad-hoc-Basis, wenn Interessenidentität vorherrschend ist, gemeinsam handeln. Wenn jedoch zwischen den USA und den Europäern, wie auch unter den Europäern selbst, Interessendivergenzen überwiegen sollten, wird die Außen- und Sicherheitspolitik im transatlantischen und europäischem Rahmen durch "Koalitionen der Willigen" und "Fähigen" dominiert sein. Diese werden sich der vorhandenen Institutionen teilweise bedienen, jedoch auch außerhalb dieser handeln, wenn eine Zusammenarbeit in Institutionen nicht möglich sein sollte.
Deutsche Außen- und Sicherheitspolitik seit der Wiedervereinigung
Die Außen- und Sicherheitspolitik der Bunderepublik Deutschland ist nach der Wiedervereinigung den neuen sicherheitspolitischen Rahmenbedingungen nur bedingt angepasst worden. Dort wo dies geschah, erfolgte die Anpassung spontan und nicht als Teil einer grundlegenden außen- und sicherheitspolitischen Strategie, die das Ziel verfolgt, die außenpolitische Staatsräson des wiedervereinten Deutschlands neu zu bestimmen.
Die noch 1990 angestrebte gesamteuropäische Friedensordnung, in welche die deutsche Einheit eingebettet werden sollte, kam nicht zustande und ihre Herstellung wurde auch in den darauffolgenden Jahren weder von der Bundesrepublik noch von anderen europäischen Staaten aktiv vorangetrieben. Dies führte dazu, dass bei der politischen Elite aber auch bei der Bevölkerung der russischen Föderation ein Versailles-Komplex entstanden ist: Russland betrachtet sich nicht nur als Verlierer des Ost-West-Konfliktes, sondern auch als einen Staat, der beim Aufbau einer europäischen Nachkriegsordnung ausgegrenzt wird. Der sich ausgeschlossen fühlende Kriegsverlierer erkennt die neue Ordnung nicht als legitim an: Historisch betrachtet kann eine solche Konstellation durchaus zu Revanchismus führen. Aus dieser Perspektive wird die russische Politik der vergangenen Jahre gegenüber Europa und den USA erklärbar.
An die Stelle des Aufbaus einer gesamteuropäischen Nachkriegsordnung trat die Anpassung der EU und der NATO. Beide sollten erweitert und vertieft (bzw. im Falle der NATO transformiert) werden. Doch die vielbeschworene Parallelität von Erweiterung und Vertiefung vollzog sich lediglich als Erweiterung, denn wichtige Fragen, wie etwa die nach der inhaltlichen Räson von Vertiefung (respektive Transformation) und ihrer institutionellen Ausgestaltung, wurden ausgespart.
Nach dem 11. September 2001 - vor dem Irak-Krieg - gab es zum ersten Mal seit der Wiedervereinigung so etwas wie eine Debatte um eine "grand strategy" der Bundesrepublik Deutschland, in der sich die regierende rot-grüne Koalition auf den Aufbau eines europäischen Gegengewichtes gegenüber (und nicht gegen, wie oftmals behauptet wird) den USA verständigte.
Welches sind nun die alternativen Handlungsmöglichkeiten deutscher Außen- und Sicherheitspolitik, wenn man den hier dargelegten Annahmen folgt, dass sich erstens das internationale System gewandelt hat und zweitens eine Politik der kleinen Schritte keine adäquate Antwort auf die Wandlungen im internationalen System ist? Idealtypisch gibt es drei denkbare, mögliche und wahrscheinliche Idealtypen,
Deutschland als Juniorpartner der USA
Grundlage der ersten Alternative ist die Annahme, dass die USA weiterhin die dominierende Macht im internationalen System bleiben werden. Europa wird aufgrund seiner internen Differenzen nicht zu einem eigenständigen Akteur in der internationalen Politik, wodurch sich für Deutschland die Frage stellt, wie es seine eigenen Interessen am besten durchsetzen kann. In dieser Situation schlagen einige Autoren vor, dass sich Deutschland im Rahmen der EU zu einem Befürworter einer Anlehnungsstrategie an die USA machen sollte (Arnulf Baring), mit dem Ziel Juniorpartner der Amerikaner zu werden. Europa würde den USA Legitimität verleihen und im Gegenzug die Möglichkeit des Einflusses auf amerikanische Außen- und Sicherheitspolitik erlangen. Diese Juniorpartnerschaft, so Stephan Bierling, sei der einzige Weg für Europa, um globalen Einfluss zu erlangen.
