Einleitung
In den 1970er Jahren lautete ein beliebtes Argument gegen den Totalitarismusbegriff - jedenfalls in der Bundesrepublik Deutschland, nicht in Frankreich, wo Alexander Solschenizyns Enthüllungen einen regelrechten Schock bei Intellektuellen hervorgerufen hatten -, dieser sei ohne (sonderlichen) Erkenntniswert. Nach dem so abrupten wie überraschenden, nahezu weltweiten Zusammenbruch des "real existierenden Sozialismus" erlebte der Begriff jedoch eine ungeahnte wissenschaftliche Renaissance.
Wenn das Extremismuskonzept nicht in ähnlichem Maße reüssieren konnte, erscheint dies inkonsequent. Denn der Extremismusbegriff stellt eine Anwendung des Totalitarismus- bzw. Autoritarismuskonzepts auf diejenigen Kräfte innerhalb des demokratischen Verfassungsstaates dar, die diesem offen oder verdeckt den Kampf angesagt haben. Gelangen sie an die Macht, so spricht vieles für den folgenden Sachverhalt: Sie schränken die demokratische Ordnung ein oder beseitigen sie gar.
Dieser Beitrag soll den wissenschaftlichen Wert des Extremismusbegriffs für die Parteienforschung erhellen. Wer Politikwissenschaft (auch) als Demokratiewissenschaft versteht, kommt nicht an der Extremismuskonzeption vorbei, ohne deswegen die Plausibilität anderer Ansätze in Zweifel zu ziehen. Der Vergleich gegensätzlicher - und doch verwandter - Phänomene ist ein anspruchsvolles Unterfangen.
Extremismusforschung
Für die Extremismusforschung ist der Gegensatz zwischen "extremistisch" und "demokratisch" fundamentaler Natur. Extremismus stellt die Antithese des demokratischen Verfassungsstaates dar. Der Extremismusbegriff, der eine lange, bis auf Platon und Aristoteles zurückreichende Tradition aufweist,
Extremismus tritt in vielerlei Varianten auf (mit fließenden Übergängen): So könnte man von einem aktions-, parlaments- und einem diskursorientierten Extremismus sprechen. Zur ersten Rubrik gehören etwa "Autonome" und Skinheads, auch alle terroristischen Bestrebungen. In die zweite fallen die Parteien, in die dritte intellektuelle Bestrebungen, die mit Begriffen wie "Neue Linke" oder "Neue Rechte" höchst unscharf umschrieben sind. Neben harten Formen des Extremismus gibt es zunehmend weiche, also solche, die nur einzelne Elemente des demokratischen Verfassungsstaates in Frage stellen. Die Forschung vermag dabei in Grenzfällen abweichende Ergebnisse zu erzielen. Die Existenz von Grauzonen liegt in der Natur der Sache und kann nicht dem Extremismuskonzept an sich angelastet werden. Unterschiedliche Strömungen in einer Partei - eher extremistische wie eher demokratische - sind ebenso zu berücksichtigen wie Wandlungen.
Die Kritik am Terminus des Extremismus ist weit verbreitet und schillernd.
Wer das Extremismuskonzept in Frage stellt, negiert damit die Konzeption der streitbaren Demokratie, wie sie in der Bundesrepublik als Reaktion auf die leidvolle Vergangenheit gilt. Extremismus beginnt nicht erst bei der Bejahung oder gar Anwendung von Gewalt. Und: Der demokratische Verfassungsstaat ist vielfältig gefährdet. Jeder Rechtsextremist ist ein Antidemokrat, aber nicht jeder Antidemokrat ein Rechtsextremist, jeder Stalinist ein Linksextremist, doch nicht jeder Linksextremist ein Stalinist.
