Einleitung
Das moderne Verständnis der Funktionen des Gehirns basiert in seinen Grundzügen auf wenigen Axiomen, von denen sich zwei als besonders dauerhaft herausgestellt haben: die Lokalisationslehre und die Neuronenlehre. Erstere geht davon aus, dass es verschiedene, voneinander abgrenzbare funktionelle Zentren im Gehirn gibt, und zwar sowohl für physische Funktionen (z.B. Regulation der Atmung oder Koordination der Motorik) als auch für psychische Qualitäten (z.B. Sprache oder Emotionen); letztere nimmt an, dass eine einzelne Nervenzelle eine strukturelle und funktionelle Einheit bildet und das Hirnleben durch Kommunikation zahlreicher Neuronen bedingt wird.
Die Anfänge der modernen Lokalisationslehre reichen ungefähr zweihundert Jahre zurück. Ihre Geschichte ist von mehreren Kontroversen geprägt, in denen die Möglichkeit erwogen wurde, komplexe Hirnfunktionen als einheitliches und ganzheitliches Zusammenwirken des Gehirns aufzufassen. Die Neuronenlehre ist im späten 19. Jahrhundertentstanden und war zunächst heftig umstritten, doch lange bevor die Individualitätder Neuronen Mitte des 20. Jahrhundertselektronenmikroskopisch nachgewiesenwerden konnte, bildete diese Lehre das morphologische Grundgerüst der Hirnforschung.
Lokalisationslehre
Während es vor dem 19. Jahrhundert keine paradigmatisch wirksame Vorstellung von Nervenzellen gegeben hat, war die Lokalisationslehre bereits in der Antike im Sinne einer Suche nach dem Sitz der Seele verbreitet. Hippokrates beispielsweise sah im Gehirn das Organ des Denkens, der Wahrnehmung und der Beurteilung von Gut und Böse, Platon lokalisierte den rationalen, unsterblichen Teil der Seele im Gehirn. Dagegen hielt Aristoteles das Herz für das sensorium commune, also den Ort, an dem alle Empfindungsmodi zu einer einheitlichen Wahrnehmung zusammengeführt und alle Bewegungen ausgelöst werden. Während Herz und Gehirn bis in die Renaissance hinein als Seelensitz konkurrierten, entwickelte sich unabhängig davon im Mittelalter die so genannte Ventrikellehre der geistigen Vermögen, bei der Wahrnehmung, Erkenntnis und Gedächtnis in den drei Hirnventrikeln lokalisiert wurden. Diese Lehre wurde für mehr als tausend Jahre ohne besondere Modifikationen beibehalten.
Ein Bruch in der Lokalisationstheorie vollzog sich mit René Descartes und seinem Leib-Seele-Dualismus, indem er den hauptsächlichen Interaktionsort zwischen Körper und Seele, das so genannte Seelenorgan, in die Zirbeldrüse verlegte. Diese Zuordnung wurde bereits von Descartes' Zeitgenossen abgelehnt, doch das Konzept des Seelenorgans als Verbindungsglied zwischen materieller und immaterieller Substanz bzw. als Sitz der Seele blieb über einhundertfünfzig Jahre lang unangetastet. Der Dualismus ermöglichte einerseits eine wissenschaftliche Erforschung des Körpers, andererseits stellte er die göttliche Herkunft der menschlichen Seele nicht in Frage. Diese Arbeitsteilung wurde mit der allmählichen Säkularisierung im Zeitalter der Aufklärung sowie der breiten Forderung nach einer empirischen Erforschung des menschlichen Geisteslebens zunehmend fragwürdig.
