Einleitung
In seiner im Winter 1942/43 verfassten Schrift "Selbstbesinnung und Selbstkritik" beschäftigte sich Herbert Wehner, der zu diesem Zeitpunkt in Schweden im Gefängnis saß, mit den Gründen für den Erfolg des Nationalsozialismus im Deutschen Reich. Nur wenige Monate zuvor war er in Moskau damit beauftragt worden, den illegalen Apparat der KPD wieder aufzubauen, um auf den Sturz des NS-Regimes hinzuarbeiten. Als ihn die schwedische Polizei aufgrund der sich gegen einen fremden Staat richtenden Aktivitäten inhaftierte, wurden diese Vorbereitungen jäh unterbrochen.
Mit seiner unvollendeten und unveröffentlicht gebliebenen Bekenntnisschrift verfolgte Wehner ein zweifaches Ziel. Zum einen ging es ihm um eine Klärung seines persönlichen Standortes in der sozialistischen Arbeiterbewegung, zum anderen um eine Neuorientierung ihres politischen Kampfes gegen den NS-Staat. Als Ausgangspunkt diente Wehner die zutreffende Beobachtung, dass es bislang keine überzeugende marxistische Analyse der Ursachen jenes beispiellosen Siegeszuges gebe, den der Nationalsozialismus seit 1930 im Deutschen Reich angetreten hatte.
Ins Zentrum seiner Analyse rückte er die soziale Praxis der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP), in der Wehner das Geheimnis jener Erfolge erblickte. Für ihn war die NSDAP eine "Partei mit den vielen Gesichtern", die während der Weimarer Zeit drei außergewöhnliche Neuerungen in das politische System eingeführt hatte.
Die klassenübergreifende Propaganda, die Integration breiter Bevölkerungskreise in ihre Apparate und deren ständiger Einsatz waren, folgt man Wehner, nicht nur für die Wahlsiege der NSDAP bis 1932/33 verantwortlich. Vielmehr bildeten diese drei Herrschaftstechniken auch nach Adolf Hitlers Ernennung zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 das Lebenselixier der NSDAP. Es entstand ein unüberschaubares Geflecht nationalsozialistischer Organisationen, dem schließlich die überwiegende Mehrheit der deutschen Bevölkerung angehörte. Deren Einbeziehung in die weit verzweigten Apparate der NSDAP deutete Wehner fast ausschließlich als Ausfluss von mehr oder weniger direktem Zwang. Über die daraus resultierende Konsequenz, dass die Bevölkerung den ideologischen Zwecken des Nationalsozialismus dienstbar gemacht wurde, gab er sich keinerlei Illusionen hin. Umso dringender war es ihm, Antworten auf zwei wesentliche Fragen zu finden: Wie war es der NSDAP gelungen, aus den Hinterzimmern der Münchener Bierkeller heraus zur Massenpartei zu werden, der zu diesem Zeitpunkt, 1942/43, fast sieben Millionen Personen angehörten? Welche Mechanismen hatten dazu geführt, dass sich eine noch viel größere Zahl von Mitgliedern in ihren Nebenorganisationen einfand, die sich anscheinend beliebig für die Interessenlagen der NSDAP mobilisieren ließen? Beide Fragen sollten den archimedischen Punkt jeder Geschichte der NSDAP bilden.
Im Folgenden wird auf der Basis der neueren Forschung zum Thema versucht, mögliche Antworten einzukreisen. Dabei geht es weniger darum, neue Thesen zur sozialen Schubkraft der NSDAP vor und nach 1933 zu entwickeln und nach Gründen für ihre dynamische Entwicklung zu suchen. Im Mittelpunkt steht vielmehr eine methodische Herangehensweise, mit der sich die Forschung vielleicht selbst überraschen könnte.
Interaktionsraum Ortsgruppe
Die NSDAP wurde im Januar 1919 von dem Werkzeugschlosser Alfred Drexler und dem Journalisten Konrad Harrer unter dem Namen "Deutsche Arbeiterpartei" in München gegründet. Sie gehörte zu einem Netzwerk "völkischer" Geheimbünde und Sekten, die zu dieser Zeit in der bayerischen Hauptstadt aus dem Boden schossen und deren einziger gemeinsamer Nenner in radikalem Antisemitismus bestand. Wenig später stieß Hitler zu dieser Partei und entwickelte sich aufgrund seines Rednertalents bald zur unverzichtbaren Integrationsfigur. Schnell übernahm er den Vorsitz der NSDAP und verwandelte sie in eine "Führerpartei", deren unumschränkter Herrscher er selbst war.
In der Ortsgruppe München schuf sich Hitler eine innerparteiliche Hausmacht.
