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Deutsche Außen- und Sicherheitspolitik im Rahmen der EU | Außen- und Sicherheitspolitik | bpb.de

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Deutsche Außen- und Sicherheitspolitik im Rahmen der EU

Stefan Fröhlich

/ 18 Minuten zu lesen

Von der Bundesrepublik wird zunehmend auch auf globaler Ebene die Übernahme einer Führungsrolle erwartet. Ihren Einfluss macht sie nach wie vor primär über EU und NATO geltend.

Einleitung

Auch wenn viele Beobachter es anders einschätzten: Das eigentliche Problem des Kurswechsels in der Außen- und Europapolitik unter der rot-grünen Koalition lag keinesfalls ausschließlich im politischen Stil und der Antikriegshaltung der Bundesregierung während des Irak-Krieges. Gewiss, die Methode, mit der Bundeskanzler Gerhard Schröder diesen Kurswechsel während dieser Krise einleitete und das transatlantische Verhältnis auf eine neue, gleichberechtigte Basis zu stellen suchte, entsprach kaum den gewohnten diplomatischen Usancen in den bilateralen Beziehungen. Doch sein am 13. September 2002 vor dem Parlament formulierter Anspruch, über die "existentiellen Fragen der deutschen Nation" - also auch und gerade über die Frage von Krieg und Frieden - in Berlin zu entscheiden, signalisierte das gewandelte Selbstverständnis der Republik und stellte es zugleich als logische und überfällige Konsequenz aus der fundamental geänderten weltpolitischen Lage Deutschlands und Europas seit dem Ende des Kalten Krieges und dem Zusammenbruch der alten Weltordnung dar.


Seit den Tagen Konrad Adenauers war zwar im europäischen Einigungsprogramm stets auch eine latente bis offene Ambivalenz gegenüber den USA angelegt. Immer waren die Regierungen aber gleichsam um einen annähernden Gleichklang zwischen Europa- und Amerikapolitik bemüht. Mit dem Zusammenbruch der alten Ordnung wurden jedoch zwangsläufig auch das Ende des transatlantischen Zeitalters und der Beginn einer neuen ordnungspolitischen Rolle Deutschlands in Europa eingeläutet. Auch wenn die anfängliche Furcht vor der dominanten Zentralmacht schon bald der Sorge um den kriselnden Patienten Europas wich, wurde von der Bundesrepublik nunmehr eben auf Grund ihrer geographischen Lage, Größe und Wirtschaftskraft umso mehr die Übernahme einer entsprechenden Führungsrolle als europäische Mittelmacht auch in globalen Fragen erwartet.

Nationale Interessen als globale Interessen

Wird Deutschland diesem Anspruch bislang gerecht? Und wenn ja, heißt dies, dass deutsche Außenpolitik damit zwangsläufig ziel- und interessenorientierter wird? Zu den vermeintlichen Paradoxien deutscher Außenpolitik gehört es zunächst, trotz völlig veränderter Rahmenbedingungen an den Leitlinien der erfolgreichen bundesdeutschen Außenpolitik festhalten zu wollen. Zu diesen Leitlinien im Sinne der normativen Vorgaben des Grundgesetzes zählen erstens das Ziel und Bemühen, zur Wahrung des internationalen Friedens beizutragen (was sich im verfassungsmäßigen Verbot von Angriffskriegen niederschlägt); zweitens das Eintreten für einen offenen, kooperativen Multilateralismus (verbunden mit der Bereitschaft, Hoheitsrechte auf zwischenstaatliche Einrichtungen zu übertragen); sowie drittens das Bekenntnis zur Wahrung und Verwirklichung der Menschenrechte, zu aktiver Entwicklungshilfe und dem Aufbau von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in der Welt. Bei genauer Betrachtung ist die Orientierung an diesen Grundlinien durchaus auch für die Zeit nach 1989/90 plausibel. Aus ihnen leitete die Bundesregierung im 1994 vorgelegten Weißbuch zur Sicherheitspolitik daher fünf zentrale, faktisch identische Interessen ab: die Bewahrung von Freiheit, Sicherheit und Wohlfahrt der Bürgerinnen und Bürger; die weitere Integration im Rahmen der Europäischen Union (EU); die Bewahrung der transatlantischen Interessen- und Wertegemeinschaft; der Ausgleich und die Heranführung der östlichen Nachbarn und die weltweite Achtung des Völkerrechts und der Menschenrechte bzw. eine auf marktwirtschaftlichen Regeln basierende gerechte Weltwirtschaftsordnung.