Die moderne Lokalisationstheorie begann um 1800 mit Franz Joseph Galls These, nach der verschiedene geistige Qualitäten Sitz und Ursache in voneinander abgrenzbaren Regionen des Gehirns, hauptsächlich der Hirnrinde, hätten. Es ging Gall darum, in Anlehnung an die bürgerlichen Verhaltenslehren und Konventionen der Spätaufklärung den verschiedenen menschlichen Eigenschaften, Neigungen und Talenten unterschiedliche und unabhängige Organe im Gehirn zuzuweisen. Besondere musikalische oder sprachliche Fähigkeiten beruhten demnach auf einem besonders gut entwickelten Hirnorgan. Diese Vorstellung von big is beautiful ist im Prinzip auch heute noch Bestandteil der Hirnforschung. Gall war ein vorzüglicher Hirnanatom - er erkannte als erster systematisch die Bedeutung der Hirnrinde für die höheren Hirnfunktionen und wies nach, dass das Gehirn entwicklungsgeschichtlich aus dem Rückenmark entsteht. Sein folgenreichster - und problematischster - Beitrag war das psychologisch motivierte Anliegen, den Menschen nicht mehr als metaphysisches, mit einem Seelenorgan ausgestattetes Wesen anzusehen, sondern in seinen alltäglichen Verhaltensweisen zu verstehen. Für die Annahme einer unteilbaren und freien Seele blieb in diesem System kein Platz mehr; vielmehr ging es darum, die moralische und intellektuelle Natur des Menschen vollständig auf der Basis der Gehirnfunktion zu erklären.
Galls Popularität lag in dem Teilstück seiner Lehre begründet, das die Ausprägung bzw. Wölbung der Schädelform zur Entwicklung der Hirnoberfläche in Beziehung setzte. Dadurch wurde die berüchtigte Korrelierung zwischen Schädelform und geistigen Eigenschaften ermöglicht. Dennoch waren die Implikationen von Galls Lehre zu ernst, um auf der Ebene sensationsheischender Scharlatanerie zu verharren. So entzündete sich auch innerhalb der Naturforschung Kritik an Galls Materialismus und Determinismus. Insbesondere warf man ihm vor, mit der Lokalisierung von Nächstenliebe, Mordsinn, Sprach- oder Tonsinn den freien Willen und damit die Autonomie des Individuums in Frage zu stellen. Diese Kontroverse hat die Hirnforschung bis auf den heutigen Tag begleitet, sei es im Streit um die Willensfreiheit, sei es, ob man einen Kriminellen oder ein Genie an seinem Gehirn erkennen könne. Die erbittertsten Gegner Galls kamen aus den Reihen der Physiologen, obwohl gerade sie bereits gezeigt hatten, dass die Nervenbahnen für motorische und sensorische Funktionen im Rückenmark getrennt verliefen (das sog. Bell-Magendie-Gesetz). Tierexperimente an der Hirnrinde deuteten sie jedoch fälschlicherweise so, dass sämtliche Funktionen nach und nach schwächer wurden, je mehr Hirnsubstanz entfernt wurde. Vor allem der französische Physiologe Pierre Flourens setzte die einheitliche und ganzheitliche Funktion des Gehirns gegen den Lokalisationsgedanken und glaubte damit, der Freiheit und Unsterblichkeit des Menschen einen großen Dienst erwiesen zu haben.
Die Wiederbelebung und Neuformulierung des Lokalisationsgedankens geschah erst nach 1860 mit der Erforschung der zerebral bedingten Sprachstörungen (Aphasie). 1861 demonstrierte Paul Broca in Paris den Fall eines Patienten, bei dem eine Schädigung in der 3. Frontalwindung der linken Hirnhälfte zur Unfähigkeit führte, Wörter auszusprechen, während das Sprachverständnis erhalten blieb. Als Carl Wernicke 1874 das Gegenstück zu Brocas motorischer Aphasie diagnostizierte und Sprachverständnisstörungen bei erhaltener Sprachmotorik (sensorische Aphasie) auf eine Läsion der 1. linken Temporalwindung zurückführte, schälte sich eine "Psychophysik der Sprache" (Karl Kleist) auf anatomischer Grundlage heraus, welche die Sprache analog zur Reflexlehre als einen "psychischen Reflexbogen" konstruierte, an dem mehrere Hirnregionen beteiligt waren. Während die Reflexphysiologen seit den 1830er Jahren darüber debattierten, ob Reflexe auf niedere Instinkte und Automatismen beschränkt seien (so Marshall Hall) oder ob sie als Modell für höhere Hirnfunktionen dienen könnten (so Johannes Müller), wurde diese Frage in der Aphasieforschung kurzerhand beantwortet. Das Gehirn wurde damit als eine Art Reiz-Reaktions-Maschine etabliert.