Dagegen nahm sich das Parteiprogramm vom 24. Februar 1920, das Hitler und Drexler gemeinsam entworfen hatten, vergleichsweise moderat aus. Darin verlangte die NSDAP, dem Deutschen Reich die durch den Versailler Vertrag abgetrennten Gebiete wieder zurückzugeben und das Recht auf überseeische Kolonien zuzugestehen.
Nachdem der Putschversuch der NSDAP in München in der Nacht vom 8. auf den 9. November 1923 kläglich gescheitert war, schien das Ende dieser immer noch auf Bayern beschränkten Splitterbewegung besiegelt zu sein. Doch Hitler baute nach seiner Haftentlassung die NSDAP im Februar 1925 neu auf und konzentrierte sich auf deren Ausbreitung außerhalb Bayerns. Weil das Preußische Innenministerium ihn mit Redeverbot belegt hatte, musste Hitler Personen seines Vertrauens gewinnen, die für die weitere organisatorische Verfestigung der Partei und die Einverleibung konkurrierender "völkischer" Gruppierungen sorgten. Er betraute Gregor Strasser mit dem Aufbau der Partei in Nord- und Westdeutschland. Strasser und seine Gefolgsleute waren eine der Münchener Gruppe um Hitler gleichwertige Kraft, ohne freilich dessen Führungsanspruch in Frage zu stellen.
Im Hinblick auf die Bindung zwischen Hitler und seinen Gefolgsleuten werden die Strukturprinzipien der NSDAP in der Regel als "charismatisch" bezeichnet.
Massenbewegung des Protests
Um zur Massenbewegung zu werden, reichte es für die NSDAP nicht mehr aus, sich in erster Linie auf Interaktionen im Freundes- und Bekanntenkreis zu stützen. Sie musste sich nach außen wenden und an Wahlen teilnehmen. Dies war gleichbedeutend mit der Notwendigkeit, eine politische Taktik zu entwickeln, um Wählerstimmen zu gewinnen. Die NSDAP konstituierte sich von 1928/29 an daher zunehmend als Protestbewegung. Damit ist nicht nur gemeint, dass sie gegen gesellschaftliche Missstände protestierte und Abhilfe versprach, wie es ein generelles Kennzeichen von Protestbewegungen ist.
Mobilisierung durch Protest stößt schnell an Grenzen, wenn die Massenmedien die von einer sozialen Bewegung besetzten Themen nicht oder nur unzureichend aufnehmen. Die NSDAP war jedoch in einer komfortablen Position, weil ihre Fundamentalopposition eine unerschöpfliche Themenpalette implizierte und es ihr erlaubte, immer mehr Themen zu politisieren. Zusätzlich steuerte sie einer Stagnation ihrer Mobilisierung auf zweierlei Art und Weise entgegen: Zum einen stampfte sie einen eigenen Medienkonzern aus dem Boden, der für Publizität sorgte. Zum anderen garantierten die Gewalttaten ihrer paramilitärischen Sturmabteilung (SA) eine permanente mediale Prominenz. Die Gewalt der SA war eine bewusste und kalkulierte. Sie richtete sich gegen die politischen Gegner, also in erster Linie gegen Kommunisten und Sozialdemokraten, und zielte auf deren Lahmlegung ab.
In der überbordenden Straßengewalt der SA zeigte sich jenes Charakteristikum, das die Forschung oftmals "faschistisch" nennt. Der Begriff stammt vom italienischen fascio (Bund) ab und ist seit den 1960er Jahren zu einem systematischen Vergleichskonzept für soziale Bewegungen (teilweise auch politische Regime) ausgebaut worden. Unter "Faschismus" wird seither ein Zusammenhang zwischen antisemitisch-rassistischer und extremnationalistischer Ideologie, einer dualen Struktur von Partei und paramilitärischer Bewegung und einer sozialen Praxis verstanden, bei der Gewalt einen hohen Stellenwert besitzt.
Der Begriff der Protestbewegung geht darüber hinaus und bezieht auch Umweltbedingungen ein. So profitierte die NSDAP von der Beschleunigung der technologischen Entwicklung, des sozialen Wandels sowie des allgemeinen Lebenstempos, die sich in den 1920er Jahren zu einer besonderen Krise verdichteten.
Netzwerk von Organisationen
Nach der Reichstagswahl vom 5. März 1933 begann ein Prozess, den man als Ausdifferenzierung immer neuer Apparate aus der NSDAP bezeichnen kann.
Zu Beginn des Zweiten Weltkrieges umfassten die Partei, ihre Gliederungen und angeschlossenen beziehungsweise betreuten Verbände schätzungsweise zwei Drittel der Bevölkerung im "Großdeutschen Reich".