Allenfalls das transatlantische Verhältnis als Mittel zur Bestimmung des "deutschen Interesses" hat sich zwar nicht überholt, aber doch zumindest insofern relativiert, als sich die Grundlagen für die Beziehungen seit 1989/90 tatsächlich fundamental verändert haben. Die sonstige Bilanz der Regierungen Helmut Kohl und Gerhard Schröder sieht so aus, dass Deutschland nicht nur plausible Interessen formuliert, sondern durchaus auch (mit) durchgesetzt hat; dies gilt insbesondere für die Prozesse der Vertiefung und Erweiterung der EU, es gilt aber auch - bedingt - für die Beiträge auf dem Balkan, nachdem das Bundesverfassungsgericht 1994 den Weg frei gemacht hatte für "out-of-area"-Einsätze der Bundeswehr bei Zustimmung des Bundestages, sowie später zur Bekämpfung des internationalen Terrorismus und im Rahmen der Konsolidierung der Nachkriegsgesellschaft in Afghanistan. Warum bedingt? Leitlinien müssen nicht unbedingt deckungsgleich sein mit Zielen und Interessen; sie können aus dem jeweiligen Kontext heraus als Richtschnur dienen für eine durchaus flexible und anpassungsfähige Außenpolitik, die sich entweder ihrer eigenen Grenzen aufgrund des Machtpotenzials bewusst ist oder eben diese Selbstbeschränkung aus normativen Gründen zur Staatsraison erklärt. Interessen hingegen sind das, was außenpolitischen Entscheidungsprozessen als mehr oder weniger abstrakte Motivation der handelnden politischen Akteure zugrunde liegt. Im Idealfall sind sie nicht nur der institutionellen Machtkontrolle im Sinne des checks and balances unterworfen, sondern werden auch im Diskurs organisierter Interessen und gesellschaftlicher Akteure entwickelt. In jedem Fall aber beinhalten sie ein aktives Eintreten zur Umsetzung der mit ihnen verbundenen Ziele.

Die Frage ist nur: Inwieweit sind die aus den globalen Herausforderungen und Bedrohungszusammenhängen heraus formulierten Interessen tatsächlich plausibel und angemessen im Sinne einer für Deutschland unmittelbaren Betroffenheit? Oder ist die deutsche Außenpolitik mit der sukzessiven Ausweitung ihres geostrategischen Aktionsradius zur Unterstützung von internationalen Friedensmissionen dazu übergegangen, deutsche Interessen stillschweigend mit globalen Interessen gleichzusetzen? Die heutige Beteiligung der Bundeswehr an dem so genannten Hybrideinsatz von Vereinten Nationen (UN) und Afrikanischer Union in Darfur, an den UN-Militärbeobachtermissionen in Südsudan (Unmis), Georgien (Unomig) und Äthiopien (Unmee) sowie an der UN-Truppe im Libanon (Unifil), schließlich das deutsche Engagement in den NATO-geführten Missionen unter UN-Mandat im Kosovo (Kfor, 2230 Soldaten) und in Afghanistan (Isaf, derzeit 3825 Soldaten), unterstreichen zwar den Willen zur Übernahme von globaler Verantwortung, zeugen aber von diesem Dilemma. In einer Welt, in der sich plausibel Szenarien konstruieren lassen, in denen asymmetrische (vor allem terroristische) Bedrohungen, damit verbundene Prozesse des Staatszerfalls und der Auflösung von Macht auch die deutsche Sicherheit bedrohen (können), wird es zunehmend schwieriger, außenpolitische Prioritäten zu definieren und die internationale Ordnung im Sinne eigener Interessen zu beeinflussen. Dies gilt gleichermaßen für andere Staaten, deren Interessen in der Regel identisch oder kompatibel mit denen Deutschlands sind und die, selbst im Falle der USA, ebenso wenig in der Lage sind, diese autonom durchzusetzen.

Das Ergebnis ist, dass sich auf diese Weise die deutschen Interessen an sicherheitspolitischen Zielen orientieren, anstatt umgekehrt. Eben dies verrät der Hinweis des neuen Verteidigungsweißbuchs aus dem Jahr 2006, wonach die Bundeswehr als Armee im Einsatz definiert und für die Wahrnehmung deutscher Interessen die permanente Berücksichtigung der Entwicklung in "Gemeinschaften und Bündnissen", also des globalen "Gemeinwohls" gefordert wird. Mit anderen Worten: Auch in Ländern, in denen Deutschland keine vertraglich verankerten Beistandsverpflichtungen hat, gilt es, Gefährdungen der Staatengemeinschaft mit deutscher Unterstützung abzuwenden. Deutsche Interessen sind demnach identisch mit dem Schutz der Staatengemeinschaft; daran ändert auch die Einschränkung nichts, wonach bei jedem Militäreinsatz zuvor zu klären ist, inwieweit deutsche Interessen den Einsatz erforderlich machen. Legitimiert wird diese Interpretation von dem neuen völkerrechtlichen Konzept der Schutzverantwortung ("responsibility to protect"), welches weder ein Konzept des Westens oder des Nordens ist noch im Widerspruch zur nationalen Souveränität steht.