Unmittelbar im Gefolge der ersten klinischen Lokalisationsversuche begannen Hirnanatomen, nach strukturellen Unterschieden im Gehirn zu suchen. Epoche machend waren die 1865 begonnenen Untersuchungen des Wiener Psychiaters Theodor Meynert, der die kortikalen Fasern in Projektionsfasern (Verbindung von tiefer gelegenen Hirnteilen mit dem Kortex, der Hirnrinde) und Assoziationsfasern (Verbindung der Hirnrindenareale untereinander) einteilte. Erstere dienen dem Transport der sinnlichen Eindrücke, letztere der Verknüpfung von Wahrnehmungen und Vorstellungen. Denken, Bewusstsein oder Intelligenz waren für Meynert Funktionen der Assoziationsfaserung, wobei die häufige und intensive Wiederholung einer Assoziation zur Verfestigung entsprechender Bahnen führt, die nach und nach eine gewisse Kontinuität der Persönlichkeit mit sich bringt. Diese später als "Hirnmythologie" (Karl Jaspers) kritisierte Verknüpfung der Persönlichkeitsentwicklung mit der Hirnentwicklung war enorm einflussreich. Sowohl der Physiologe Sigmund Exner als auch der junge Sigmund Freud versuchten sich an physiologischen Erklärungen der psychischen Erscheinungen, die auf der Assoziationslehre aufbauten. In anatomischer Hinsicht führte Paul Flechsig Meynerts Werk weiter, indem er mittels der so genannten myelogenetischen Methode (funktionelle Gliederung der Hirnfasern aufgrund ihres Reifungsprozesses) postulierte, dass Projektions- und Assoziationszentren klar voneinander getrennt werden könnten.
Während die Lokalisationslehre durch klinische Beobachtungen und die Anatomie angestoßen wurde, vollzog sich ihr Durchbruch erst durch die experimentelle Physiologie. 1870 führten der Nervenarzt Eduard Hitzig und der Anatom Gustav Fritsch Untersuchungen durch, bei denen sie durch elektrische Stimulation bestimmter kortikaler Regionen Bewegungen der Gliedmaßen ihrer Versuchstiere hervorrufen konnten. Der Nachweis der motorischen Erregbarkeit der Hirnrinde war der Startschuss für zahlreiche Untersuchungen: David Ferrier verfeinerte die Untersuchungen von Fritsch und Hitzig, Hermann Munk bestimmte optische, akustische und somato-sensorische Zentren und beschrieb unterschiedliche kortikale Sehstörungen. Trotz mancher Debatten der Hirnforscher um die Begrenzung bestimmter Felder und die Lokalisierbarkeit spezifischer Funktionen bestand Einigkeit darin, dass die Ausführung psychischer und physischer Akte an bestimmte Hirnregionen gebunden ist - auch wenn sich die Verhältnisse rasch als viel komplizierter erweisen sollten als zunächst angenommen. Beispielsweise beobachtete Friedrich Goltz seine Versuchstiere über einen möglichst langen Zeitraum und konnte zeigen, dass durch Substanzverlust bedingte "Ausfallerscheinungen" von operationsbedingten, vorübergehenden "Hemmungserscheinungen" zu unterscheiden waren. Angesichts der Regenerationsfähigkeit stellte sich damit die Frage nach festgelegten Zentren neu.