Extremistische Parteien sind somit solche, die den demokratischen Verfassungsstaat in Zweifel ziehen. Damit verwirft der Verfasser Typologien, die antidemokratische Positionen nur einer politischen Richtung zuschreiben. Ansonsten würde der zentrale Unterschied zwischen demokratischen und nicht-demokratischen Parteien höchst eigenwillig interpretiert - vorsichtig formuliert. Für den Schutz des demokratischen Verfassungsstaates ist die Frage von entscheidender Relevanz, ob die Parteien ihn bejahen oder ob sie es nicht tun - aus welcher Richtung auch immer. Dieser Frage kann und darf die Forschung nicht ausweichen.
Parteienforschung
Parteien lassen sich vielfältig typologisieren. Der Blick soll an dieser Stelle ausschließlich auf Demokratien gerichtet sein. Die Parteienforschung unterscheidet u.a. nach dem Organisationsgrad ("Wählerpartei versus Mitgliederpartei"), nach der Stärke der Partei ("Großpartei versus Kleinpartei") und nach dem politischen Einzugsbereich ("Volkspartei versus Interessenpartei"). Eine andere Möglichkeit liegt darin, die Frage nach der Stellung zum demokratischen Verfassungsstaat aufzuwerfen ("demokratische Partei versus extremistische Partei"). Diese Typologisierung ähnelt der Giovanni Sartoris ("Systemparteien" versus "Antisystemparteien").
Sigmund Neumann unterschied 1932, am Vorabend der "Machtergreifung" der Nationalsozialisten, in seinem Klassiker neben liberalen Repräsentationsparteien zwischen "demokratischen Integrationsparteien" (SPD, Zentrum) und "absolutistischen Integrationsparteien" (NSDAP, KPD). Während die demokratischen Integrationsparteien bei aller Bindung der Wähler an "ihre" Partei innere Demokratie zuließen, wiesen die absolutistischen Parteien - sie hatten bei beiden Reichstagswahlen 1932 eine "negative Mehrheit" - eine straffe und hierarchische Organisationsform auf. Scharfsinnig hatte Neumann beobachtet: "Für die absolutistische Integrationspartei ist jede ernstgemeinte und nicht nur taktische Parteien-Koalition unsinnig, sie kennt höchstens ein Parteien-Bündnis, sofern es eine Stärkung der eigenen Machtposition bedeutet. Im Grunde kann sie keinen Kompromiss schließen, kann sie keine gleichberechtigte Mitregierung neben sich dulden, oder sie muss an innerer Kraft verlieren."
So könnten Parteien, denen eine (teil-)extremistische Position nachgesagt wird, auf ihre Organisation, Ideologie und Strategie hin analysiert werden, um die drei wesentlichen Untersuchungsfelder für Parteien zu nennen. Das Ergebnis: Eine Partei wie "Die Linke", die nach Meinung des Verfassers eine weiche Spielart des Extremismus verkörpert, steht dem demokratischen Verfassungsstaat deutlich näher als die NPD mit ihrer harten Variante des Extremismus - ungeachtet ähnlicher Feindbilder (Kapitalismus, Globalisierung, USA). Manche Aussage lässt aufhorchen: Lothar Bisky, neben Oskar Lafontaine Vorsitzender der Partei "Die Linke", traf im Juni 2007 - auf der 3. Tagung des 10. Parteitages der "Linkspartei.PDS", einen Tag vor der Vereinigung mit der WASG - in einer Grundsatzrede die folgende Aussage: "Ja, wir diskutieren auch und immer noch die Veränderung der Eigentums- und Herrschaftsverhältnisse, und auch das unterscheidet eine neue Partei links von der Sozialdemokratie in Deutschland von anderen. Kurz gesagt: Wir stellen die Systemfrage! Für alle von den geheimen Diensten noch einmal zum Mitschreiben: Die, die aus der PDS kommen, aus der Ex-SED und auch die neue Partei DIE LINKE - wir stellen die Systemfrage."
