Einleitung
Der Aufstieg sozial-religiöser politischer Bewegungen in islamisch geprägten Ländern und ihr Wandel zu mehrheitsfähigen, relativ breiten Volksparteien wird in der populären, aber auch in der Fachliteratur häufig mit Vorbehalten, ja mit Ängsten aufgenommen. In der Literatur werden oft nur die Gewaltbereitschaft solcher Bewegungen, ihre Rückständigkeit, ihr reaktionäres Verhalten und ihr Hass auf "den Westen" betont, vor allem aber werden diese Bewegungen als eine Art politisches Novum dargestellt. In der Debatte dominieren trotz relativ breiter Themenwahl und disziplinärer Vielfalt auch in der wissenschaftlichen Literatur modernisierungstheoretische und kulturzentrierte Ansätze.
Aus islamistischen Bewegungen entstanden inzwischen in vielen Ländern politische Parteien mit modernen Strukturen und Arbeitsstilen. Die Forschung über islamistische Parteien steckt indes noch in den Anfängen. Bisher werden islamistische Parteien in der westlichen Literatur meist nicht als politische Parteien wahrgenommen, sondern mit terroristischen bzw. extremistischen Organisationen und gewaltbereiten Gruppierungen gleichgesetzt. Dabei gehören sie seit einigen Jahren zur Realität bzw. gar zur Normalität in der politischen Landschaft der arabisch-islamischen Welt. Von Marokko bis Indonesien stellen sie große Fraktionen in den Nationalparlamenten, sitzen in wichtigen Ausschüssen und sind sogar - wie die MSP (Mouvement pour la Société de la Paix/Bewegung für eine Friedliche Gesellschaft) in Algerien - an Regierungskoalitionen beteiligt. Längst schmieden sie politische Allianzen mit anderen Oppositionsparteien in der Innenpolitik und fungieren somit als potentielle Ansprechpartner für den Westen - wäre nicht das Gespenst des 11. September 2001.
Islamistische Bewegungen
Die heutigen islamistischen Parteien sind das Ergebnis einer jahrzehntelangen, etappenweise fortschreitenden Transformation sowohl der so genannten islamistischen Bewegungen als auch struktureller Faktoren der politischen Systeme der MENA-Region. Als Untergrundorganisationen mit einer relativ begrenzten Anzahl an Militanten waren die islamistischen Organisationen in den 1950er und 1960er Jahren nach der Machtübernahme nationalistischer Bewegungen in Moscheen und studentischen Milieus verankert. Erst Anfang der 1980er Jahre konnten die so genannten fundamentalistischen Bewegungen nach dem Scheitern der auf staatlichen Rentenzahlungen aufgebauten Entwicklungsmodelle und mit der einsetzenden Legitimitätskrise der säkular-nationalistischen Eliten breitere Gesellschaftsschichten für sich mobilisieren. Diese Bewegungen rekrutierten sich überwiegend aus Mitgliedern der Mittelschicht,
Gerade aufgrund der Entwicklungswege der 1960er und 1970er Jahre waren in vielen arabischen Rentierstaaten breite Mittelschichten entstanden. Neben der direkten Kooptation in die Staatsklasse durch verschiedene Aufstiegskanäle wie die Massenorganisationen, die herrschenden Parteien oder die Bürokratie bot der riesige öffentliche Sektor soziale Aufstiegsmöglichkeiten. Mit Hilfe der Erdölerlöse erzielten die Staatsführungen beachtliche soziale Fortschritte. Die Schaffung von Arbeitsplätzen, Lohnsteigerungen, Kaufkrafterhöhungen, niedrige Preisen für Konsumgüter durch staatliche Subventionen und ein kostenloses Gesundheits- und Schulsystem erhöhten den Lebensstandard und den Wohlstand der breiten Bevölkerung. Durch Rentenakkumulation und Rentendistribution gewann der Staat ein hohes Maß an Autonomie gegenüber der Gesellschaft und band zugleich diverse Gruppen der Gesellschaft klientelistisch an sich. Durch die auf der politisch motivierten Rentendistribution fußende Sozialpolitik konnte die herrschende Klasse alle gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Bereiche an sich binden und dadurch die für den sozialen Aufstieg nötigen "Kapitalsorten" determinieren.