Unabhängig davon zwingen die Rechtfertigungsnöte, die aus dieser Unsicherheit im internationalen System heraus entstehen, die deutsche Außenpolitik zunehmend zu einem stärkeren Kosten-Nutzen-Denken. Bedingt durch eine mehrheitlich kritische Öffentlichkeit in Bezug auf die deutsche Beteiligung an Militäreinsätzen hat Deutschland sein finanzielles Engagement in Krisengebieten mittlerweile erheblich reduziert. Anders als in den 1990er Jahren, in denen zweistellige Milliardenbeträge an die Bündnispartner zum Ausgleich für militärisches Fernbleiben vom Golfkrieg gezahlt wurden, leistet die Bundesrepublik heute für die Stabilität insbesondere im "Größeren Mittleren Osten" finanziell bedeutend weniger. Trotz der Proliferation von Krisenherden und der Zunahme der deutschen Beteiligung an UN-Friedensmissionen sind die finanziellen Grundlagen der Bundeswehr seither real um etwa ein Drittel geschrumpft. Unter dem Druck internationaler Forderungen, sich bei Auslandseinsätzen stärker zu engagieren, auch militärische Risiken in Kauf zu nehmen, ist somit von der Mentalität eines "Klientelstaates" in der offiziellen Außenpolitik nicht mehr viel übrig geblieben. Und hinter aller Idealisierung der UN während des Irak-Krieges verbarg sich zumindest unterschwellig die machtpolitisch begründete Intention der Bundesregierung, nicht nur an weltpolitischen Entscheidungen mitwirken zu können, sondern auch über die Form und die Mittel des Einsatzes mitzubestimmen. Hinter diesen Anspruch konnte auch die Große Koalition und wird wohl auch jede künftige Regierung nicht mehr zurücktreten.

Rückwirkungen auf die Europapolitik

Dies gilt auch auf europäischer Ebene: Gerhard Schröder hatte sich bereits vor dem EU-Gipfel in Nizza im Jahr 2000 das französische Konzept von der "Macht Europa" ("Europe puissance") zu eigen gemacht und für eine gemeinsame europäische Antwort auf die globalen Herausforderungen in Form verstärkter deutsch-französischer (und nach Möglichkeit eben auch erweiterter intergouvernementaler) Anstrengungen bei der sicherheits- und verteidigungspolitischen Kooperation plädiert. Eine Entsprechung fand dieser verstärkte, erweiterbare Bilateralismus auf gesamteuropäischer Ebene durch Berlins starke Personalisierung vor allem der Russland-Politik in dieser Phase. Mit dieser doppelten Fixierung auf die "Großen", welche im Falle Frankreichs durch die Beschädigung der deutsch-amerikanischen Beziehung geradezu zwangsläufig verstärkt wurde, weckte die Regierung nicht nur unter "Altmitgliedern" wie Italien, Spanien oder Großbritannien, sondern auch und vor allem bei den "Neumitgliedern" größtes Unbehagen und historisch belastete Assoziationen. Die Angst vor einem deutsch-französischen Direktorium, das in Europa die Richtung vorgeben wolle, und einer möglichen Verlängerung der Achse nach Moskau, wie sie sich im Irak-Konflikt abzeichnete, löste unter den mittel- und osteuropäischen Ländern antihegemoniale Reflexe aus - erst recht, als das exklusive deutsch-russische Vorhaben einer gemeinsamen Gasleitung durch die Ostsee bekannt wurde. Auch in Washington gab es den Verdacht, Paris und Berlin arbeiteten an einer Gegenpolbildung zur amerikanischen Macht. Befördert wurden solche Bedenken durch das Bestreben der Bundesregierung, in den Verhandlungen zum Vertrag über eine Verfassung für Europa die Rolle Deutschlands in der EU zu stärken. Mit der Idee der Aufwertung des Europäischen Rates und des Prinzips der "doppelten Mehrheit" für Mehrheitsvoten im Ministerrat entstand der Eindruck, dass Deutschland gemeinsam mit Frankreich und Großbritannien versuche, die Kommission faktisch als verlängerten Arm des Europäischen Rates zu instrumentalisieren. Die Bundesregierung knüpfte damit an ihre Grundhaltung während der ersten deutschen Ratspräsidentschaft an, als sie ihre Amtszeit mit Forderungen nach einer Reduzierung des deutschen EU-Haushaltsbeitrages begann, die Altautorichtlinie ein halbes Jahr lang blockierte und deutsche Europaparlamentarier unter Druck setzte, die seit elf Jahren vorbereitete Übernahmerichtlinie abzulehnen.

