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Äthiopien im Umbruch: Entwicklungsszenarien und ausländische Interessen

Stefan Brüne

/ 14 Minuten zu lesen

Sowohl China als auch Saudi-Arabien und die EU verfolgen mit Handelspartnerschaften eigene Interessen in Äthiopien. Im Land selbst gilt es, die lange autoritär geprägte Gesellschaft mit aktuellen Reformprozessen zu versöhnen.

Dem afrikanischen Kontinent stehen zukunftsweisende Veränderungen bevor. Bis 2050 wird sich die Zahl der in den 55 Mitgliedsstaaten der Afrikanischen Union (AU) lebenden Menschen auf über zwei Milliarden verdoppeln. Kamen 1950 nur 10 Prozent aller weltweit Neugeborenen in Afrika zur Welt, so werden es 2040 über 30 Prozent sein. Die Hälfte der afrikanischen Bevölkerung wird 2050 voraussichtlich jünger als 18 Jahre alt sein. Der demografisch beförderte Wandel geht mit beschleunigter Urbanisierung, dem Einflussgewinn wachsender Mittelklassen, einem beeindruckenden Mobilfunkboom und bislang ungekannten politischen Herausforderungen einher. Die Zahl der urbanen Mittelschichten zugerechneten Einwohnerinnen und Einwohner, die über ein Tageseinkommen von 5 bis 20 US-Dollar verfügen, dürfte sich schon bald vervielfachen. Auch das gestiegene Interesse Europas und Chinas an Afrika zeigt: Die politische und ökonomische Bedeutung des lange als arm und unterentwickelt beschriebenen Kontinents wächst.

Unterdessen sieht die von der AU verabschiedete "Agenda 2063" integratives Wachstum, nachhaltige Entwicklung, gute Regierungsführung, Frieden und Sicherheit, gemeinsame kulturelle Werte sowie eine von der Bevölkerung mitbestimmte Entwicklung des Kontinents vor. Es gelte das überkommene Zusammenspiel von Armut, Ungleichheit und schwachen staatlichen Institutionen entwicklungs- und zukunftsfest zu überwinden. Erste Vorhaben wurden bereits auf den Weg gebracht. Diese sollen dazu beitragen, die als demütigend empfundene Außenabhängigkeit des Kontinents zu mindern, nachdem bis 2016 über 70 Prozent des AU-Budgets von externen Partnern bereitgestellt wurden. 2018 haben 44 afrikanische Staaten ein kontinentales Freihandelsabkommen unterzeichnet, das innerafrikanische Entwicklungsprozesse beschleunigen soll. Seit der Jahrtausendwende hat sich Afrikas Handel mit der restlichen Welt – vor allem der Austausch mit China und Indien nahm zu – mehr als verdreifacht. Historisch gewachsene beziehungsweise kolonial erzwungene Abhängigkeiten verlieren an Bedeutung, wenngleich sozial und regional in unterschiedlichem Ausmaß.

Was bedeutet all das für die Demokratische Bundesrepublik Äthiopien? Einerseits gilt das zweitbevölkerungsreichste afrikanische Land als aufstrebende, wirtschaftlich beeindruckend erfolgreiche Regionalmacht, die mit klaren Zielvorgaben – Ausbau der verarbeitenden Industrie, Exportorientierung, landwirtschaftliche Industrialisierung – staatsgelenkten Fortschritt auf den Weg gebracht hat. Andererseits zählt der Vielvölkerstaat mit einem jährlichen Pro-Kopf-Einkommen von rund 950 US-Dollar nach wie vor zu den ärmsten Ländern der Welt. Laut Weltbank leben etwa 30 Prozent der äthiopischen Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze, und im Human Development Index 2019 der Vereinten Nationen belegt das Land Platz 173 (von 189).

Zugleich tut sich lange Unerwartetes. Seit seinem Amtsantritt im April 2018 hat der junge Premierminister Abiy Ahmed Ali, der selbst der Bevölkerungsgruppe der Oromo angehört, das Ende der politischen Dominanz der Tigray eingeleitet, Tausende politische Gefangene freigelassen und sich zur Aufgabe gemacht, die Korruption durch Reformen effektiv zu bekämpfen. Zudem beendete er den opferreichen Konflikt mit Eritrea, sprach sich für eine stärkere Förderung von Demokratie und Menschenrechten aus und regte eine bessere Zusammenarbeit der teilweise zerstrittenen ethnischen Gruppen an. Seinem verschlankten Kabinett gehören je zehn Männer und zehn Frauen an, darunter – weltweit einzigartig – eine "Ministerin für Frieden".