Neuronenlehre
Das späte 19. Jahrhundert stand ganz unter dem Eindruck der Lokalisationslehre. In einem ganz anderen Zweig der Hirnforschung entwickelte sich nach 1880 die Neuronenlehre. Dass es sich bei Nervenzellen um individuelle Entitäten handelt, war keine neue Einsicht. Während Theodor Schwann und Matthias Jacob Schleiden in den 1830er Jahren die Zellenlehre begründeten, gab es daneben auch Anatomen wie Christian Gottfried Ehrenberg, Jan Evangelista Purkyne und Robert Remak, die kugelige Ganglienkörper oder Nervenzellen als Elementarstrukturen des Nervensystems ansahen. Purkyne sprach sowohl den Zellen als auch den Nervenfasern den Charakter der Individualität zu, doch blieb es noch für längere Zeit unklar, ob und auf welche Weise Zellen und Fasern miteinander zusammenhängen. Als man sich darauf einigte, dass der Zellkörper über verschiedene Auswüchse verfügt, nämlich einen axialen Zylinder (Axon) und zahlreiche protoplasmatische Fortsätze (Dendriten), wurde die Annahme individueller Nervenzellen zugunsten der Theorie aufgegeben, wonach alle Nervenzellen ein einziges, kontinuierliches Netzwerk bildeten. Diese Ansicht harmonierte gut mit der antilokalisatorischen Doktrin von Flourens, denn für die Anhänger der Netzwerktheorie erschien das Gehirn in anatomischer und physiologischer Hinsicht als einheitliches, zusammenhängendes Organ.
1873 konnte Camillo Golgi mittels einer neuen Färbetechnik Nervenzellen mit ihren endlosen Verzweigungen in bis dahin nicht für möglich gehaltener Schärfe und Klarheit sichtbar machen, und er hatte neue Beobachtungen über die Struktur der Nervenzellen mitzuteilen. Nicht nur Dendriten, auch Axone verfügten über Seiten- und Nebenäste (Kollaterale), und er unterschied zwei Typen von Nervenzellen: solche, die ein langes Axon haben (heute als Typ-I Neuronen bezeichnet), und solche, die sich dicht am Zellkörper verzweigen (Typ-II Neuronen). Die Dendriten wiederum bildeten nicht, wie man bis dahin gedacht hatte, ein zusammenhängendes Netzwerk, sondern endeten frei im interstitiellen (in den Zwischenräumen funktionstragender Elemente liegenden) Gewebe. Ungeachtet dieser drei wichtigen und bis heute gültigen Neuerungen folgte Golgi der Ansicht, dass die Nerven ein kontinuierliches, funktionell einheitliches Gewebe bildeten, das über Axone miteinander verbunden war.
Es gehört zu den Pikanterien in der Geschichte der Hirnforschung, dass eine morphologische und funktionelle Unabhängigkeit der Nervenzellen gegen die Netzwerktheorie ausgerechnet auf der Basis von Golgis revolutionärer Färbetechnik behauptet wurde. So konnte Santiago Ramón y Cajal 1888 zeigen, dass verschiedene Zelltypen sich im Kleinhirn einander annäherten, ohne sich zu berühren, was zumindest nahe legte, dass die Verbindung zwischen Nervenzellen durch Kontakt und nicht durch Kontinuität zustande kam. Die Frage war, wie sich der Impuls von einer Zelle auf die andere übertrug. Unabhängig voneinander postulierten Ramón y Cajal und Arthur van Gehuchten das Gesetz der dynamischen Polarisation, das besagt, dass Dendriten die Erregung zum Zellleib hinleiten, während Axone diese zum nächsten Neuron weiterleiten. Diese physiologische Hypothese zur Erregungsleitung im Nervensystem blieb zwar vorerst ebenso spekulativ wie Charles S. Sherringtons Annahme, dass sich zwischen den Nerven ein kleiner Spalt befinde, für den er den Namen "Synapse" fand, doch war die Mehrzahl der Anatomen um 1900 von der Richtigkeit der Neuronenlehre überzeugt. Auf die Lokalisationstheorie hatte das indes keinerlei Auswirkungen. Beide Doktrinen existierten nebeneinander, ohne einander zu stützen oder zu widersprechen.