Die Große Koalition versuchte nun dieses Bild von einer zu sehr an den nationalen Interessen ausgerichteten Außen- und Europapolitik, welche Deutschland bisweilen in den Rang eines gleichberechtigten Akteurs im Konzert der Großmächte erhoben hatte, zu korrigieren. Zu den vordringlichsten Aufgaben gehörte zunächst die Verbesserung der transatlantischen Beziehungen. Bundeskanzlerin Angela Merkel bekundete bei ihrem Antrittsbesuch in Washington die Bereitschaft zu einem Neuanfang, aber auch den Willen, nicht in eine Position der bedingungslosen Gefolgschaft zurückzufallen. Ebenso löste sich die Große Koalition aus der nahezu vorbehaltlosen Frankreich-Fixiertheit und dem Bilateralismus mit Moskau. Das Ergebnis dieses vorsichtigen Kurswechsels ist ambivalent: In dem Maße, wie Frankreich sich nicht (mehr) auf die bedingungslose Unterstützung Berlins verlassen kann, wächst der Handlungsspielraum für die Bundesregierung gegenüber den kleinen und mittleren Staaten und muss auch Frankreich diplomatisch beweglicher werden. Die Bundesregierung anerkennt damit zumindest wieder zwei wesentliche Grundprinzipien für den Erfolg des europäischen Einigungsprozesses. Erstens: deutsche außenpolitische Interessen ließen sich immer dann "verkaufen", wenn sie als europäische definiert wurden. Zweitens: der deutsch-französische Motor war immer dann erfolgreich, wenn beide Seiten zu einem Kompromiss finden mussten und nicht der eine bedingungslos dem anderen folgte. Die behutsam vorgetragene Kritik an Jacques Chiracs neuer Nukleardoktrin, die Distanzierung von der auch von der Wählerschaft in Frankreich ganz offensichtlich verworfenen EU-Vollmitgliedschaft der Türkei, die weniger vorbehaltlose Unterstützung der längst überholten Agrarpolitik Frankreichs (trotz der im Koalitionsvertrag geäußerten Versicherung, die Zusagen aus dem Agrarkompromiss vom Oktober 2002 nicht in Frage stellen zu wollen) sowie die ersten deutlichen Anzeichen für den Einsatz in Richtung einer NATO-kompatiblen gemeinsamen Sicherheitspolitik der EU signalisierten die Absage an einen gaullistischen Kurs und den Willen zur Rückkehr zu einer insgesamt flexibleren Europapolitik. Gleichzeitig gelang es der Großen Koalition, die sonstigen Differenzen in ein insgesamt milderes Licht zu tauchen - beginnend bei der Frage der Lösung der Verfassungskrise über die Dienstleistungsrichtlinie bis hin zum französischen Wunsch nach steuerlichen Sonderregelungen für einzelne Berufsgruppen. Vorstellungen von Europa als eigenständiger Macht, die versucht, die Übermacht der USA auszugleichen, trat die Regierung damit deutlich entgegen.

Auf der anderen Seite aber hatte der vorübergehende Einsatz der Bundesregierung für den Verfassungsvertrag und eine Fortführung des Ratifizierungsprozesses über das Jahr 2006 hinaus wohl eher Symbolcharakter und diente vor allem als Signal, dass wieder stärker mit einem deutschen Engagement für Europa und für die Vertiefung der Integration zu rechnen sei. Der Vertrag von Lissabon würde die Union aus der Sicht Berlins zwar insgesamt effizienter machen, da in vielen Fällen der Zwang zur Einstimmigkeit wegfiele und Kommission und Parlament verkleinert würden. Zudem erhielte die EU einen auf zweieinhalb Jahre ernannten Ratspräsidenten sowie einen Hohen Repräsentanten für die Außenpolitik. Aber das Prinzip der "doppelten Mehrheit", das allerdings erst in den Jahren 2014 bis 2017 wirksam sein soll, würde den Machtzuwachs der Vertreter der drei Großen (Frankreich, Deutschland und Großbritannien) bei der Herstellung von qualifizierten Mehrheitsbeschlüssen weiter verstärken und den Ministerrat als intergouvernementales Organ der Union als eigentliche Machtzentrale der Gemeinschaft belassen. Bei allem Bekenntnis zu europäischem Engagement hält somit auch die Bundesrepublik heute eine nüchterne Perspektive für den weiteren Vertiefungsprozess parat: Da weitere große Integrationssprünge derzeit nicht gewünscht werden, betreibt sie eine pragmatische Politik der kleinen Schritte und notwendiger Korrekturen. Dies gilt im Übrigen auch für die EU-Erweiterung.