Trotz Versuchen, ihn gewaltsam wieder aus dem Amt zu entfernen, gelang es Abiy bislang, den Reformkurs beizubehalten. Mit Blick auf die nächsten Parlamentswahlen erweist sich die Registrierung politischer Parteien jedoch als schwierig. Denn zum einen gibt es Einflussansprüche ethnisch motivierter Akteure, die eigene Gliedstaaten bilden wollen, zum anderen hat sich unter den Tigray im Gefolge ihres Machtverlusts Frustration breitgemacht. Der Premierminister, der erklärt hat, für maximal zwei Amtszeiten zur Verfügung zu stehen, sieht diesen Problemen und der Wahl dennoch optimistisch ins Auge: "Sei es die Wahl in diesem Jahr oder die nächste: Es ist unmöglich, in Äthiopien eine Wahl abzuhalten, ohne dass es Probleme oder Herausforderungen gibt. Demokratie ist eine ständige Übung und eine Kultur – und das ist sie, indem wir sie ausüben, indem wir wählen, und nicht, indem wir davor wegrennen." Dass der für August 2020 vorgesehene Wahltermin wegen der Corona-Pandemie nun jüngst auf unbestimmte Zeit verschoben werden musste, konnte er da noch nicht ahnen.

Angesichts der jüngeren Entwicklungen unter Abiy und dem Umstand, dass Äthiopiens Volkswirtschaft seit Jahren zu den weltweit am schnellsten wachsenden gehört, gilt das Land mehr denn je als "Vorzeigestaat" in Subsahara-Afrika. Entsprechend groß ist das Interesse ausländischer Investoren. Ihr "Entwicklungsengagement" ist jedoch nicht unumstritten: Anhaltenden Unmut provoziert etwa die großzügige Verpachtung landwirtschaftlich genutzter Flächen an ausländische Firmen, was häufig als "Landraub" (land grabbing) kritisiert wird. Im Folgenden werde ich exemplarisch die chinesische, die saudi-arabische sowie die europäische Afrika- beziehungsweise Äthiopienpolitik in den Blick nehmen, um zu zeigen, wie sie sich auf die äthiopische Wirtschaft auswirken und welche Interessenkonflikte und -konkurrenzen damit verbunden sind.

Chinas Afrikapolitik

Die Zeiten, in denen sich die chinesische Afrikapolitik auf die Unterstützung von Konfuzius-Instituten beschränkte, sind lange vorbei. Wenige Jahrzehnte chinesischen Engagements haben deutlichere Spuren hinterlassen als ein halbes Jahrhundert westlicher "Entwicklungshilfe". 2011 hat die Volksrepublik die USA als wichtigsten Handelspartner Afrikas überholt. Das Volumen des Güteraustausches hat sich seit Beginn des Jahrtausends von 10 auf über 200 Millionen US-Dollar verzwanzigfacht, in 54 afrikanischen Ländern sind über 2500 chinesische Firmen aktiv. Über eine Million Chinesinnen und Chinesen leben und arbeiten in Afrika.

Dabei verfolgt Peking eine Strategie, die sich erkennbar von westlich geprägter Zusammenarbeit unterscheidet: Statt auf "klassische" Hilfsprojekte zu setzen, schlägt sich das chinesische Engagement in verstärktem Handel und mehr Direktinvestitionen nieder. Während kritische Stimmen vor den unerwünschten Folgen autoritär beförderter Zusammenarbeit warnen und auf verbreitete Korruption verweisen, heben zahlreiche afrikanische Beobachter die als beeindruckend beschriebenen Erfolge erzwungener Modernisierung hervor. Dabei habe sich das Prinzip der Nichteinmischung in innere Angelegenheiten und die Vermeidung von Kontakten zu einflussreichen Nichtregierungsorganisationen bewährt. Umfragen des unabhängigen, im ghanaischen Accra ansässigen Afrobarometer-Instituts zufolge beurteilen über 60 Prozent der Afrikanerinnen und Afrikaner die chinesische Präsenz als "positiv" oder "eher positiv".

