Einleitung
Für die Geltung der Menschenrechte im Völkerrecht bildet der 26. Juni 1945 die entscheidende Zäsur, der Tag, an dem in San Francisco die 51 Gründungsmitglieder der Vereinten Nationen (UN) die Charta der Weltorganisation annahmen. Im zweiten Absatz der Präambel der Charta bekräftigten die "Völker der Vereinten Nationen" ihren "Glauben an die grundlegenden Menschenrechte, an Würde und Wert der menschlichen Person, an die gleichen Rechte von Männern und Frauen". Gemäß Artikel 1 Nr. 3 der Charta ist es eines ihrer Ziele, "die Achtung vor den Menschenrechten und Grundfreiheiten für alle ohne Unterschied der Rasse, des Geschlechts, der Sprache oder der Religion zu fördern und zu festigen". Seit dieser Zäsur ist der einzelne Staat nicht mehr der einzige Garant der Grund- und Menschenrechte seiner Angehörigen. Vielmehr wurde die völkerrechtliche Ordnung zum Anwalt des Individuums gegenüber den Staaten (und insbesondere dem jeweiligen Heimatstaat des Einzelnen) erhoben - an erster Stelle in den Interessen, die allen Menschen kraft ihres Menschseins gemeinsam sind: Leben, Gesundheit, Freiheit.Noch der Satzung des Völkerbundes von 1919 war ein solches Bekenntnis zu universalen Menschenrechten fremd gewesen. Die im Völkerrecht des 19. Jahrhunderts fest etablierte Ansicht, die Grund- und Menschenrechte seien eine rein innerstaatliche Angelegenheit, hatte den Ersten Weltkrieg unbeschadet überstanden.
Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte
Am 10. Dezember 1948 nahm die UN-Generalversammlung in Paris mit 48 Ja-Stimmen bei acht Enthaltungen (der kommunistischen Staaten sowie Saudi-Arabiens und Südafrikas) die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte an. Die Anerkennung der menschlichen Würde und der gleichen und unveräußerlichen Rechte eines jeden bilde die Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt, heißt es am Anfang der Erklärung, worauf Art. 1 Satz 1 bestimmt: "Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren." Der italienische Philosoph Norberto Bobbio nannte die Erklärung "etwas völlig Neues in der Geschichte der Menschheit", denn mit ihr sei zum ersten Mal ein System grundlegender Prinzipien des menschlichen Zusammenlebens in freier Entscheidung angenommen worden - von der Mehrheit der auf der Erde lebenden Menschen, vertreten durch ihre Regierungen. "Mit dieser Erklärung wird ein Wertesystem universal, und zwar nicht nur im Prinzip, sondern faktisch, denn es wurde als Regelung für das Zusammenleben der künftigen Gemeinschaft aller Menschen und Staaten formuliert."
Den historischen Grund der Allgemeinen Erklärung benennt ihre Präambel schon im zweiten Absatz: Die Nichtbeachtung und Verachtung der Menschenrechte habe zu Akten der Barbarei geführt, die das Gewissen der Menschheit mit Empörung erfüllten. Mit diesen barbarous acts waren in erster Linie die Verbrechen der nationalsozialistischen Führung Deutschlands gemeint.
In 30 Artikeln proklamierte die Generalversammlung klassische Freiheitsrechte (wie das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit, die Gewissens- und Religionsfreiheit, die Meinungs- und Informationsfreiheit) auf der einen Seite und wirtschaftliche und soziale Rechte (wie das Recht auf soziale Sicherheit, das Recht auf Arbeit und das Recht auf Bildung) auf der anderen.