Deutschlands Beitrag im Rahmen der GASP und ESVP

Während das Projekt eines bundesstaatlichen, föderalen Europas zumindest vorläufig aufgegeben scheint, vertraut die Bundesregierung in dem zentralen Politikbereich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) und der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) offensichtlich auf ein Mehr an Integration und Zusammenarbeit - ohne am Anspruch auf nationale Souveränität in diesem sensiblen Politikfeld zu rütteln. Jedenfalls plädieren die beiden großen Volksparteien explizit für eine Präzisierung und Einbettung des militärischen Instrumentariums der deutschen Sicherheitspolitik in den Gesamtzusammenhang der GASP. In dem Maße, wie sich nach 1989/90 die Parameter für die deutsche Außenpolitik verändert hatten, wandelte sich auch das Leitbild für europäisches Handeln auf der internationalen Bühne. Die bis dato gültige Idee von der Zivilmacht Europa, die eher kurzfristig reagiert, ist zwar heute nicht überholt, wird aber zusehends ergänzt durch den Anspruch einer (zumindest) regionalen Großmacht mit aktivem globalen Gestaltungswillen. Voraussetzung für diese Entwicklung war auch aus Sicht Berlins die Flexibilisierung der GASP durch die deutsch-französische Kooperation. Diese war zwar nicht mit einer Aufgabe der traditionellen deutschen Vermittlerrolle gegenüber Washington zwischen französischem Unabhängigkeitsanspruch und britischem NATO-Primat verbunden, wohl aber mit der erwähnten Aufhebung einer Politik der Äquidistanz zugunsten einer "europäischen" Lösung in der Frage nach der Gestaltung der GASP/ESVP. Mit anderen Worten: Die europäische Integration war und ist keine Alternative, sondern die Voraussetzung für eine Partnerschaft Europas mit den USA. Mit dieser Sichtweise von einem hinreichend unabhängigen und eigenständigen europäischen Pfeiler hatten sich die deutsche und französische Position in dieser Frage erheblich angenähert - und zwar von Berlin in Richtung Paris.

Deutschland hat auf diesem Weg unter allen Regierungen seit der Wiedervereinigung entsprechend deutlichere Akzente bezüglich der Ausgestaltung der GASP/ESVP gesetzt. Es folgte damit zum einen der Erkenntnis, dass die GASP und ESVP echte Alternativen zu einzelstaatlichen Initiativen darstellen, zum anderen der Einsicht, dass die EU - bedingt dadurch, dass Europa seinen Status als herausragendes Handlungsfeld der USA verloren hat - mehr denn je gezwungen ist, sich eigenständig zu positionieren. Bereits unter Helmut Kohl folgte die deutsch-französische Gründung des Eurokorps (1992) der Idee der differenzierten Integration. Vier Jahre später unterbreiteten die damals zuständigen Außenminister Klaus Kinkel und Hervé de Charette im Vorfeld der Amsterdamer Regierungskonferenz den Vorschlag einer "verstärkten Zusammenarbeit" auf dem Gebiet der GASP und die Idee, dass der Europäische Rat vorrangige Bereiche der GASP ("Gemeinsame Strategien") definieren könne, die schließlich im Ministerrat mit qualifizierter Mehrheit umgesetzt würden. Dieser Vorschlag ging gleichsam auf eine Initiative Kohls und Chiracs vom Dezember 1996 zurück; weder Frankreich noch Großbritannien waren bereit, in ähnlicher Weise zu einer Stärkung der GASP beizutragen. Darüber hinaus akzeptierte die Bundesrepublik in dieser Phase Frankreichs Vorschlag der Einsetzung eines Hohen Repräsentanten für die Außenpolitik, der wiederum den intergouvernemental organisierten Rat stärken würde.