Strategisch versucht die Volksrepublik, über die Stärkung der Handelsbeziehungen und Investitionen in die Produktion vor Ort in einem zweiten Schritt den Bau eigener Industrieparks voranzutreiben, was Äthiopien unter anderem durch Steuerbefreiungen unterstützt. Der traditionelle Fokus der Sicherung von Rohstoffquellen weicht hierbei der Erkundung des afrikanischen Potenzials, zum Standort standardisierter Industriefertigung zu werden. Das 2000 gegründete und alle drei Jahre stattfindende Forum für China-Afrika-Kooperation (FOCAC) hat sich in diesem Zusammenhang als wichtiges Instrument erwiesen, über das Peking zugleich versucht, sich international für afrikanische Belange einzusetzen. Die chinesische Regierung macht dabei keinen Hehl aus den eigenen Interessen, was Beobachter schon vor knapp zehn Jahren wohlwollend kommentierten: "China unterstreicht seit Jahrzehnten den gegenseitigen Nutzen als Grundprinzip seiner Hilfe. Das ist aufrichtiger als die Beteuerungen vieler westlicher Geber, die für humanitäre und entwicklungsorientierte Ziele als alleinige Vergabekriterien plädieren und dennoch ihre wirtschaftlichen und politischen Eigeninteressen verfolgen."

Nach Angola ist Äthiopien gegenwärtig der zweitgrößte Empfänger chinesischer Afrikakredite. In seiner über vier Millionen Einwohnerinnen und Einwohner zählenden Hauptstadt Addis Abeba ("Neue Blume") lassen sich Ergebnisse chinesisch beförderter Vorhaben besonders deutlich beobachten: Das elektrifizierte Stadtbahnsystem, das stündlich von rund 30.000 Menschen genutzt wird, mehrspurige Schnellstraßen und die modern konzipierten Vorstadtsiedlungen gelten ebenso als Vorzeigeprojekte erfolgreicher Kooperation wie die zügig fertiggestellte Eisenbahnverbindung zwischen Addis Abeba und Dschibuti-Stadt. Zwar hat die rasche Stadtentwicklung auch Schattenseiten, insgesamt aber zeigt sich Premierminister Abiy zufrieden mit der äthiopisch-chinesischen Kooperation. So erklärte er im Herbst 2018 im chinesischen Staatsfernsehen: "China war bisher ein sehr wichtiger und strategischer Partner in unserem Entwicklungsbestreben. Es geht um die Transformation der äthiopischen Wirtschaft durch Investitionen, Handel, Stipendien zur Förderung von Wissen und Know-how. China unterstützt uns sehr gut in dieser Transformation."

Saudi-Arabiens Vermittlungspolitik

Neben China ist Saudi-Arabien ein wichtiger Partner äthiopischer Projekt- und Zukunftsplanung. In dem finanzstarken Königreich, in dem ein Drittel der 35 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner asiatische Wurzeln hat, lebten bis vor Kurzem rund 500.000 Äthiopierinnen und Äthiopier. Die meisten von ihnen – Saudi-Arabien ist neben den USA und der Schweiz einer der wichtigsten Absatzmärkte für äthiopische Produkte – hatten ihr Heimatland vor allem aus wirtschaftlichen Gründen verlassen. Viele von ihnen waren illegal eingereist und direkt in Haft geraten, was Saudi-Arabien dazu veranlasste, großangelegte Rückdeportationen zu organisieren: Laut Internationaler Organisation für Migration (IOM) wurden zwischen Mai 2017 und März 2019 etwa 260.000 Äthiopier wieder abgeschoben, die teilweise von erheblichen Menschenrechtsverletzungen berichteten.

Dennoch sind die saudisch-äthiopischen Beziehungen im Allgemeinen gut. In den vergangenen Jahren kann Riad zudem auf unerwartete Erfolge bei seinen regionalen Friedensbemühungen verweisen. Nach jahrelangen und gewaltförmig ausgetragenen Grenzstreitigkeiten haben sich die Regierungen Äthiopiens und Eritreas im September 2018 auf eine friedlichere Zukunft verständigt. Die von Saudi-Arabien vermittelte Vereinbarung, die im Beisein von König Salman ibn Abd al-Aziz von Abiy Ahmed und Eritreas Langzeitpräsident Isayas Afewerki in Dschidda unterzeichnet wurde, soll das Ende der Feindschaft markieren und stellt eine "Ära des Friedens und der Freundschaft" in Aussicht. Neben der Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen und des bilateralen Personen- und Warenverkehrs wurden die Freischaltung direkter Telefonverbindungen, die Öffnung eines gemeinsam betriebenen Freihafens (Massawa) sowie tägliche Linienflüge zwischen Addis Abeba und Asmara vereinbart. Zuvor hatte der äthiopische Premierminister erklärt, das lange umstrittene Grenzgebiet um Badme dem nördlichen Nachbarn überlassen zu wollen. Obwohl die vertraglichen Einzelheiten künftiger Kooperation öffentlich noch nicht bekannt sind, dürfte die in Aussicht gestellte Zusammenarbeit für alle Beteiligten von Vorteil sein.

