Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Äthiopiens regionale Beziehungen | Äthiopien | bpb.de

Äthiopien Editorial Addis Abeba: Annäherung an eine vielschichtige Metropole Déjà-vu oder echter Aufbruch? Äthiopien zwei Jahre nach Abiy Ahmeds Amtsantritt Ethnischer Föderalismus in Äthiopien Geschichte und Geschichtserzählungen in Äthiopien Mythos Haile Selassie Äthiopiens regionale Beziehungen. Zwischen Hegemoniestreben und dem Wunsch nach Stabilität Äthiopien im Umbruch: Entwicklungsszenarien und ausländische Interessen "Am Ende kann nur Gott uns helfen". Das Coronavirus in Äthiopien Karten

Äthiopiens regionale Beziehungen Zwischen Hegemoniestreben und dem Wunsch nach Stabilität

Nicole Hirt

/ 15 Minuten zu lesen

Äthiopiens Verhältnis zu seinen Nachbarn war lange vom eigenen Hegemoniestreben geprägt. Seit 2018 tritt das Land verstärkt als regionale Friedensmacht in Erscheinung. Doch noch ist fraglich, ob die Fortschritte von Dauer sind.

Im Dezember 2019 wurde dem äthiopischen Premierminister Abiy Ahmed der Friedensnobelpreis für seine Bemühungen verliehen, den langjährigen Konflikt mit Eritrea zu beenden und Frieden zwischen den beiden Nachbarländern zu schaffen. Doch ist dieser Frieden tatsächlich stabil, und welche Rolle spielt Äthiopien generell in den mannigfaltigen Konflikten am Horn von Afrika? Im Folgenden werde ich zunächst einen Blick in die Vergangenheit werfen und das angestammte westliche Bild von Äthiopien als regionaler Friedensmacht hinterfragen, um mich dann aktuellen Konfliktkonstellationen und dem Einfluss neuer Akteure am Horn von Afrika wie Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE) zuzuwenden. Am Schluss werde ich die Frage diskutieren, ob ein zunehmend innenpolitisch fragiles Äthiopien seine Rolle als Friedensmittler in der Region fortführen kann, oder ob bald mit Staatszerfall und zunehmender ethnisierter Gewalt in der gesamten Region gerechnet werden muss.

Kolonisator und "Mutterland" afrikanischer Diplomatie

Als die europäischen Mächte Ende des 19. Jahrhunderts den afrikanischen Kontinent unter sich aufteilten, verhinderte der äthiopische Kaiser Menelik II. (1844–1913) durch geschicktes Ausspielen der Konkurrenten Italien, Großbritannien und Frankreich nicht nur die Kolonisierung seines Reiches, sondern er erweiterte selbst das äthiopische Staatsgebiet durch Eroberungszüge weit nach Süden und etablierte die bis heute bestehenden äthiopischen Grenzen (siehe Karte).

Äthiopien 2020 (politisch) (© mr-kartographie, Gotha 2020)

Italien wurde in der Schlacht von Adwa 1896 militärisch von Äthiopien geschlagen, gab seine imperialistischen Ambitionen jedoch nicht auf. Benito Mussolini nutzte 1935 die italienische Kolonie Eritrea als Basis für einen Eroberungsfeldzug und besetzte Äthiopien bis 1941, als Italien von alliierten Kräften besiegt wurde und Kaiser Haile Selassie aus seinem Exil in Großbritannien zurückkehrte. Die Zukunft Eritreas wurde zunächst von den vier Mächten und dann von den Vereinten Nationen kontrovers diskutiert. Haile Selassie bemühte sich aktiv, das Gebiet unter seine Kontrolle zu bringen, um einen Zugang zum Meer zu erhalten. 1952 wurde Eritrea auf UN-Beschluss und mit Unterstützung der USA mit Äthiopien föderiert, erhielt aber zunächst eine eigene, demokratische Verfassung. Diese wurde jedoch alsbald vom Kaiser demontiert, der schließlich 1962 Eritrea völkerrechtswidrig annektierte und damit den Grundstein für einen dreißigjährigen Unabhängigkeitskrieg Eritreas und einen bis heute andauernden Konflikt zwischen beiden Staaten legte.