Von der Allgemeinen Erklärung zu verbindlichen Verträgen
Unter ausdrücklicher Berufung auf die Allgemeine Erklärung entschlossen sich die Mitglieder des Europarates im Jahre 1950, mit der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) "die ersten Schritte auf dem Weg zu einer kollektiven Garantie bestimmter in der Allgemeinen Erklärung aufgeführter Rechte zu unternehmen" (Präambel). Auf der übereuropäischen, universellen Ebene dauerte der Prozess der Einigung auf verbindliche Verträge zum Schutz der Menschenrechte sehr viel länger. Hier mussten die westlichen Staaten vor allem Kompromisse finden mit den kommunistischen Staaten unter Führung der Sowjetunion sowie den Entwicklungsländern, die nach und nach ihre Unabhängigkeit erlangten. Erst 1966 wurden die beiden UN-Menschenrechtspakte angenommen: der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte sowie der Internationale Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte. Zehn weitere Jahre vergingen, bis die nötige Anzahl von Ratifikationen erreicht war und die Pakte in Kraft treten konnten. Der erste Pakt machte die überwiegende Anzahl der Freiheitsrechte der Allgemeinen Erklärung von 1948 verbindlich, während der zweite die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte der Erklärung aufgriff, sie aber grundsätzlich nicht als einklagbare Individualrechte ausgestaltete, sondern den Vertragsstaaten nur entsprechende "Bemühensverpflichtungen" auferlegte. Während es in Art. 2 Abs. 1 des ersten Paktes heißt, jeder Vertragsstaat verpflichte sich, die in diesem Pakt anerkannten Rechte zu achten und sie allen seiner Herrschaftsgewalt unterstehenden Personen unterschiedslos zu gewährleisten, enthält der entsprechende Artikel des zweiten Paktes nur die Verpflichtung jedes Vertragsstaats, "unter Ausschöpfung aller seiner Möglichkeiten Maßnahmen zu treffen, um nach und nach mit allen geeigneten Mitteln (...) die volle Verwirklichung der in diesem Pakt anerkannten Rechte zu erreichen". Damit wurden die Zusagen unter den Generalvorbehalt des jeweils finanziell und organisatorisch Möglichen gestellt, was durchaus einem Gebot der Aufrichtigkeit entspricht. Denn "nicht alles, was erstrebenswert ist, kann man auch realisieren".
Im Sprachgebrauch der Vereinten Nationen, der das anglo-amerikanische Leitbild des Menschenrechtsschutzes widerspiegelt, bilden die Allgemeine Erklärung von 1948 und die beiden Pakte von 1966 gemeinsam die International Bill of Human Rights. In der Tat sind diese Dokumente die Grundlage zahlreicher späterer universaler Verträge über Einzelfragen des Menschenrechtsschutzes, wie die Diskriminierungsverhütung, die Rechte der Frauen, den Schutz von Kindern und Jugendlichen, Menschenrechte im Justizwesen, die Rechte behinderter Menschen, die Vereinigungsfreiheit der Arbeitnehmer und die Rechte von Staatenlosen, Asylbewerbern und Flüchtlingen.
Die beiden Internationalen Pakte von 1966 sind von fast allen Staaten der Erde angenommen worden.
Menschenrechte der "zweiten" und "dritten Generation"
Der völkerrechtliche Menschenrechtsschutz ist zeitlich dem innerstaatlichen (der "westlichen" Staaten) gefolgt. Erst in jüngster Zeit wirkt das Völkerrecht mit eigenen Neuschöpfungen auf das nationale Recht zurück. Die klassischen Freiheitsrechte, die sich schon in den europäischen und nordamerikanischen Verfassungen des 18. und 19. Jahrhunderts finden, werden als "Rechte der ersten Generation" bezeichnet (first generation rights). Diese standen auch noch im Mittelpunkt der EMRK (Recht auf Leben, Recht auf Freiheit und Sicherheit, Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens, Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit, Freiheit der Meinungsäußerung, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit).
Der wichtigste universale Vertrag, der die im 20. Jahrhundert in das nationale Verfassungsrecht verschiedener Länder eingeführten sozialen und wirtschaftlichen Rechte völkerrechtlich kodifizierte, war der Internationale Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte von 1966.
Der Begriff der "Rechte der dritten Generation" schließlich ist eine Sammelbezeichnung verschiedener neu proklamierter Menschenrechte, die inhaltlich keine Verbindung aufweisen.
Bisher konnte für keines dieser "Rechte der dritten Generation" eine völkerrechtlich verbindliche Einigung über die Berechtigten, die Verpflichteten und den genauen Inhalt erzielt werden. Dies zeigt, dass es sich gegenwärtig nicht um individuelle Rechtspositionen handelt, sondern um einen Ausdruck von allgemeinen Zielen der internationalen Gemeinschaft.
