Einleitung
Außen- und Sicherheitspolitik haben für Deutschland heute nur noch zweitrangige Bedeutung. In den fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts wurde erbittert um Konrad Adenauers Westpolitik gekämpft: Was ist unser Hauptziel, Sicherheit oder Wiedervereinigung? Beim einen ging es um die Existenz der Bundesrepublik, beim anderen um die Kernfrage der Nation. In den sechziger und siebziger Jahren wurde ebenso erbittert um Willy Brandts Ostpolitik gekämpft: Wie halten wir es mit dem Osten? Gehen wir auf Konfrontation, um ihn niederzuzwingen, oder suchen wir die Kooperation, um das Mögliche möglich werden zu lassen. Beide Auffassungen lebten von der Überzeugung, nur so könne die Einheit Deutschlands gerettet werden. Danach gab es keinen grundsätzlichen Streit mehr, aber die Sorge um Frieden und Sicherheit hielt an, bis der Ost-West-Konflikt ein Ende fand.
Die Außen- und Sicherheitspolitik der Berliner Republik kennt keinen existenziellen und keinen grundsätzlichen Streit mehr, denn Deutschland ist vereint und sicher. Es ist von Freunden "umzingelt", auch unsere Nachbarn im Osten gehören der NATO an, und das Äußerste, was von Russland befürchtet wird, ist ein erpresserisches Zudrehen des Gashahns. Was immer sich im Kaukasus entwickelt, die Sicherheit Deutschlands berührt es nicht. Der Raketenabwehrschirm, den die Amerikaner in Polen und Tschechien aufspannen wollen, soll Gefahr aus Iran oder gar Nordkorea suggerieren, aber das nimmt kein denkender Mensch ernst.
Die jüngste Geschichte seit dem Ende des Kalten Krieges hat Deutschland in eine Lage gebracht, in der es noch nie war: Es hat keinen Krieg zu befürchten, und ihm droht, soweit man vorausdenken kann, auch künftig keine militärische Gefahr. Jedenfalls ist dies allgemeine Überzeugung, sonst würde die Bundeswehr nicht von einer Verteidigungsarmee zur Interventionstruppe umgebaut. Außen- und Sicherheitspolitik werden daher von keiner Notwendigkeit im strengen Wortsinn diktiert, sind also weniger dringlich als früher und können sich auch Aufgaben zuwenden, die weniger dringlich sind. Konfliktvermittlung auf anderen Kontinenten, Rechtsstaat-Beratung, Demokratie-Empfehlung, Aufbauhilfe in zerfallenden Staaten und immer wieder Anmahnung der Menschenrechte - um all das kann sich nur sorgen, wer keine eigenen Sorgen hat oder Weltmacht ist wie die Vereinigten Staaten. Eine Außenpolitik ohne Notwendigkeit verfällt leicht in Beliebigkeit. Sie bedarf, so scheint es, keiner strategischen Planung und wird von Fall zu Fall entschieden. Dafür erlaubt sie der Regierung, innenpolitische Schwächen durch außenpolitische Erfolge auszugleichen, die den Wählern gefallen.
Die Last der Geschichte
Immer noch weiterwirkend ist die historische Last des Nationalsozialismus. Nach Hitler war erstes Gebot für alle Deutschen, jeder Gewalt- und Machtpolitik abzuschwören und sich in übernationale Gemeinschaften einzufügen. Nur mit Vorsicht und Rücksicht konnte die junge Bundesrepublik Gleichberechtigung und, noch wichtiger, gleiche Achtung erwerben. Das ist lange erreicht. Geblieben aber ist dreierlei. Einmal die Pflicht für jeden Politiker und Diplomaten, sich bewußt zu halten, dass er oder sie ein Land vertritt, das einmal der Schrecken der Welt war. Der französische Satz "Wir können vergessen, wenn ihr nicht vergesst", gilt immer noch. Zum anderen blieb die konsequente Beschränkung auf friedliche Ziele und Methoden. Schließlich erhielt sich ein Treueverhältnis zur Vor- und Schutzmacht Amerika, das im Kalten Krieg stärker begründet war und deshalb dauerhafter ist als die Loyalität anderer europäischer Staaten. Vierzig Jahre Gewohnheit, dass da einer ist, der schützt und daher Dankbarkeit und Folgsamkeit erwartet, verlieren sich nicht so schnell.
All das tat seine Wirkung. Noch nie in der Geschichte ist deutsche Außenpolitik mit so viel Maß, Vernunft und gutem Willen geführt worden. Der "Zivilgesellschaft" im Inneren entspricht eine zivile, möglichst zivilisierte Außenpolitik. Sie wahrt die eigenen Interessen, besonders die wirtschaftlichen, engagiert sich überzeugend in und für Europa, beschränkt sich in der übrigen Welt auf Dialog, Verhandlung, Vermittlung und erlaubt als äußerstes Mittel Sanktionen. Bei alledem bleibt sie sich ihrer Grenzen als Mittelmacht bewusst und weiß, was nur die Großmacht Amerika schafft, und dass nicht Deutschland, sondern nur Europa Gewicht in die Weltpolitik bringen kann. Ihr Ehrgeiz richtet sich, wie bei den meisten Europäern, nicht mehr auf Macht, sondern auf Einfluss, sie will nicht bestimmen, aber mitbestimmen. Das unterscheidet sie von den Vereinigten Staaten wie auch von Russland und den aufstrebenden Staaten Asiens.