Mit ihrer Politik signalisierte die Bundesrepublik die Hinwendung zu einem pragmatischen Ansatz, der dem integrationspolitischen Ideal einer vertieften außen- und sicherheitspolitischen Zusammenarbeit aller Mitgliedstaaten zwar weiter verpflichtet blieb, bei dem es aber zunächst um eine Stärkung der Handlungsfähigkeit der EU als internationalem Akteur ging. Da diese aufgrund der unterschiedlichen Interessen der Mitgliedstaaten nicht in einem größeren Rahmen möglich war bzw. ist, orientierten sich alle Bundesregierungen bis zum Gipfel von Nizza und darüber hinaus an den Ideen einer flexiblen Integration - allerdings nach Möglichkeit im Rahmen der bestehenden Verträge und nicht im Sinne unkoordinierter Initiativen verschiedener Gruppen von Mitgliedstaaten. Auch während der Verhandlungen zum Verfassungsvertrag blieb diese Linie eines "rationalisierten Intergouvernementalismus" ein zentrales Anliegen Berlins - und zwar auch und besonders im Bereich der Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Dieser im Rahmen der Konventsverhandlungen formulierte Anspruch war selbstverständlich Ausfluss des erwähnten generellen Richtungswechsels in der deutschen Außenpolitik seit Mitte der 1990er Jahre. Von diesem Zeitpunkt an legten die Ereignisse auf dem westlichen Balkan geradezu zwangsläufig auch in der Bundesrepublik eine stärkere Berücksichtigung des militärischen Instrumentariums nahe. Mit der Einigung der Mitgliedstaaten auf die ESVP 1998/99 und mit der deutschen Beteiligung am militärischen Einsatz der NATO im Kosovo als Konsequenz der lang anhaltenden Debatte über "out-of-area"-Einsätze der Bundeswehr hatte die Bundesrepublik endgültig ihre "zivile Unschuld" verloren. Und mit der gewählten Losung von der "humanitären Intervention" ließ sich am Ende sogar der grüne Koalitionspartner, der ursprünglich ein UN-Mandat gefordert hatte, von dem Einsatz überzeugen. Von da an verstärkten sich die deutschen Anstrengungen - wiederum im Verbund mit Frankreich -, die sicherheits- und verteidigungspolitische Zusammenarbeit in Europa voranzutreiben. Nach der maßgeblich von Paris und Berlin betriebenen Übernahme der so genannten Petersberg-Aufgaben der Westeuropäischen Union (WEU) hat die EU seit 1999, getragen von steigenden Zustimmungswerten zu einer aktiven gemeinsamen Außenpolitik, zahlreiche sicherheitspolitische Beschlüsse gefasst und schrittweise verwirklicht - auch, was den Aufbau eigenständiger Krisenreaktionskräfte betrifft.

Nachdem das ursprüngliche Ziel des Aufbaus Europäischer Streitkräfte von 60 000 Mann bis 2003 im Grunde gescheitert war, war es vor allem der Initiative Berlins zu verdanken, dass die Forderungen nach einer starken sicherheits- und verteidigungspolitischen Rolle der EU bei dem umstrittenen Treffen der Staats- und Regierungschefs Belgiens, Deutschlands, Frankreichs und Luxemburgs am 29. April 2003 in Brüssel ("Pralinengipfel") wieder aufgegriffen wurden. Im Kern ging es um die Einrichtung einer Zelle (oder wie Kritiker meinten, eines EU-Hauptquartiers) im belgischen Tervuren zur kollektiven Planung und Führung autonomer Einsätze der Union. Mit einer solchen verband sich nicht nur die Idee einer Avantgardegruppe für die ESVP, sondern auch die Vorstellung von einer größeren Unabhängigkeit von den USA. Entsprechend spaltete der Vorschlag die EU-Mitgliedstaaten und drohte auch die NATO zu schwächen. Dass Berlin daraufhin wieder zugunsten von Planungs- und Kommandostrukturen innerhalb des Bündnisses einlenkte, zeigte, wie sehr die Überlegungen zunächst von den erheblichen Irritationen im transatlantischen Verhältnis und innerhalb der Gemeinschaft im Zusammenhang mit der Irak-Krise geprägt waren.