Obwohl Haile Selassie die von Menelik begründete Expansionspolitik fortführte, etablierte er sich gleichzeitig als diplomatische Kraft auf dem afrikanischen Kontinent. Durch seine Vermittlung zwischen zwei konkurrierenden afrikanischen Blöcken, der prowestlichen Monrovia- und der stärker panafrikanisch orientierten Casablanca-Gruppe, gelang es ihm, den Hauptsitz der 1963 gegründeten Organisation für Afrikanische Einheit (OAU, seit 2000: Afrikanische Union) nach Addis Abeba zu holen und somit seinen Einfluss und sein internationales Prestige zu erhöhen. Im Verlauf des Kalten Krieges wurde das konservative Kaiserreich vom Westen als Stabilitätsgarant wahrgenommen und erhielt großzügige militärische Unterstützung, vor allem von den USA.

Allerdings geriet Kaiser Haile Selassie, dem es nicht gelang, sein Land innenpolitisch zu reformieren und zu modernisieren, und der eine verheerende Hungersnot im Norden des Landes vor der Weltöffentlichkeit zu verbergen suchte, zunehmend unter Druck und wurde schließlich 1974 von einem Militärrat, dem Derg (amharisch: Komitee), gestürzt. Damals konkurrierten verschiedene marxistische Parteien um die Macht, und nicht nur in Eritrea, sondern in zahlreichen Landesteilen entstanden militante Befreiungsbewegungen. Die USA unterstützen bis 1978 weiterhin den Derg, bis dieser sich unter General Mengistu Hailemariam offen zum Sozialismus bekannte und der Sowjetunion zuwandte.

1976 begann der somalische Präsident Siad Barre eine Militäroffensive gegen Äthiopien, um die von ethnischen Somali bewohnte äthiopische Region Ogaden zu erobern. Die Sowjetunion war mit dieser Aktion nicht einverstanden und nutzte die Gunst der Stunde, um die Seiten zu wechseln und das strategisch bedeutendere Äthiopien zu unterstützen, auch um den Einfluss des Westens in der Region einzudämmen. Äthiopien unterhielt zudem Unterstützung von Kuba und konnte die somalische Offensive 1979 stoppen. Es gelang dem Derg jedoch nicht, die Unterstützung der Bevölkerung zu gewinnen, die durch eine Kampagne des "Roten Terrors", die Mitte der 1970er Jahre Hunderttausende Tote forderte, eine verfehlte Landreform und einen Niedergang der Wirtschaft sowie eine erneute Hungersnot Mitte der 1980er Jahre mehr und mehr in die Arme der Befreiungsbewegungen getrieben wurde.

Durch den Zerfall der Sowjetunion blieb Waffenhilfe aus, und im Mai 1991 kapitulierte die äthiopische Armee vor der Eritrean People’s Liberation Front (EPLF) und der Tigray People’s Liberation Front (TPLF), die sich im Norden des Landes gegen das Militärregime verbündet hatten. Eritrea erlangte 1991 de facto die Unabhängigkeit, und die TPLF wurde mithilfe kooptierter ethnischer Organisationen aus anderen Teilregionen zur dominanten Macht innerhalb der neu gegründeten Ethiopian People’s Revolutionary Democratic Front (EPRDF), die das Land fortan regieren sollte.

Kampf um regionale Hegemonie unter Meles Zenawi

In den Jahren nach 1991 erfuhr Äthiopien tief greifende strukturelle Umwandlungen. Die TPLF, die ehemals die Sezession angestrebt hatte, musste sich nun unter Führung von Meles Zenawi als gesamtäthiopische Partei erweisen und wurde von zahlreichen panäthiopischen Nationalisten vehement dafür kritisiert, Eritrea in die Unabhängigkeit "entlassen" und damit den Meereszugang des Landes aufgegeben zu haben. Meles entwickelte indes das Konstrukt des Ethnoföderalismus, wonach das Land in verschiedene ethnische Regionen unterteilt wurde und die politische Organisation insgesamt anhand ethnischer Linien erfolgen sollte. Gleichzeitig entwickelte der ehemalige Maoist ein staatszentriertes Entwicklungsmodell, das sich als relativ erfolgreich erweisen und zu anhaltendem Wirtschaftswachstum führen sollte.