Weder deutsche noch europäische Außenpolitik können daher Vorbild für die neuen Mächte sein, denn die wollen Macht, weit mehr als sie zugeben.
So sind die Deutschen heute braver als andere und trauen sich weniger. Sie wollen immer nur bei den Guten sein und, wenn irgend möglich, nur Gutes tun. Außenpolitik erscheint vielen, bis in den Bundestag, als eine karitative Veranstaltung. Es hat lange gedauert, bis man wagte, öffentlich von Interessen zu reden; Politiker, meist auch Journalisten und Wissenschaftler, meiden den Schlüsselbegriff aller Politik, die Macht.
Hier rückt ein weiteres, historisch verursachtes, Element in den Blick: ein durch und durch pazifistisches Volk. In den ersten Jahrzehnten nach 1945 dominierten die Generationen, die den Zweiten Weltkrieg erlebt hatten und deshalb alles scheuten, was auf Militär und Krieg auch nur hindeutete. Seit dem Beginn des neuen Jahrhunderts bestimmen die Generationen Denken und Maßstäbe, die nichts erlebt haben außer scheinbar ewigem Frieden und sich kaum vorstellen können, dass künftig einmal nicht mehr Frieden sein soll. Vom Schicksal gebeutelte und vom Schicksal verwöhnte Jahrgänge - für die Nachkriegs-Deutschen blieb alles, was nach Militär, Waffen und Gewalt aussah, gefährlich, unmoralisch und verächtlich. Nur als Verteidigungsarmeen waren Bundeswehr und Nationale Volksarmee seinerzeit durchzusetzen. Die DDR führte die allgemeine Wehrpflicht erst ein, als die Mauer gebaut war und keiner mehr weglaufen konnte. Im Westen hieß die stärkste Parole damals "Ohne mich" - etwas gemildert gilt sie für die große Mehrheit noch heute, wenn deutsche Soldaten kämpfen sollen.
Auch die politische Klasse gehört jetzt den Jahrgängen an, die den Zweiten Weltkrieg nur noch aus Erzählungen und Büchern kennen; selbst die entbehrungsreichen Aufbauzeiten haben die meisten nur als Kinder oder gar nicht erlebt. Ihre Vertreter stehen unter dem politischen Druck der NATO und dem moralischen der Vereinten Nationen, müssen über Militäreinsätze entscheiden, aber können keine Vorstellung davon haben, was Krieg ist, was sie den Soldaten zumuten können und was sie ihnen ersparen müssen. Vor allem sehen sie sich einer Nation gegenüber, die bei der nächsten Wahl zu bestrafen droht, wenn Söhne, Brüder und Familienväter in größerer Zahl nicht mehr lebend von ihren Hilfe- und Friedensdiensten heimkehren.
Zwei Zitate zeigen die Zwangslage der deutschen Außenpolitik. Ein amerikanischer Offizier in Afghanistan sagte, "Die Deutschen müssen lernen zu töten" - erst dann würden sie vollwertige Verbündete. Ein Talibanführer gab die Weisung: "Es ist wichtig, Deutsche zu töten" - die knicken am schnellsten ein und gehen nach Hause. Schon die Selbstachtung hätte Klarheit und Konsequenz von Berlin verlangt: Wenn man Soldaten zu internationalen Einsätzen schickt, muss man sie Soldaten sein lassen wie alle anderen; wenn man das nicht will, darf man sie nicht schicken. Doch Bundesregierung und Bundestag taten weder das eine noch das andere. Sie lavierten zwischen politischer Pflicht und historischer Last, genauer: zwischen der Furcht vor Isolierung im Bündnis und der Angst vor dem Volke. Ihnen fehlte der Mut zum Kampf und die Zivilcourage zum Nein. So entsandten sie die Bundeswehr nur zu Hilfe- und Heildiensten und höchstens zu Schutz- und Kontrollaufgaben; über die Frage, ob Luftaufklärung schon Kampf sei, weil danach andere besser bomben könnten, entbrannte mehrfach heftiger Streit. Erst in diesem Jahr übernahmen 200 Mann einen Auftrag, bei dem mit Kampf zu rechnen ist.