Weitere Analysefelder wären Fragen nach der Gefahr für die demokratische Verfassungsordnung (nicht nur auf die Größenordnung bezogen, sondern auch auf den Einfluss der Eliten und auf die "Mehrheitskultur"), nach den Erfolgsbedingungen (mit Blick auf die Angebots- und die Nachfrageseite, wobei das Abschneiden umso schwächer ausfallen dürfte, je mehr sich die Parteien an diskreditierten historischen Vorbildern orientieren), nach dem extremistischen Intensitätsgrad (dessen Abschwächung hängt stark mit populistischen Elementen der extremistischen Parteien zusammen) und auch nach der Wechselbeziehung: Der Antifaschismus linksextremistischer Parteien hat auf die eigene Anhängerschaft weitaus mobilisierender gewirkt als der Antikommunismus rechtsextremistischer Parteien. Eine gegenseitige Aufschaukelung der beiden Lager ist in der Regel ausgeblieben. Allerdings gibt es Zusammenhänge: So wurzeln die Gewinne des rechtsextremistischen Front National in Frankreich offenkundig u. a. in den Verlusten der Kommunisten (u.a. aufgrund des Autoritarismus in Teilen der Arbeiterschaft);
Die Überwindung der Separierungstendenzen fördert neue Ergebnisse zutage, wie etwa die Studie Tom Thiemes zum parteipolitischen Extremismus in Osteuropa erhellt.
Parteiensysteme können nach bestimmten Eigenschaften untersucht werden: mit Blick auf die Fragmentierung, die Asymmetrie, die Volatilität, die Polarisierung und die Legitimität bei der elektoralen Dimension, mit Blick auf die Segmentierung und die Regierungsstabilität bei der gouvernementalen Dimension.
Schlussfolgerungen
Die Frage nach der Existenz extremistischer Parteien vermittelt aufschlussreiche Erkenntnisse über die Gefährdungen des demokratischen Verfassungsstaates, über die Erfolgsbedingungen, den extremistischen Intensitätsgrad, die möglichen Wechselwirkungen sowie über die Parteisystemeigenschaften "Polarisierung", "Legitimität" und "Segmentierung". Parteien, deren Positionen zumindest in einem Spannungsverhältnis zu demokratischen Prinzipien stehen, sollten nicht als Rand- oder Flügelparteien firmieren; diese Etikettierungen sind formaler Natur und lassen keine Rückschlüsse auf die Haltung zum demokratischen Verfassungsstaat zu.
Der verbreitete Eindruck, ein normativer Ansatz stünde einem empirisch-analytischen Ansatz gegenüber, ist so nicht triftig. Gero Neugebauer und Richard Stöss warnen in ihrer instruktiven Studie über die PDS davor, den Begriff der Partei "mit einem normativen Demokratiegebot (zu) überfrachten".
So wird die Partei "Die Linke" nicht müde, Antifaschismus zu propagieren. Darauf geradezu fixiert, will sie eine "antifaschistische Klausel" im Grundgesetz und in den Verfassungen der Bundesländer verankern. Dabei agiert sie mit ihrem antifaschistischen Impetus nicht nur gegen tatsächlichen Rechtsextremismus, sondern agitiert auch gegen "neoliberale" Strömungen.
Forschung ist nur dann Forschung, wenn sie ergebnisoffen bleibt. Eine extremismustheoretische Vergleichsuntersuchung von Parteien kann also durchaus zum Resultat fehlender Schnittmengen führen. Gleichwohl: Wir erfahren durch Vergleiche mehr über politische Parteien, die den ideologischen Antipoden zwar bekämpfen, ihm jedoch strukturell in mancher Hinsicht ähneln. Die Stärke extremistischer demokratischer Parteien signalisiert Integrationsdefizite der etablierten Parteien. Insofern ist der parteipolitische Extremismus eine Herausforderung für den demokratischen Verfassungsstaat. Er kann damit wider Willen zu seiner Revitalisierung beitragen.