Am Ende einigte sich die EU auf dem Brüsseler Gipfel im Dezember 2003 auf einen von Deutschland und Frankreich gemeinsam mit Großbritannien präsentierten Vorschlag zur Einsetzung einer kleinen Zelle mit zivilen und militärischen Komponenten innerhalb des bereits bestehenden EU-Militärstabs. Damit signalisierte die Union den Willen, zumindest auf dem Weg zu einer größeren Eigenständigkeit auf militärischem Gebiet fortzufahren - vorübergehend auch auf Kosten der Geschlossenheit der EU insgesamt. Dieser Prozess könnte vor allem durch die zunehmende Kooperation der drei Großen beschleunigt werden, wie sie sich auch bei der Initiative Frankreichs und Großbritanniens Anfang 2004 zur Aufstellung so genannter "battle groups" abzeichnete. Mittlerweile beteiligen sich daran 18 von 27 Mitgliedstaaten, was zeigt, dass die im neuen Reformvertrag vorgesehene "strukturierte Zusammenarbeit" auch in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik bereits praktiziert wird. Berlin schloss sich diesem Konzept umgehend an und plädierte in diesem Zusammenhang für eine Umschichtung der europäischen Rüstungsausgaben zugunsten kleinerer und mobilerer Eingreiftruppen in den Mitgliedstaaten. Damit bestätigte die Bundesregierung lediglich den seit Anfang des Jahrhunderts erkennbaren Trend zu einer weltweiten Präsenz der Bundeswehr.

Begleitet wird diese zunehmende europäische Selbstbehauptung und "Balancepolitik" (Werner Link) von einer längst praktizierten Eigenständigkeit der Union im politisch-diplomatischen Bereich, deren konzeptioneller Rahmen sich in der Europäischen Sicherheitsstrategie vom Dezember 2003 ablesen lässt. Dies geschieht in weitgehender Kongruenz zur Nationalen Sicherheitsstrategie Washingtons bezüglich der Benennung der (geo)strategischen Interessen bzw. Herausforderungen, aber doch mit deutlich unterschiedlichen Akzenten hinsichtlich der ordnungspolitischen Vorstellungen und Instrumente. Auch hier gilt, dass diese Eigenständigkeit in nahezu allen Bereichen von Berlin unterstützt wird - ob im Dauerkonflikt mit Iran, wo Deutschland gemeinsam mit Frankreich und Großbritannien mit Unterstützung des Hohen Vertreters der GASP im Namen der Gesamt-EU diplomatisch handelt und verhandelt, ob im Rahmen der Balkan-Kontaktgruppe, der Somalia-Kontaktgruppe, oder im Rahmen des Nahost-Quartetts. Entsprechend wachsen die Sorgen in Washington, dass durch Deutschlands Abkehr von der traditionellen Mittlerrolle die transatlantischen Spannungen weiter zunehmen könnten - gleichwohl jede Bundesregierung eine solche Abkehr selbstverständlich lautstark dementieren würde. Wie immer man diesen Spagat bewerten mag, fest steht, dass gerade die Entwicklung der GASP und ESVP (von der Zivilmacht zur Zivilmacht mit militärischen Mitteln) ganz untrennbar mit der Entwicklung der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik verbunden ist. Für beide gilt, dass sie heute ihre Interessen wesentlich deutlicher benennen, als sie dies noch vor einem Jahrzehnt getan haben, und ganz unbestritten liegt die Zukunft der deutschen Außenpolitik in Europa.

Ausblick

Nach wie vor gilt, dass deutsche Außenpolitik ihren internationalen Einfluss primär über die EU und das NATO-Bündnis vermittelt. Auch künftig lässt sich das Problem der "kritischen Größe" Deutschlands am besten über das Schicksal der Union lösen. Allerdings ist Berlin auch zusehends bemüht, die Grenzen eigener oder deutsch-französischer Initiativen - der Irak-Krieg hat dies deutlich gemacht - auszuloten. Europäisches Engagement wird nun einmal im Wettstreit nationaler Interessen innerhalb der Union bestimmt. Bei den daraus abgeleiteten Kompromissen wird der Einfluss deutscher Akzente gemäß des größer gewordenen diplomatischen Gewichts der Bundesrepublik - ähnlich wie im Falle der Wirtschafts- und Währungsunion - auch im Rahmen der GASP/ESVP geradezu zwangsläufig zunehmen. Insofern wird es für die Bundesrepublik darauf ankommen, der wachsenden Skepsis hinsichtlich weiterer Vertiefungsschritte der EU in der Gesellschaft zumindest vorläufig durch eine verstärkte strategische und problemorientierte Zusammenarbeit im kleineren Kreis zu begegnen, bei der sich durchaus auch die eigenen Interessen widerspiegeln.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Hanns Maull (ed.), Germany's uncertain Power. Foreign Policy of the Berlin Republic, Houndsmills 2006.