Äthiopien, das als Binnenstaat in den zurückliegenden Jahrzehnten bis zu 95 Prozent seines Außenhandels über Häfen im benachbarten Dschibuti abwickelte und dafür jährlich bis zu 1,5 Milliarden US-Dollar ausgeben musste, hofft durch den Friedensschluss auf einen günstigeren, möglichst steuerbefreiten Zugang zum Roten Meer. Tatsächlich hat Eritrea seine Häfen kürzlich wieder für äthiopische Schiffe geöffnet, zugleich haben italienische Investoren erklärt, die Unterhaltung und Nutzung der Häfen Massawa und Assab logistisch und finanziell unterstützen zu wollen. Auch die Europäische Union hat für die Renovierung und den Ausbau der maroden eritreischen Infrastruktur 20 Millionen Euro in Aussicht gestellt.

UN-Generalsekretär António Guterres, der ebenfalls der Unterzeichnung in Dschidda beiwohnte, bezeugte ein "historisches Ereignis" und begrüßte den "Wind der Hoffnung", der nun am Horn von Afrika wehe. Ende 2018 setzten die Vereinten Nationen gar ein Waffenembargo aus, das neun Jahre zuvor gegen Eritrea verhängt worden war, weil es somalische Islamisten im Kampf gegen Äthiopien unterstützt haben soll. Unterdessen haben Dschibuti und Somalia die lange unterbrochenen diplomatischen Beziehungen zu Eritrea wieder aufgenommen, und Asmara hat angekündigt, sich künftig wieder aktiv an den Plänen und Vorhaben der nordostafrikanischen Regionalorganisation IGAD (Intergovernmental Authority on Development) beteiligen zu wollen.

Nicht nur für Saudi-Arabien, auch für die Vereinigten Arabischen Emirate, die im Hintergrund an der Vermittlung mitgewirkt hatten, war der Friedensschluss ein diplomatischer Erfolg. Beide Golfstaaten vermochten sich auf diese Weise als Regionalmächte zu profilieren und konnten eigene Investitionsvorhaben in Eritrea und Äthiopien vorantreiben.

Europas Profilsuche

Afrikas demografischer Wandel sowie Chinas wachsender Einfluss und seine erfolgreiche Politik der Nichteinmischung in innere Angelegenheiten konfrontieren europäische Akteure mit ungekannten Herausforderungen. Es gilt, historisch überkommene Wahrnehmungen und Verträge wie das im Februar 2020 ausgelaufene Cotonou-Abkommen, das 20 Jahre lang die europäisch-afrikanischen Handelsbeziehungen prägte, generations- und zukunftsbezogen zu überdenken. Im Vorfeld der deutschen EU-Ratspräsidentschaft im zweiten Halbjahr 2020 sind für September und Oktober sowohl ein EU-China- als auch ein EU-Afrika-Gipfel geplant. Für Deutschland war das subsaharische Afrika, von wenigen Ländern wie Südafrika und Nigeria abgesehen, lange von nachgeordneter Bedeutung – dies hat sich in den vergangenen Jahren geändert.

Der Entwurf der jüngst veröffentlichten neuen EU-Afrika-Strategie lässt unter Berücksichtigung eigener und gegenseitiger Interessen das Vorhaben einer partnerschaftlich verstärkten, dialogorientierten Zusammenarbeit erkennen. Allgemeine und regionalbezogene Ziele und Partnerschaften sollen sich dabei ergänzen: "Ziel ist eine verstärkte Zusammenarbeit in fünf Schlüsselbereichen: grüne Wende, digitaler Wandel, nachhaltiges Wachstum und Beschäftigung, Frieden und Governance, Migration und Mobilität."