Interdisziplinäre Ansätze
Nach 1900 mehrte sich die Kritik an der Lokalisationstheorie, wobei Unstimmigkeiten in der Theorie selbst und weltanschauliche Gründe Hand in Hand gingen. Zwar war die Idee einer ganzheitlichen Funktion des Gehirns durchaus nicht dualistisch geprägt. Die Frage war nur, ob das komplexe Verhältnis von Struktur und Funktion aufgrund der Analyse einzelner Hirnregionen abgehandelt werden könne und ob eine neurologische Betrachtung des menschlichen Geistes als Summe seiner Empfindungen für das Verständnis vom Menschen und seiner Krankheiten ausreichend sei. Als wichtiges Argument diente die Verschiedenheit der Symptome bei anscheinend gleicher Lage des Läsionsherds. Zudem konnte aus anatomischer Perspektive kein plausibles Argument für die spätere Rückbildung der Symptome geliefert werden.
Eine entscheidende Reaktion auf diese Unstimmigkeiten lag in der gründlicheren und systematischeren neurologisch-psychologischen Exploration hirngeschädigter Patienten. Dazu gehörte auch die Einführung psychologischer Testverfahren, mit denen etliche Störungen beschrieben werden konnten, die zuvor der Aufmerksamkeit der Neurologen entgangen waren. Letztlich ging es darum, die Neurologie aus ihrem zu engen theoretischen Korsett zu befreien, und das geschah durch zunehmende Integration von Ergebnissen aus Sprachwissenschaft und Psychologie. Manche Hirnforscher versuchten sogar, die sensomotorische, reflexologische und somit reduktionistische Lokalisationslehre in eine übergeordnete psychologische oder biologische Theorie einzubinden, innerhalb derer der ganze Mensch berücksichtigt wurde.
Es waren vor allem Constantin von Monakow und Kurt Goldstein, die eine der individuellen Persönlichkeit des Menschen gerechter werdende biologische Grundlage der Neurologie zu entwickeln versuchten. Für Monakow war die Fähigkeit des Organismus, entstandene Schädigungen bis zu einem gewissen Grad selbst zu reparieren, ebenso zentral wie die Herausbildung von Kompensationsmechanismen. Während vorübergehende reaktive Störungen durch Isolierungen von verschiedenen Nervenzellverbänden, Unterbrechungen von Leitungsbahnen und Ernährungsstörungen ausgelöst würden, führe die Vernichtung von Hirngewebe zu kompensatorischen Regressionen des Verhaltens. Eine Verletzung, auch wenn sie lokal begrenzt war, bedingte allgemeine organische Reaktionen, und das bedeutete, dass man das Gehirn nicht isoliert vom Rest des Körpers betrachten konnte. Umschriebene Ausfallsymptome waren demnach biologische Erscheinungen an einem durch Krankheit veränderten Menschen.