  2. Vgl. ders., Nationale Interessen! Aber was sind sie?, in: Internationale Politik (IP), (2006) 10, S. 62-76.

  3. Vgl. Bundesministerium der Verteidigung, Weißbuch 1994, Bonn 1994, S. 42.

  4. Vgl. August Pradetto, Ganz und gar nicht ohne Interessen. Deutschland formuliert nicht nur klare Ziele. Es setzt sie auch durch, in: IP, (2006) 1, S. 114-121.

  5. Vgl. Bundesministerium der Verteidigung, Weißbuch 2006 zur Sicherheitspolitik Deutschlands und zur Zukunft der Bundeswehr, Berlin 2006, S. 14.

  6. Zur kritischen Haltung der Bevölkerung und zum Problem der fehlenden Kommunikation durch die politischen Eliten vgl. Thomas Bauer/Sarah Seeger, Politische Kommunikation zwischen politischen Eliten und Bevölkerung - Leitfaden für eine sicherheitspolitische Debatte in Deutschland, CAP Analyse, (2008) 1.

  7. Vgl. Jochen Thies, Dabei ohne Debatte. Plädoyer für einen außen- und sicherheitspolitischen Diskurs in Deutschland, in: IP, (2007) 2, S. 111.

  8. Vgl. Franz-Josef Meiers, Zu neuen Ufern? Die deutsche Sicherheits- und Verteidigungspolitik in einer Welt des Wandels 1990-2000, Paderborn 2006, S. 329ff.

  9. Zu diesem Befund, so bilanziert Hellmann, kommt im Großen und Ganzen das ganze Spektrum "vom rechts-konservativen Lager bis zur Linken". Vgl. Gunther Hellmann, "...um diesen deutschen Weg zu Ende gehen zu können." Die Renaissance machtpolitischer Selbstbehauptung in der zweiten Amtszeit der Regierung Schröder-Fischer, in: Christoph Egle/Remut Zohlnhöfer (Hrsg.), Ende des rot-grünen Projektes. Eine Bilanz der Regierung Schröder 2002-2005, Wiesbaden 2007, S. 453 - 479.

  10. Vgl. Gerald Schneider/Stefanie Bailer, Mächtig, aber wenig einflussreich: Ursachen und Konsequenzen des deutschen Integrationsdilemmas, in: Integration, 25 (2002) 1, S. 49-60.

  11. Vgl. Stefan Fröhlich, Außenpolitik: Mehr als nur ein Stilwechsel?, in: Roland Sturm/Heinrich Pehle (Hrsg.), Wege aus der Krise? Die Agenda der zweiten Großen Koalition, Opladen 2006, S. 221-238; Hartmut Marhold, Deutsche Europapolitik nach dem Regierungswechsel 2005, in: Integration, 29 (2006) 1, S. 3-22.

  12. Vgl. Gunther Hellmann, Deutschland, Europa und der Osten, in: IP, (2007) 3, S. 21-28.

  13. Vgl. Bernhard Rinke, Die beiden großen deutschen Volksparteien und das "Friedensprojekt Europa": Weltmacht, Zivilmacht, Friedensmacht?, Baden-Baden 2006.

  14. Zum Begriff des "rationalisierten Intergouvernementalismus" vgl. Wolfgang Wessels, Europapolitik in der wissenschaftlichen Debatte, in: Werner Weidenfeld/Wolfgang Wessels (Hrsg.), Jahrbuch der Europäischen Integration 2003/04, Baden-Baden 2004, S. 27-38; Janis Emmanouilidis, Der Weg zu einer neuen Integrationslogik: Elemente flexibler Integration in der Europäischen Verfassung, in: Werner Weidenfeld, Die Europäische Verfassung in der Analyse, Gütersloh 2005, S. 149-172.

  15. Vgl. John Hulsman/Jan Techau, Zu hohe Erwartungen? EU-Vorsitz und G-8-Vorsitz 2007, in: IP, (2007) 1, S. 16-25.

  16. Vgl. Franco Algieri, Deutsche Außen- und Sicherheitspolitik im europäischen Kontext, in: Thomas Jäger/Alexander Höse/Kai Oppermann (Hrsg.), Deutsche Außenpolitik, Wiesbaden 2007, S. 106 - 122, hier S. 115.

  17. Vgl. Stefan Fröhlich, Die Europäische Union als globaler Akteur, Wiesbaden 2008.

Dr. phil. habil, geb. 1958; Professor für Internationale Politik an der Universität Erlangen, Kochstraße 4, 91054 Erlangen.
E-Mail: E-Mail Link: snfroehl@phil.uni-erlangen.de