Das Problem der Universalität der Menschenrechte
Ungeachtet der förmlichen Bindung fast aller Staaten der Erde an die wichtigsten universalen Menschenrechtsverträge und wiederholter Bekenntnisse der Regierungen zur Universalität, Unteilbarkeit und Interdependenz aller Menschenrechte ist das Spannungsverhältnis zwischen universalen Menschenrechten und der Autonomie nationaler, regionaler oder religiös bestimmter (Rechts-)Kulturen bis heute ungelöst.
Dennoch ist weltweit unumstritten, dass es einen schützenswerten, universalen menschenrechtlichen Kernbereich (wie das Recht auf Leben, auf körperliche Unversehrtheit, auf Freiheit von willkürlicher Inhaftierung) gibt. Je mehr aber die abwehrrechtliche Grundlage der Menschenrechte verlassen und ihnen eine objektive, gesellschaftsgestaltende Funktion beigemessen wird, desto größer wird das Potential eines Widerspruchs zu dem ebenfalls völkerrechtlich verbürgten Selbstbestimmungsrecht der Völker. "Alle Völker haben das Recht auf Selbstbestimmung", heißt es in dem gemeinsamen Art. 1 Abs. 1 der beiden UN-Menschenrechtspakte. "Kraft dieses Rechts entscheiden sie frei über ihren politischen Status und gestalten in Freiheit ihre wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung." Das Selbstbestimmungsrecht wurde einer Forderung der "Dritten Welt" gemäß in die Pakte aufgenommen, die damit den Anspruch der Völker unter kolonialer Herrschaft auf Unabhängigkeit verankern wollte. Es war nicht daran gedacht, das Selbstbestimmungsrecht als ein Gegengewicht zu den Menschenrechten aufzubauen. Aus heutiger Sicht aber kann Artikel 1 der Pakte auch als die Markierung einer äußersten Grenze des internationalen Menschenrechtsschutzes verstanden werden: Die Menschenrechte dürfen nicht so ausgelegt werden, als geböten sie eine völlige oder beinahe völlige Angleichung der politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse eines Landes an den Standard der "real existierenden" Demokratien Europas und Nordamerikas.
Bilanz in Thesen und Fragen
1. Die Menschenrechtsidee hat im Völkerrecht nach dem Zweiten Weltkrieg einen ungeahnten Siegeszug erlebt. Mit dem Potsdamer Völkerrechtler Eckart Klein halte ich es "für schwerlich denkbar, dass die Menschheit hinter diesen Entwicklungsstand wieder generell zurücktreten wird".
2. Zum großen Teil müssen die Menschenrechtsverträge als ein Ausdruck symbolischer Politik angesehen werden. Politiker feiern jeden Beitritt eines weiteren Landes zu einem Vertrag als großen Fortschritt - als habe dieser förmliche Schritt auf die tatsächliche Lage in dem Land maßgeblichen Einfluss. Wer die zahlreichen Vertragsdokumente in der Annahme liest, die Wirklichkeit entspreche ihren Verbürgungen auch nur ungefähr, fühlt sich als ein Bewohner der besten aller denkbaren Welten. Der Schutz der Menschenrechte ist aber weithin nur semantischer Natur. Der hohe Ratifikationsstand der universalen Menschenrechtsverträge ist nicht für bare Münze zu nehmen.
3. Die normative Entwicklung des internationalen Menschenrechtsschutzes ist heute von einer gewissen Erschöpfung gekennzeichnet. Mit großem Eifer und sicherlich bestem Willen ist auf universaler und regionaler Ebene ein Vertrag nach dem anderen entworfen und in Kraft gesetzt worden. Bereits bekannte Rechte wurden sowohl im Hinblick auf ihren Inhalt wie ihren Träger differenziert und spezifiziert, neue Rechte hervorgebracht. Selbst die Regierungen haben den Überblick über die sich vielfach überschneidenden und teilweise auch widersprüchlichen Verpflichtungen verloren. Weniger wäre mehr gewesen. Die Klarheit des Programms der Allgemeinen Erklärung von 1948 ist einer eher diffusen normativen Gemengelage gewichen. Die internationale Gemeinschaft sollte sich auf die effektive Durchsetzung eines Kernbereichs der Menschenrechte konzentrieren, anstatt immer neue Rechte zu proklamieren.