Der Neurologe Kurt Goldstein entwickelte seine Theorie des Organismus ausgehend von Erfahrungen mit hirnverletzten Soldaten, die im Ersten Weltkrieg Opfer von Kopfschüssen geworden waren. In der Kombination aus intensiver psychologischer und psychiatrischer Untersuchung sowie sozialmedizinischer Betreuung fand Goldstein den Schlüssel zu seiner Theorie, die eine der Umweltlehre Jakob von Uexkülls verwandte Auffassung von der Beziehung zwischen Organismus und Umwelt vertrat. Danach wird Normalität bzw. Gesundheit als Adäquatheit zwischen Individuum und Umwelt definiert. Krankheit war für Goldstein stets durch einen dem Organismus inadäquaten Vorgang ausgelöst, der dieses Gleichgewicht aufhob und zu einer Erschütterung, einer "Katastrophenreaktion" führte. Die weitere Reaktion des Organismus sah Goldstein in dem Versuch, ein neues Gleichgewicht herzustellen, das entweder zur vollständigen Gesundung führte, oder, wenn dies nicht möglich war, die Adäquatheit auf einem niedrigeren Level wiederherstellte. Nach dieser Theorie war das Gehirn keine Reiz-Reaktions-Maschine, sondern es reagierte auf Reize und Veränderungen der Umwelt ganz individuell, je nach vorgegebener biographischer Entwicklung. Insofern ist es nicht abwegig, Goldstein als Theoretiker des sozialen Gehirns anzusehen.
In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gab es also zwei entgegengesetzte Betrachtungsweisen der Gehirnfunktionen: Die eine analysierte eine einzelne Funktion in ihrem Verhältnis zur Gesamtfunktion; die Reaktion auf einen Reiz war dabei abhängig vom Gesamtzustand des Gehirns. Die andere Position verstand das Ganze als Summe seiner Teile. Beispielsweise erklärte Iwan Pawlow den Mechanismus des bedingten Reflexes in der Weise, dass zwei Ereignisse (z.B. Appetitauslösung und ein Klingelgeräusch) in zwei voneinander unabhängigen Gehirnzentren verarbeitet würden, und erst durch die Kombination beider Reize komme es zu einer stabilen Kommunikation der beiden Zentren. Natürlich war eine solche Erklärung rein hypothetisch, doch erstens war die Reflexlehre trotz solcher Makel außerordentlich einflussreich, und zweitens unternahm die Anatomie nach 1900 große Anstrengungen, Mark und Rinde des Kortex nach Anordnung, Zahl, Größe und grober Morphologie der Nervenzellen und Leitungsfasern einzuteilen.
Nach diesem Prinzip begründeten Cécile und Oskar Vogt sowie Korbinian Brodmann eine zytoarchitektonische (auf die Architektur der Zellen bezogene) Einteilung der Großhirnrinde, indem sie einheitlich aufgebaute und regional begrenzte Felder voneinander unterschieden. Brodmanns Hirnkarte des Menschen hat bis auf den heutigen Tag ihre Gültigkeit bewahrt. Bestechend an dem Ansatz der Vogts war ihr interdisziplinärer Zugang. Neben Anatomie und Physiologie verwoben sie am Kaiser-Wilhelm-Institut für Hirnforschung in Berlin genetische, chemische, klinische und pharmakologische Forschungsansätze zu einem interdisziplinären Großprojekt, das zu einer empirischen Lösung des Leib-Seele-Problems führen sollte. Diese war in dem Moment erreicht, wenn für jedes Element der Bewusstseinserscheinungen ein physiologisches Korrelat gefunden werden würde und dadurch der Verlauf der seelischen Phänomene vollständig abgeleitet werden könnte. Vor diesem Hintergrund ist es zu verstehen, dass Oskar Vogt nach der vorläufigen zytoarchitektonischen Analyse von Lenins Hirn aus einer verbreiterten III. Rindenschicht und zahlreichen großen Pyramidenzellen auf einen "Assoziationsathleten" schloss und sich aus der Architektonik wichtige Resultate für Pädagogik und Eugenik versprach, indem er glaubte, "Asoziale", Kriminelle und die Elite an ihren Gehirnen zu erkennen.