Fehlende Souveränität
Die deutsche Politik gerät in Gefahr, sich lächerlich zu machen. Sie wird gedrängt und lässt sich drängen, sie zögert und windet sich, aber gibt dann von Mal zu Mal weiter nach, bis sie tun muss, was sie nie tun wollte. Allein Gerhard Schröder verweigerte sich George Bushs Irak-Abenteuer. Was immer ihn bewog, er folgte der höchsten Autorität, dem Grundgesetz, das schon die Vorbereitung von Angriffskriegen verbietet. Damit war die Linie gezogen, die keine Bundesregierung überschreiten darf, die ihr aber den Spielraum lässt, die Bundeswehr in Marsch zu setzen, wenn die Aufgabe politisch oder moralisch überzeugt.
Die Militäreinsätze sind das heikelste Feld deutscher Außenpolitik und lassen deren verborgenes Problem am deutlichsten erkennen: Der äußeren Souveränität, die das vereinte Land 1990 erhielt, ist innere Souveränität noch nicht ausreichend nachgewachsen. So erklärt sich auch die Scheu, größere politische Risiken einzugehen. Die bedeutenden Vorgänger hatten den Mut dazu. Adenauer wie Brandt mussten ihre Politik gegen massive Widerstände im Inneren durchfechten; beide lagen zwar jeweils im Trend der internationalen Entwicklung, hatten aber keine Gewissheit, ob sie außenpolitisch ihr Ziel erreichen würden. Auch Helmut Kohl wusste nicht sicher, ob er, trotz amerikanischer Hilfe, Moskau, London und Paris mit der deutschen Einheit würde versöhnen können.
Berlin führt heute eine Außenpolitik, die erfolgreicher scheint, als sie ist, was nicht heißt, sie sei erfolglos. Integration Europas, Welthandel, Klima sind hochwichtige Themen, aber ziemlich gefahrlos: Auch wenn man scheitert, sind vor allem die anderen oder die Umstände Schuld. In aller Welt eine gute Figur machen, hebt das Ansehen, aber genügt nicht für den größten Staat der Europäischen Union.
Christian Hacke fragte schon vor zwölf Jahren, ob Deutschland eine Weltmacht wider Willen sei.
Die anderen wollen wissen, wo Berlin steht, wenn Entscheidungen nötig werden, und noch wichtiger, Berlin muss selbst wissen, was es meint und will. Meint der Verteidigungsminister wirklich, Bundeswehr und Aufbauhelfer noch fünfzehn Jahre in Afghanistan halten zu können? Wird die Kanzlerin bei ihrem strikten Nein bleiben, wenn Barack Obama als Präsident oder John McCain erheblich mehr Engagement in Afghanistan fordert? Glauben Regierung und Parlament überhaupt an einen erfolgreichen Abschluss dort? Wenn nicht, welche Konsequenz ziehen sie?
Durch Demokratie ist Deutschland ein Teil des Westens, durch Geographie ein Land zwischen West und Ost. Die Bundesregierung bemüht sich pragmatisch, der Schwierigkeit Herr zu bleiben, aber eine feste Position zwischen Wertekult und Notwendigkeit ist nicht gefunden. Ist der konvertitenhafte Belehrungseifer anderer Kulturen ein bestimmendes Motiv der Außenpolitik oder doch meist nur der Innenpolitik geschuldet? Entscheiden, wenn es drauf ankommt, Vorteil und Interesse?
Wieweit folgt Berlin einem neuen Kreuzzug Washingtons, auch wenn er nur mit soft power geführt wird? Wieweit nimmt es hin, dass die NATO immer mehr zur Hilfstruppe US-amerikanischer Weltpolitik wird? Was bestimmt das Verhältnis zu Russland? Gas und Öl? Eine Abneigung gegen ein autoritärer werdendes Regime, oder die Einsicht in die Notwendigkeit, ein stabiles, auf bleibende politische Interessen gegründetes Verhältnis zu schaffen? Wo steht Berlin beim amerikanisch-russischen Machtkampf in Osteuropa und Zentralasien? Mit dem einen ist man verbündet, dem anderen gebührt Verständnis, wenn er keine fremde Großmacht an seinen Grenzen dulden will. Wie steht Berlin zur Ausdehnung der NATO bis zum Kaukasus? Bleibt es beim Nein, falls der neue US-Präsident drängt? Die Antworten müssen nicht hinausposaunt werden, aber erkennbar muss schon werden, was die Deutschen wollen.
Vernunft und Schwäche sind die außenpolitische Hinterlassenschaft der Kriegs- und Nachkriegsgeschichte. Deutschland bedroht niemanden mehr und ist ein gutes, fast vorbildliches Mitglied der Staatengemeinschaft geworden. Die Schwäche hat es noch nicht ganz überwunden, doch es nähert sich dem Ende des Prozesses, der vor fast sechzig Jahren mit einem demoralisierten Land unter Besatzungsstatut begann und den man Normalisierung nennen kann. Das gebrochene Kreuz heilt, die politische Vernunft muss darunter aber nicht leiden und hat gute Aussicht zu bleiben. Die Niederlage 1945 war für die Deutschen, was der Untergang der Armada für die Spanier und das Ende Napoleons für die Franzosen war: Sie können nicht mehr Herr sein in Europa und wollen es auch nicht mehr.