Das Scheitern der Entwicklungsmission durch den Niedergang der staatlichen Renten ab Anfang der 1980er Jahre führte zur Diskreditierung der nationalistisch-laizistischen Diskurse. Die Legitimitätskrise der herrschenden Klassen sowie die veränderten internationalen Umstände führten zur so genannten politischen und ökonomischen Öffnung (Infitah) in den meisten Ländern der MENA-Region. Die beiden oft euphorisch und verfrüht als Demokratisierung und Liberalisierung bezeichneten Strategien gelten jedoch eher als das, was Naomi Chazan
Unter diesen Umständen boten sich der Islam bzw. die Ethnie und Identität (z.B. die Berberbewegung in Nordafrika) als neue Kanäle sozialen Protests an. Soziologisch
Zurecht weist Gilles Kepel
Gerade wegen der politischen und soziologischen Heterogenität ihrer Anhängerschaft und den daraus resultierenden diametral entgegengesetzten politischen Erwartungen der beiden gesellschaftlichen Schichten können sich solche Bewegungen nur schwer wie eine moderne politische Partei organisieren und sind deswegen zum Scheitern bzw. zur Spaltung verurteilt. Zugleich scheint gerade nach den Bürgerkriegserfahrungen in Algerien und Ägypten - wobei die Fälle Palästina und Libanon aus anderen Gründen eine Ausnahme bilden - Gewalt als Strategie islamistischer Bewegungen gescheitert zu sein.
Beispiele aus Asien zeigen, dass die Rolle dieser neuen Mittelschicht als Träger einer politisch-demokratischen Kultur umstritten und unsicher ist. In vielen Ländern haben sie sich mit den autoritären Regimen arrangiert. Die Angehörigen der neuen Mittelschichten haben kein großes Interesse an einer demokratischen Entwicklung, sondern vielmehr an einer staatlich gelenkten Kapitalisierung. Ihren Aufstieg und ihren Status sehen sie in der Stärkung staatlicher Aufgaben.
Jedoch hängt der Wille zur Partizipation nicht allein von den islamistischen Parteien ab. Letzten Endes, trotz fast 20 Jahren kosmetischer Reformen in der MENA-Region, entscheiden immer noch die autoritären Regime darüber, welchen Akteuren der Zugang zum politischen System gewährt wird. Zwischen Integration, Exklusion und Inklusion verfolgen die Staaten der MENA-Region unterschiedliche Strategien in ihrem Umgang mit islamistischen Parteien.
Islamistische Parteien: Wahlen, Programme und Strategien
Die islamistischen Parteien befinden sich seit einigen Jahren in einem intensiven Lern- und Transformationsprozess. Nach Wahlerfolgen bei den ersten freien und pluralistischen Wahlen in vielen Staaten der MENA-Region haben auch diese Parteien, zumindest auf lokaler Ebene, politische Verantwortung übernommen. Somit müssen sie nicht nur ihren Wählern, sondern auch den Medien Rede und Antwort stehen.
Zugleich vollzieht sich durch den Einzug in die Nationalparlamente eine Institutionalisierung und Modernisierung der Parteistrukturen. Durch die Teilnahme an Parlamentsausschüssen und parlamentarischen Arbeitsgruppen lernen die Abgeordneten islamistischer Parteien nicht nur mit ideologischen Gegnern (etwa Nationalisten und Kommunisten) zusammenzuarbeiten, sondern auch, auf unterschiedlichen Politikfeldern ökonomisch und politisch und nicht religiös zu argumentieren. Dieser Lernprozess schlägt auf die innerparteilichen Debatten und die Streitkultur durch und führt zur "Deradikalisierung" und Professionalisierung.
Die Partizipation am politischen Wettbewerb ist mit politischen Kosten verbunden. Die islamistischen Parteien scheinen in ein "Partizipationsdilemma" geraten zu sein: Durch ihre Kooptation nehmen sie es in Kauf, bei den Marginalisierten der Gesellschaft, einem wichtigen Teil ihrer Anhängerschaft, an Glaubwürdigkeit zu verlieren. Die Erfahrungen islamistischer Parteien in Marokko, Algerien, Jordanien und im Jemen zeigen, dass die Parteien durch solche Prozesse schwächer und nicht stärker geworden sind. Auch die politische Einflussnahme, die sich solche Parteien durch die Präsenz in den Parlamenten oder durch die Beteiligung an Regierungskoalitionen versprochen haben, entpuppt sich oft als unrealistisch. Die Parteien sehen ihre Rolle nun häufig als Wächter der islamischen Moral und beschränken sich auf die Durchsetzung einiger eher kosmetischer Gesetze, etwa des Verbots der Ausstrahlung der so genannten "Star Akademie"
Gewollt oder ungewollt sind islamistische Parteien längst zur Hauptsäule der autoritären Regime geworden. Durch ihre so genannte "kritische" Partizipation verleihen sie den Regimen Legitimation und verhindern die Entstehung eines schlagkräftigen Oppositionsblocks. Weiterhin profitieren die ins Parlament gewählten Mitglieder islamistischer Parteien direkt und indirekt von der staatlichen Rentenvergabe und von diversen anderen Begünstigungen, etwa der Vergabe von Importlizenzen. Die Gehälter von Abgeordneten sind in diesen Ländern unverhältnismäßig hoch. Inzwischen verfolgen auch viele Mitglieder islamistischer Parteien vor allem ihre Geschäftsinteressen und sind in Korruptionsaffären verstrickt.