In Fortführung der Gall'schen Tradition ist der Traum von der Hirnforschung als anthropologischer Leitwissenschaft mit weitgehenden gesellschaftlichen Autoritätsbefugnissen ein typisches Beispiel für die zunehmende Politisierung der biomedizinischen Wissenschaften im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts. Wie verheerend sich die Verbindung von Hirnforschung und Biopolitik auswirken konnte, zeigt sich an dem Massaker, das die Nationalsozialisten unter zumindest indirekter Beteiligung führender Hirnanatomen mit der Euthanasie-Aktion veranstalteten.
Während Vogts politisch-szientifische Ambitionen im Nationalsozialismus ein Ende fanden, blieb die interdisziplinär angelegte Hirnforschung beispielhaft, was sich vor allem an der wissenschaftlichen Ergiebigkeit der noch jungen Neurochirurgie zeigte. Der direkte Zugang zum menschlichen Gehirn eröffnete wichtige Perspektiven für die Lokalisationsforschung, insbesondere in Fortführung der von Fritsch und Hitzig im Tierversuch durchgeführten Stimulationsexperimente der Hirnrinde. Am menschlichen Gehirn wurden vergleichbare Untersuchungen im Rahmen einer chirurgischen Therapie der Epilepsie eingeführt. Bereits 1909 vermochte Harvey Cushing durch Stimulation des Gyrus postcentralis beim wachen Patienten Empfindungen in den gegenüberliegenden Extremitäten zu produzieren. Von Brodmanns und Vogts Einteilungen ausgehend, nahm der Breslauer Neurologe Otfried Foerster intraoperative elektrische Reizversuche der motorischen und sensorische Regionen an epileptischen oder an einem Hirntumor leidenden Patienten vor und konnte zeigen, dass bei diesen während der Operation wachen Personen Schmatzbewegungen, Grunzlaute oder Kribbelgefühle ausgelöst werden konnten.
Der kanadische Neurochirurg Wilder Penfield, der sich während eines Aufenthalts bei Foerster mit der intraoperativen Stimulierung des Kortex vertraut gemacht hatte, erstellte durch systematische Reizung des Kortex eine Landkarte der sensomotorischen Funktionen, der mit Bedacht als Homunkulus dargestellt wurde, da die Ausdehnung der Körperteile ihrer Wichtigkeit im Alltagsleben entsprechen sollte. Nach derselben Methode unternahm er auch eine Lokalisierung der Sprachzentren und evozierte experimentelle Halluzinationen und Illusionen optischer und akustischer Art. Diese Phänomene tauchten nicht zufällig auf, sondern standen bei jedem Patienten im engen Zusammenhang mit seiner Biographie. Daraus schloss Penfield, dass diese Areale eine spezielle Beziehung zum record of experience und dessen Reaktivierung hätten.
Das von Penfield beim Menschen systematisch eingeführte Prinzip der intrazerebralen Stimulation ist für die Lokalisationsforschung auch heute noch relevant, denn immer wieder berichten Patienten von neuen und überraschenden subjektiven Erscheinungen, die durch solche Stimulationen im Verlauf einer neurochirurgischen Operation auftauchen, was die Hirnforscher zu neuen Spekulationen über die Funktion eines bis dahin noch nicht näher klassifizierten Hirnareals anregt.
Das Gehirn als Computer
Ein neues Kapitel in der Hirnforschung wurde durch die Kybernetik eröffnet. Mit ihr vollzog sich ein Wandel von einer organizistischen zu einer technizistischen Betrachtung des Gehirns, die einer Maschinentheorie des Geistes entsprach. Solche Überlegungen waren schon um 1930 mit dem Behaviorismus sowie Hans Bergers Erfindung der Elektroenzephalographie (EEG) aufgekommen, wodurch das Gehirn als elektrisches Organ konzipiert wurde. Doch die Kybernetik ging weiter. Sie konzentrierte sich nicht auf Strukturen, sondern auf Funktionen; sie war nicht an individuellen geistigen Merkmalen interessiert, sondern an allgemeinen Gesetzmäßigkeiten des Denkens, Wahrnehmens und Verhaltens; sie setzte nicht auf Größenverhältnisse und auf topographische Konstellationen, sondern auf dynamische Zustände und Verschaltungen, bei denen es gleichgültig war, ob diese durch organische Substanzen wie Nervenzellen oder durch Maschinen realisiert wurden. Größe und Anzahl von Nervenzellen waren irrelevant, stattdessen kam es auf ihren Aktivierungszustand an. Das Gehirn galt nicht länger als Organ, in das Intelligenz und Gefühle, Denken und Triebe an verschiedenen Orten eingeschrieben wurden, sondern als Funktionseinheit, die symbolische Informationsverarbeitung betrieb und Probleme löste. Dieser cognitive turn machte das Gehirn zu einem Computer. Die zentrale Frage lautete: Nach welchem Algorithmus funktioniert das Gehirn, und wie lassen sich Gehirnfunktionen elektronisch simulieren?