Bereits die 2017 unter der deutschen G20-Präsidentschaft ins Leben gerufene Initiative "Compact with Africa" (CwA) setzte auf eine "Partnerschaft auf Augenhöhe" sowie verstärkte private Investitionen. Doch schon lange mahnen Nichtregierungsorganisationen einen stärkeren Einbezug gesellschaftlicher Akteure vor Ort an: Der CwA sehe zwar Investitionspartnerschaften mit Ägypten, Äthiopien, Benin, Burkina Faso, Côte d’Ivoire, Ghana, Guinea, Marokko, Ruanda, Senegal, Togo und Tunesien vor, fokussiere dabei aber stark auf ökonomische Liberalisierung und lasse ein informiertes Verständnis innerafrikanischer Komplexität vermissen. Äthiopien ist dabei ein interessantes Beispiel, weil das Land einerseits als erfolgreich und reformorientiert gilt, andererseits durch zunehmende armuts- und reformbedingte Proteste in Atem gehalten wird. Semir Yusuf, Senior Researcher am Institute for Security Studies in Addis Abeba, erkennt nach wie vor ein ungelöstes "Demokratie- und Sicherheitsdilemma", das entschlossene und zugleich inklusive Maßnahmen erfordere.

Hinzu kommt – Stichwort land grabbing –, dass zahlreiche Maßnahmen bislang häufig zuvorderst ausländischen Investoren zugutekommen und daher nur begrenzt geeignet sind, afrikazentrierten Vorhaben zu nutzen. Statt humanitäre, entwicklungspolitische, friedens- und sicherheitspolitische Maßnahmen strategisch und kohärent zu verknüpfen, werden vor allem die Möglichkeiten zur Steigerung des interkontinentalen Handels ausgelotet, wobei ausländischen Investoren Rahmenbedingungen geboten werden, die günstiger kaum sein könnten. Pro enteignetem Hektar müssen in Äthiopien nur wenige US-Dollar pro Jahr bezahlt werden, womit die Pacht – die Laufzeit liegt bei bis zu 100 Jahren – zu den billigsten weltweit gehört. Seit 2007 wurden über 800 Verträge über die Verpachtung von traditionell subsistenz- oder kleinbäuerlich genutztem Land geschlossen. Die Verhandlungen verlaufen wenig transparent, offizielle Informationen über den Inhalt getroffener Vereinbarungen sind die Ausnahme, weshalb das wahre Ausmaß der Landnahme kaum zu erfassen ist. Erklärtes Ziel der äthiopischen Regierung ist die Verpachtung von drei Millionen Hektar an ausländische Investoren, wobei der Fokus auf den Regionen Gambela und Oromia liegt. Eine Million Hektar wurden bereits verpachtet, die meisten an indische und saudische Interessenten.

Aus europäischer Perspektive wird es bei der eigenen Profilierung in Äthiopien daher künftig auch darauf ankommen, sich bei allem wirtschaftlichen Engagement, das gefördert werden soll, für mehr Teilhabe der äthiopischen Bevölkerung einzusetzen.

Äthiopiens Zukunft

Äthiopiens außenhandels- und investitionsbeförderter Wandel geht mit ungekannten sozialen und politischen Herausforderungen einher. Die lange subsistenzwirtschaftlich geprägte Ökonomie ist mit rasch wachsenden Städten, niedrigpreisigen Industrieparks, heftig kritisiertem land grabbing und einem herausfordernden Generationswechsel konfrontiert. Bis 2030 wird die arbeitsfähige Bevölkerung jährlich um zwei Millionen Arbeitskräfte wachsen. Aus Sicht der regierungsnahen äthiopischen Verwaltung gilt es, Reformen zur Modernisierung des Landes – ein Großteil betrifft das verarbeitende Gewerbe – unter Berücksichtigung regional und sozial unterschiedlich ausgeprägter Traditionen friedlich und nach Möglichkeit einvernehmlich zu begleiten.

Ein zentrales Problem bleibt dabei die geringe Arbeitsproduktivität. Neben auffälligen Fehlzeiten und einer hohen Arbeitskräftefluktuation spielen dabei auch überkommene Landnutzungsrechte eine Rolle, deren Reformierung sich als konfliktträchtig erweist. So kannten zum Beispiel Äthiopiens kleinbäuerliche Subsistenzproduzenten traditionell kein Landeigentum, sondern nur zeitlich begrenzte Nutzungsrechte. Will man einen Großteil der Bevölkerung nicht übergehen, muss es gelingen, die inländische Produktion zu fördern, ohne gleichzeitig die Existenzgrundlagen verarmter Subsistenz- und Kleinbauern zu gefährden. Es ergibt keinen Sinn, traditionell von Kleinbauern bewirtschaftete Landflächen an ausländische Investoren zu verpachten, nur damit diese anschließend für den subventionierten Anbau und Export von Schnittblumen nach Holland genutzt werden und nicht mehr für den Nahrungsmittelanbau zur Verfügung stehen – mit der Folge, das Lebensmittel importiert werden müssen. In Äthiopien sollen mittlerweile acht bis zehn Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche in den Händen ausländischer Investoren sein.