Moderate Islamisten als Partner für Europa?
Die Außenpolitik Europas gegenüber der arabisch-islamischen Welt basiert spätestens mit der im Jahre 1995 in Barcelona initiierten Euro-Mediterranen Partnerschaft (EUROMED) auf den beiden Säulen Demokratisierung und Marktwirtschaft. Das Ziel Europas ist die Schaffung einer Zone des Friedens, der Sicherheit und der Prosperität an seiner Peripherie durch den Export von Demokratie und Marktwirtschaft. Jedoch scheint diese Strategie, wie der Ausgang dieses so genannten Barcelona-Prozesses zeigt, weitgehend gescheitert zu sein.
Es drängt sich die Frage auf, ob islamistische Parteien als Partner für die EU in Frage kommen, um die oben beschriebenen Ziele der EU zu realisieren. Wie stehen islamistische Parteien Demokratie und Marktwirtschaft gegenüber? Eine Analyse der Parteiprogramme ergibt, dass islamistische Parteien zwar Marktöffnung fordern und die staatsinterventionistische Vergeudung von Ressourcen kritisieren, dem Staat aber weiterhin eine wichtige Rolle zuweisen, insbesondere in den Außenwirtschaftsbeziehungen, wo sie am Argument erlittener kolonialer Ausbeutung festhalten.
Die Texte dieser Parteien entwickeln sich von einer kulturalistisch gefärbten Beschreibung von Prinzipien der moral economy zu einer pragmatischen Darstellung von Politiken, die Markt und Plan unter den Bedingungen der Globalisierung mit dem Schutz der nationalen Wirtschaft vor Importkonkurrenz und der Förderung von Exportmöglichkeiten verbinden, von denen Beschäftigung und technologische Entwicklung erwartet werden. Die Parteien plädieren in ihren Programmen für größere Spielräume für den Privatsektor bei gleichzeitiger Verstärkung des Wohlfahrtstaates und verurteilen Verschwendung und Korruption. Sie sind gegen Planwirtschaft, sprechen sich aber nicht etwa für die Abschaffung des öffentlichen Sektors, sondern für seine Regulierung durch den Staat aus. Islamistische Parteien lehnen einen "wilden" Kapitalismus ab,
Diese programmatische Ausrichtung ist strukturell bedingt. Da die Angehörigen der neuen Mittelschichten die Hauptklientel islamistischer Parteien ausmachen, sind auch die wirtschaftlichen Programme auf die Mittelschicht ausgerichtet.
Zur Frage nach dem Verhältnis von moderaten islamistischen Parteien zur Demokratie bzw. zur Frage der Vereinbarkeit von Demokratie und Islam ist eine Fülle an wissenschaftlicher Literatur vorhanden. Dabei kommen die Autoren zu völlig unterschiedlichen Ergebnissen, die von Kompatibilität bis zur Unverträglichkeit von Islam und Demokratie reichen.
Tatsache ist, dass islamistische Parteien Demokratie aus strategischen und/oder Überzeugungsgründen in ihren Programmen fest verankert haben. Sie tendieren immer mehr dazu, Förderer und Forderer der Demokratie zu sein. Dabei wird Demokratie aber nicht als westliches Produkt verstanden, sondern oft auf ihre technische Seite reduziert. Islamistische Parteien treten für mehr Transparenz und für die Etablierung und Einhaltung demokratischer Spielregeln ein. Durch die Einbindung in das parlamentarische und bürokratische System lernen die Parteien nationale Interessen in den Vordergrund zu stellen und ihre Ideologie hintanzustellen. Darüber hinaus ist ein wachsender Pragmatismus im Verhalten moderater islamistischer Parteien bei der Handhabung politischer Probleme sowie eine zunehmende Bereitschaft zur Kooperation mit säkularen Akteuren festzustellen.
Auch in Bezug auf Kontakte mit der für die EU sowie die Agenturen der Entwicklungspolitik so wichtigen Zivilgesellschaft ist es mittlerweile nicht mehr zu bestreiten, dass islamistische Parteien auf Grund ihrer "Volksnähe" gute Beziehungen zu diversen zivilgesellschaftlichen Gruppierungen pflegen.
Dabei gibt es auf Seiten islamistischer Parteien - auch nach den Erfahrungen von Hamas in den Palästinensischen Gebieten nach ihrem Wahlerfolg und der widersprüchlichen Haltung des Westens - zunehmend Skepsis gegenüber der Frage, ob "der Westen" mit "Demokratie" auch wirklich Demokratie meint.