Dem Vorteil einer solchen Neuausrichtung deutscher Außen- und Sicherheitspolitik stehen jedoch massive Nachteile gegenüber, die ein solches Szenario als wenig wünschenswert erscheinen lassen. Zunächst einmal geht dieses Szenario davon aus, dass die Vereinigten Staaten im Kern ihres außen- und sicherheitspolitischen Handelns stets nur zum Vorteil des "Westens" im allgemeinen handeln. Dies erscheint jedoch im Hinblick auf die Politik der US-Administration unter George Bush jun. mehr als fragwürdig. Darüber hinaus würde eine solche Anlehnungsstrategie Deutschland und Europa in Konflikte hineinziehen, die möglicherweise nicht im deutschen oder europäischen Interesse liegen (z.B. Taiwan). Ferner verkennen Befürworter eines solchen Szenarios, dass Legitimität eine soziale Kategorie ist.
Deutschland als Großmacht
Angesichts der Schwäche bestehender multilateraler Institutionen im transatlantischen und europäischen Raum wäre eine weitere denkbare Alternative, dass Deutschland verstärkte Anstrengungen dahingehend unternimmt, seine eigene Machtposition in dem sich abzeichnenden multipolaren System der internationalen Politik auszubauen. Im Konzert der Mächte könnte die Bundesrepublik dann, je nach eigener Interessenlage, wechselnde Koalitionen mit den anderen Großmächten eingehen. Sie würde damit zur Mitgestalterin einer internationalen Ordnung werden, würde aber auch Gefahr laufen, zum "swing state" konkurrierender Großmächte zu werden.
Eine solche Option, würde sie denn ernsthaft verfolgt werden, hätte zunächst zwei Konsequenzen. Zum einen müsste die Bundesrepublik erhebliche finanzielle Ressourcen aufwenden, um ihre Streitkräfte zu einer regionalen (und ggf. auch globalen) Machtprojektion zu befähigen. Denn auch in der internationalen Politik des 21. Jahrhunderts wird nur derjenige ein mitbestimmender Teil eines multipolaren Systems sein, der über entsprechende militärische Fähigkeiten verfügt.
Auf europäischer Ebene hätte eine unilaterale Großmachtpolitik Deutschlands erheblich negative Konsequenzen. Sie würde unweigerlich zu einer europäischen Gegenmachtbildung gegen die Bundesrepublik führen, da sie bei fast allen Mitgliedstaaten der EU die Befürchtung einer deutschen Hegemonie über Europa nach sich ziehen würde. Da Deutschland aber auch heute noch zu klein ist, um eine Hegemonie auf dem europäischen Kontinent zu erringen, und zu groß, um ausbalanciert zu werden (Otto von Bismarck) würde eine solche Politik die Bundesrepublik nicht nur in ihrer Handlungsentfaltung hemmen, sondern auch den europäischen Kontinent auf Dauer paralysieren. Somit kann ein solches Szenario für die Zukunft deutscher Außen- und Sicherheitspolitik auch nicht wünschenswert sein.
Deutschland als (mit)führende europäische Macht
Das letzte Szenario, das eine Alternative für deutsche Außen- und Sicherheitspolitik darstellen könnte, knüpft an die Weiterentwicklung der EU an. Angesichts der Blockade, in der sich die Union seit geraumer Zeit befindet, könnte eine Pioniergruppe von Staaten (im Idealfall die Unterzeichnerstaaten der Römischen Verträge) vorangehen und dem Konzept der differenzierten Integration endlich konkrete Gestalt verleihen. Staaten, die politisch willens und fähig sind, sollten in einzelnen Politikbereichen ihre Verbindungen stärken, ohne dass sie von integrationsunwilligen Staaten daran gehindert werden können. Über ein solches Europa der variablen Geometrie würde sich dann (im besten Falle) ein Kern europäischer Staaten herausschälen, der in allen Politikbereichen der EU eine Vertiefung ihrer Beziehungen anstrebt.
Dieser Kern, der für andere Staaten potentiell offen sein muss, würde insbesondere im Bereich der Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik die EU nach außen (das heißt in der internationalen Politik) repräsentieren. Er würde die EU global handlungsfähig und zu einem verlässlichen Partner für andere Großmächte (und auch für die USA) machen. Zugleich würde damit auch die Voraussetzung geschaffen, an welcher der Bundeskanzlerin so viel liegt: eine "Stärkung [der] transatlantischen Sicherheitspartnerschaft."
Ein solches Szenario bedeutet jedoch nicht, dass die deutsche Außenpolitik gänzlich europäisiert würde. Deutschland hätte weiterhin die Möglichkeit, dort, wo seine Interessen nicht mit denen der anderen Staaten übereinstimmen, über sein Netz bilateraler Beziehungen nationale Politik zu betreiben. Wichtig ist jedoch festzuhalten, dass im Fall der Interessenkonvergenz zwischen Deutschland und den anderen Kern-Staaten in der EU Machtressourcen gebündelt werden könnten, um sie mit Gewicht in die internationale Politik einzubringen. Geht man davon aus, dass es im deutschen Interesse liegt, eine Mitgestaltungsrolle bei der Ausgestaltung der internationalen Beziehungen im 21. Jahrhundert zu erwirken, erweist sich letztlich diese dritte Alternative als die einzig realistische, die zugleich wünschenswert ist.