An diesem Punkt kam die Neuronentheorie wieder ins Spiel. Die Neuronen als kleinste funktionelle Einheiten des Gehirns agieren wie ein Relais, indem ihre physiologische Wirkung auf zwei Zuständen basiert: dem Aktivierungs- oder dem Ruhezustand. Diese Idee des On-off-Prinzips war eine genuin physiologische Theorie, die von dem Alles-oder-Nichts-Prinzip der Nervenaktivierung ausging, das E. A. Adrian bereits in den 1920er Jahren aufgestellt hatte. Diese Theorie wurde in dem Moment zu einem mathematischen und medientechnischen Ereignis, als Alan Turing 1936 die These aufstellte, dass Rechenmaschinen und Gehirne gleichermaßen nach logischen Prinzipien verstanden werden könnten, auch wenn das Nervensystem keine Maschine mit diskreten Zuständen sei. Darauf aufbauend versuchten Warren McCulloch und Walter Pitts, die Vorgänge im Nervensystem als logische Operationen zu kennzeichnen, bei denen der Aktivitätszustand eines einzelnen Neurons mit dem simpelsten psychischen Akt korrespondierte. Die Informationstheorie des Nervensystems befasste sich mit kleinsten Einheiten, um den gemeinsamen Nenner intelligenter Operationen dingfest zu machen. Als es gelang, die Aktivität einzelner Neuronen im Gehirn mittels einer Mikroelektrode abzuleiten, zeigte sich insbesondere am visuellen System, dass bestimmte Zellen tatsächlich auf spezifische Reize reagieren. Ob solche Aktivitätsmuster mit einfachsten psychischen Akten identifiziert werden können, ist bis heute ungeklärt.
Ausblick
Im Zeitalter des Neuroimaging geht man nicht mehr davon aus, dass das Gehirn ein Computer ist, sondern dass es in enger Verbindung mit dem übrigen Organismus und der Umwelt agiert. Auch das einfache Reiz-Reaktions-Schema hat an Bedeutung verloren. Dennoch gelten Neuronentheorie und Lokalisationslehre weiterhin als so bedeutend, dass die Neurowissenschaften ohne sie nur schwer vorstellbar wären. Die Funktion eines Neurons bildet die Grundlage für das Verständnis neuronaler Prozesse, obwohl es neben den Neuronen noch andere Nervenzellarten im Gehirn gibt. Deren Zusammenspiel ist nach wie vor nur wenig verstanden.
Die Lokalisationstheorie hat durch die neuen bildgebenden Verfahren eine regelrechte Renaissance erlebt. Ob es freilich sinnvoll ist, Emotionen, Altruismus, ästhetisches Verständnis oder Religiosität im Gehirn zu lokalisieren, ist eine heftig umstrittene Frage. Die Grundlagen für diese Theorie sind recht alt, und eine neue, anders konfigurierte Theorie ist bislang nicht in Sicht. Am Anspruch hingegen, das menschliche Verhalten auf der Basis des Gehirns zu erklären, hat sich nichts verändert.