Auf der Suche nach Lösungen konkurrieren unterschiedliche Sichtweisen: Während entwicklungspolitische Nichtregierungsorganisationen eine Stärkung der Landrechte der Kleinbauern fordern, befürworten regierungsnahe Akteure eine Teilliberalisierung der landwirtschaftlich dominierten Produktion. Letzteres könnte zwar die Arbeitslosigkeit mindern und Produktionserträge steigern, würde aber letztlich das System des staatlich begünstigten Imports von Lebensmitteln verfestigen. Noch immer ist die Mehrheit der 60 bis 70 Cent pro Tag verdienenden angestellten Äthiopierinnen und Äthiopier auf Lebensmittelspenden angewiesen. Viele befürchten, ihre traditionell agrarbezogenen Lebensgrundlagen zu verlieren und erleben zu müssen, dass das Land ihrer Vorfahren von Fremden bewirtschaftet wird. In einem Land, in dem sieben von zehn Menschen von der Landwirtschaft leben, ist die zu beobachtende Landnahme ausländischer Großunternehmen für viele eine existenzielle Bedrohung. Die angestrebte Schaffung eines "guten Investitionsklimas" führt zu massiven vertreibungs- und enteignungsbedingten Konflikten und begünstigt neue Abhängigkeiten in Form externer Nahrungsmittelhilfe.

Während sich europäische Regierungen also auf Handel, Investitionen und den Übergang zu einer kohlenstoffneutralen Digitalwirtschaft konzentrieren, steht Äthiopiens Regierung vor der Herausforderung, ihr Binnen- und Außenhandeln regional-, ressourcen-, zukunfts- und generationsbezogen zu begleiten. Die beeindruckenden früheren Entwicklungserfolge des Landes gingen oft mit repressiver Staatsgewalt einher; dies zu vermeiden, ist eine weitere Herausforderung. Für das Gelingen werden, cum grano salis, vor allem drei Faktoren von Bedeutung sein: Erstens die ökonomischen Folgen und die Entwicklung der in Aussicht gestellten panafrikanischen Freihandelszone auf Grundlage des African Continental Free Trade Agreement (AfCFTA), zweitens der sich abzeichnende Generationswechsel in Äthiopien, und drittens die mit Urbanisierung und verstärkter Mediennutzung einhergehende Hoffnung auf eine einflussreichere, politisch bewusste Mittelschicht.

Mit Blick auf die zukünftige Entwicklung beschreiben Landeskenner zwei gegensätzliche Szenarien für Äthiopien: die zu erhoffenden "Abiynomics" und die drohenden "Dark Days". Das nach dem Premierminister benannte Positivszenario stellt die Überwindung der verbreiteten Armut und chronischen Unterernährung, die graduelle Liberalisierung wirtschaftlicher Schlüsselsektoren, die anhaltende Zunahme einheimischer und ausländischer Investitionen, das Ende der Bildungsbenachteiligung von Frauen, ein höheres Pro-Kopf-Einkommen und eine höhere Lebenserwartung in Aussicht. Das "Dark Days"-Szenario dagegen sieht nach umstrittenen Wahlen eine abrupte Periode politischer Instabilität voraus, die einhegeht mit ethnisch motivierter Gewalt, wachsenden Militärkosten, eingeschränkten Zivilrechten, regional beförderten Problemen mit Ägypten, Eritrea und Somalia, hohen Auslandsschulden sowie einem Anstieg der extremen Armut.

Trotz ausgeprägter Eigeninteressen und finanzstarker Entwicklungsförderung von externen Akteuren wie China, Saudi-Arabien und der Europäischen Union: Welchen Weg Äthiopien letztlich einschlägt, wird in Addis Abeba entschieden.

ist promovierter Politikwissenschaftler und war nach Gastprofessuren in Paris und Addis Abeba als politischer Berater afrikanischer Regionalorganisationen in Dschibuti, Somalia und im Südsudan tätig.