4. Diese normative ist zugleich auch eine programmatische Erschöpfung. Es kommt einem das Bild eines Wanderers in den Sinn, der nach einem langen wie beschwerlichen Weg in die Richtung eines ihm verheißenen Gipfels nun nicht mehr so recht weiter weiß, zumal sich seine Erwartung, die Welt um ihn werde immer schöner, nicht bewahrheitet hat. Norberto Bobbio hat die Geschichte der Menschenrechte einmal so beschrieben: "Die Menschenrechte entstehen als universale Naturrechte, sie entwickeln sich weiter zu spezifischen (nationalen) positiven Rechten und realisieren sich schließlich als universale positive Rechte."
5. Es stellt sich die Frage, wie sich der Aufstieg neuer, "nicht-westlicher" Mächte im internationalen System auswirken wird. Mit anderen Worten: Hat sich die Menschenrechtsidee in den vergangenen Jahrzehnten tatsächlich in der Weise universalisiert, dass sie durch eine relative weltpolitische Schwächung ihrer Ursprungsländer nicht beschädigt wird? Ist es dem Westen gelungen, andere Regionen (China, Indien, Afrika, nicht zuletzt auch das heutige Russland) von der Idee so zu überzeugen, dass diese "selbsttragend" geworden ist, oder wird sie als ein octroi empfunden, dessen man sich, sobald man es nur kann, wieder entledigt? Jedenfalls dürfte die Zeit, in der der Westen die Geltung der Menschenrechtsidee in anderen Erdteilen erzwingen konnte, zu Ende gehen. Es wird in der Zukunft viel mehr Überzeugungsarbeit zu leisten sein - die Menschenrechte müssen erneut erklärt und begründet werden, nicht bloß als eine feststehende Wahrheit verkündet. In einem ernsthaften Dialog der Weltkulturen (das heißt auch: der Weltreligionen) müssen gemeinsame menschenrechtliche Überzeugungen als ein universeller Kern herausgearbeitet werden. Doch dieser Dialog wird nur gelingen, wenn der Westen glaubwürdig versichern kann, dass es ihm nicht darum geht, mit den Menschenrechten sein eigenes politisches, gesellschaftliches und wirtschaftliches System auf den Rest der Welt zu übertragen.
6. Für die Wirklichkeit des Menschenrechtsschutzes dürfte heute die Rolle nichtstaatlicher Organisationen, der international verbreiteten Massenmedien und zunehmend des Internet bedeutender sein als die der völkerrechtlichen Regelwerke. Diese bieten den Organisationen und Journalisten freilich einen wesentlichen Bezugspunkt. Die KSZE-Schlussakte von Helsinki und die nachfolgenden Dokumente waren zum Beispiel für die Bürgerrechtsgruppen der damaligen Ostblockstaaten eine wichtige Argumentationshilfe. Doch im Alltag des Kampfes um die Menschenrechte verlieren die feinen, in den Rechtsabteilungen der Außenministerien ersonnenen vertraglichen Distinktionen ihre Bedeutung, und der ursprüngliche, programmatische Charakter der Menschenrechte tritt wieder hervor, der so undifferenzierte, doch machtvolle Postulate wie das des Artikels 3 der Allgemeinen Erklärung von 1948 ermöglichte: "Jeder Mensch hat das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Person."
7. Die völkerrechtlich geschützten Menschenrechte beziehen sich auf das Verhältnis zwischen Staat und Individuum. Wird die Rolle des Staates begrenzt (zum Beispiel durch Privatisierung öffentlicher Aufgaben) verringert sich auch der Anwendungsbereich der Menschenrechte. Je mehr sich der Staat zurückzieht, umso weniger kann er eine direkte Schutzfunktion für die Menschenrechte ausüben. "Die Wirtschaft ist unser Schicksal", formulierte Walther Rathenau 1921; das Wort gilt heute im globalen Maßstab, und eben auch für die Frage des tatsächlichen Genusses der Menschenrechte. Bemühungen im Rahmen der UN, international tätige Unternehmen unmittelbar an die Normen der Menschenrechtsverträge zu binden oder eine völkerrechtliche Haftung der Unternehmen für von ihnen begangene Menschenrechtsverletzungen zu begründen, sind bisher erfolglos geblieben.