Aus den genannten Gründen ist es notwendig, die gängige Begrifflichkeit für die soziale Praxis der NSDAP nach 1933 zu verändern. Als Netzwerk von Organisationen zielte sie zunehmend weniger auf Sozialdisziplinierung. Vielmehr bot die NSDAP ihren Mitgliedern viele Möglichkeiten, die sich primär auf ihren Binnenbereich bezogen und materielle, politische wie auch fachliche Aspekte umfassten. In der Partei, den Gliederungen sowie den angeschlossenen und betreuten Verbänden gab es drei Gruppen von Mitgliedern: hauptamtliche Funktionäre, ehrenamtliche Funktionäre und Beitragszahler. Die Bezahlung der Hauptamtlichen entsprach in der Regel einem vergleichbaren staatlichen Amt. In der Partei und in einigen Gliederungen standen ihnen finanzielle Entschädigungen zu, wenn sie im Einsatz für ihre Organisationen Sach- oder Personenschäden erlitten. Zusätzlich genossen sie das Privileg, unter bestimmten Umständen vom "Wehrdienst" zurückgestellt werden zu können. Ehrenamtliche Funktionäre besaßen, wie die neuere Forschung gezeigt hat, umfassende Herrschaftsmöglichkeiten in ihren lokalen Milieus.
Inklusion und Exklusion
Das Mitgliederwachstum in der NSDAP ging bis zum 8. Mai 1945 ungebrochen weiter. Zu diesem Zeitpunkt gehörten der Partei rund neun Millionen Personen an; für die Gliederungen sowie die angeschlossenen und betreuten Verbände lassen sich keine exakten Zahlen mehr feststellen. Die NSDAP hatte eine neue Differenz etabliert, die sich für das Alltagsleben im "Dritten Reich" als wichtig erwies: die zwischen Mitgliedschaft und Nichtmitgliedschaft. Ihre Mitgliederzahl stieg, der Anteil der Nichtmitglieder sank kontinuierlich. Im Verlauf dieses Prozesses kristallisierte sich die Regelung von Inklusion und Exklusion als eigentliche Funktion der NSDAP heraus. Dabei fungierte der individuelle Mitgliederstatus als erster Filter.
Inklusion und Exklusion bilden eine soziologische Unterscheidung, die Niklas Luhmann im Anschluss an einschlägige Überlegungen Talcott Parsons' und Thomas H. Marshalls erarbeitet hat. Sie tritt an die Stelle der bisherigen Begriffe der sozialen Ungleichheitsforschung beziehungsweise der sozialen Integration von Individuen. Luhmann zufolge sind Inklusion und Exklusion nicht etwa mit Zugehörigkeit und Nichtzugehörigkeit von Personen in Interaktionen, Organisationen und den Funktionssystemen der Gesellschaft deckungsgleich, wie es ein umgangssprachliches Verständnis suggeriert.
Zur Verdeutlichung dieses Aspektes bedarf es einer weiteren Überlegung. In den modernen, nach dem Primat der funktionalen Differenzierung organisierten Gesellschaften (dazu zähle ich den NS-Staat, ohne es an dieser Stelle ausführlich begründen zu können) obliegt die Regelung von Inklusion und Exklusion den Funktionssystemen, also beispielsweise Recht, Wirtschaft oder Wissenschaft. Nach 1933 vollzogen sich Inklusionen und Exklusionen auch weiterhin auf dieser Ebene. Dabei ist jedoch in Rechnung zu stellen, dass die NSDAP sukzessive an die Funktionssysteme andockte. So agierten zum Beispiel die Deutsche Arbeitsfront im Wirtschaftssystem, die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt im System der Sozialen Hilfe und die Hitler-Jugend (HJ) im Erziehungssystem. Die Differenz zwischen Mitglied und Nichtmitglied in der NSDAP entwickelte sich mehr und mehr zur doppelten Voraussetzung für Inklusionen: Zum einen entschied sie über die Möglichkeit, einen Beruf innerhalb eines Funktionssystems auszuüben, zum anderen über den Grad, inwieweit eine Person als deren Klient behandelt wurde. Individueller Mitgliederstatus in der NSDAP wurde mithin zum Zugangskriterium für Leistungs- und Publikumsrollen in den Funktionssystemen. Für Jugendliche, die eine Berufsausbildung machen wollten, war es geradezu obligatorisch, der HJ anzuhören. Lehrer mussten dem NSLB beitreten, und Rechtsanwälte wurden bei Gericht nur dann zugelassen, wenn sie im Nationalsozialistischen Rechtswahrerbund waren. Für die Inklusion in die Publikumsrollen erwiesen sich "politische Beurteilungen" als wichtig. Bevor jemand befördert wurde oder staatliche Leistungen erhielt, waren die Verwaltungsbehörden gehalten, dessen "politische Unbedenklichkeit" bei den Parteidienststellen feststellen zu lassen. Zentrales Kriterium dieser "politischen Beurteilung" war der Mitgliedsstatus des Antragstellers in der NSDAP.
Die NSDAP beschränkte sich nicht darauf, ihren Mitgliedern einen Raum an Möglichkeiten bereitzustellen. Gleichzeitig verwehrte sie ihren Gegnern diese Möglichkeiten und entwickelte sich zu einem Instrument der Exklusion. Zu diesem Zweck schuf die NSDAP eine "Gegnerhierarchie", an deren Spitze die Juden standen, gefolgt von sowjetischen und polnischen Zwangsarbeitern. Diese Gruppen wurden zum einen Opfer gezielter Gewalttaten der NSDAP, zum anderen wirkte die Partei an deren systematischer Ermordung mit, indem sie sich zum Beispiel an den "Judendeportationen" der Jahre 1941/42 beteiligte. Die Gewalt der NSDAP gegen Juden und andere "Fremdvölkische" vollzog sich als Frontalangriff auf deren Körper: Ihre Opfer sollten vorsätzlich verletzt werden. Mitglieder von SA, Schutzstaffel (SS), NSKK und HJ waren dafür prädestiniert, weil sie eine paramilitärische Sozialisation durchlaufen hatten. Nicht wenige Täter waren diesen Organisationen erst nach 1933 beigetreten und sahen Gewalt als Bewährung für höhere Aufgaben an. Die Gewalt der NSDAP besaß also auch eine kaderpolitische Funktion. Andere "Gegnergruppen" wie Sinti und Roma, Homosexuelle, Kommunisten und Zeugen Jehovas litten ebenfalls stark darunter. Auch sie wurden in Konzentrationslager gepfercht, in denen sie unter entwürdigenden Umständen ihr Dasein fristeten, auch wenn sie größere Überlebenschancen hatten als Juden.
Weiterhin erwies es sich für alle Gruppen von "Gegnern" als bedeutsam, dass die NSDAP auch in den übrigen Organisationen und in den Funktionssystemen der Gesellschaft Exklusionen auslöste. Hierfür war die Dienststelle des Stellvertreters des Führers/Partei-Kanzlei, das Zentralorgan der NSDAP, von großer Bedeutung. Diese Dienststelle besaß weitgehende Mitwirkungsrechte an der Gesetzgebung und an der Personalpolitik.
Die NSDAP und die vier Formen des Sozialen
Herbert Wehner hatte Recht, wenn er die NSDAP in seiner eingangs zitierten Schrift als "Partei mit den vielen Gesichtern" bezeichnete. Und ebenfalls ist ihm darin zuzustimmen, in "Massenwerbung, Massenzusammenballung und Massenbewegung" drei wesentliche Aspekte ihrer sozialen Praxis zu sehen. Wie andere zeitgenössische Interpreten hat Wehner aber die Dichotomie zwischen "Herrschaft" (hier: der NSDAP) und "Gesellschaft" (hier: der Bevölkerung) überschätzt. Der NSDAP war es ja gerade gelungen, beide Bereiche immer mehr miteinander zu verschmelzen, indem sie Funktionären und Mitgliedern nach ihrer Machtübernahme vielfältige Möglichkeiten bot. Die wichtigste bestand darin, sich selbst Herrschaft aneignen zu können, und die hohe Zahl an Funktionären zeigt, dass dieses Angebot gerne angenommen wurde.
In der Geschichte der NSDAP lassen sich insgesamt vier Formen des Sozialen ausmachen, die sich zwar überlagerten, aber jeweils eine bestimmte Entwicklungsphase dominierten. Die NSDAP hatte als Partei begonnen, die auf nachbar- und freundschaftlichen Interaktionen basierte. In einer zweiten Phase seit 1925/26 konstituierte sie sich als Protestbewegung. Die Form "Protest" bestand in einer Fundamentalopposition gegen die Weimarer Republik und konkretisierte sich in der permanenten Mobilisierung durch Propaganda und Gewalt. Nach der Reichstagswahl vom 5. März 1933 rückte drittens der Ausbau der NSDAP zu einer formalen Organisation ins Zentrum ihrer Aktivitäten. Mit dem Zustrom neuer Mitglieder zur Partei und mit der "Gleichschaltung" der Vereine, Organisationen und Verbände differenzierten sich in der NSDAP viertens jene riesenhaften bürokratischen Apparate aus, die es ihr ermöglichten, die gesellschaftlichen Strukturen zu transformieren. Indem sie Inklusion und Exklusion immer wieder neu regelte, führte die NSDAP Veränderungen zwischen den Funktionssystemen herbei, die auf eine schleichende Überwindung des Primats funktionaler Differenzierung hinausliefen. Letztlich bedurfte es des militärischen Sieges der Alliierten, um diese Entwicklung aufzuhalten.