Auf regionaler Ebene führte Meles Zenawi die Hegemoniebestrebungen seiner Vorgänger fort, allerdings ohne die Grenzen des Landes ausweiten zu wollen. Dennoch kam es schon vier Jahre nach Eritreas offizieller Unabhängigkeit 1997 zu einem verheerenden Grenzkrieg, der von den einstigen Waffenbrüdern Meles Zenawi und seinem Counterpart, dem eritreischen Präsidenten und Ex-Guerillaführer Isayas Afewerki, inszeniert wurde. Neben einem unklaren Grenzverlauf ging es um Animositäten in Bezug auf die Handels- und Währungspolitik, um latente Konflikte zwischen den ehemaligen Befreiungsfronten, zuvorderst aber griffen beide Regierungschefs sofort auf militärische Denkmuster zurück, anstatt sich auf internationale Vermittlungsversuche einzulassen. Die Folge war ein ähnlich dem Ersten Weltkrieg ausgeführter Stellungskrieg, der zwischen 70.000 und 100.000 Tote forderte und im Jahr 2000 mit dem Einmarsch Äthiopiens auf eritreisches Gebiet und dem Friedensabkommen von Algier endete.

Nachdem der US-Präsident George W. Bush nach den Anschlägen des 11. September 2001 den "Krieg gegen den Terror" ausgerufen hatte, betätigte sich Äthiopien bereitwillig als strategischer Partner der USA am Horn von Afrika, was mit großzügiger Entwicklungshilfe belohnt wurde. Dies führte dazu, dass sich in Somalia eine Art Stellvertreterkrieg zwischen Eritrea und Äthiopien anbahnte. Eritrea unterstützte die sich Mitte der 2000er in Somalia etablierende Islamic Courts Union (ICU), die dem Land, das seit Jahren von diversen Warlords kontrolliert wurde und unter bürgerkriegsähnlichen Zuständen litt, eine gewisse Ruhe verschaffte. Daraufhin marschierte Äthiopien 2006 in Somalia ein, um die schwache provisorische Regierung in Mogadischu zu unterstützen und die ICU zu vertreiben. Die anschließende Radikalisierung der ICU-Anhänger führte letztlich zur Entstehung der Al-Shabaab-Milizen, die Somalia bis heute destabilisieren. Der äthiopische Einmarsch war von den USA unterstützt worden, denen eine Zerstörung islamistischer Kräfte mit militärischen Mitteln vorgeschwebt hatte. Tatsächlich aber konnten sich in der Folge gerade diese Kräfte verstärkt am Horn von Afrika etablieren.

Bis zu seinem überraschenden Tod 2012 gelang es Meles Zenawi, Äthiopien als starke Regionalmacht am Horn zu festigen und sich die dauerhafte und unkritische Unterstützung der USA und Europas zu sichern, die das Land als Hort der Sicherheit in einer unsteten Region betrachteten. Äthiopien nahm sowohl in der Afrikanischen Union also auch in der Regionalorganisation Intergovernmental Agency for Development (IGAD) eine wichtige Rolle ein und nutzte seinen Einfluss, um Eritrea international weiter zu isolieren. 2009 betrieb Äthiopien erfolgreich die Verhängung von Sanktionen gegen Eritrea durch den Weltsicherheitsrat wegen angeblicher Unterstützung für die Al-Shabaab-Milizen. Vor dem Hintergrund des völkerrechtswidrigen äthiopischen Einmarsches in Somalia wurden die Sanktionen, die sich im Wesentlichen auf ein Waffenembargo beschränkten, von Eritrea nicht zu Unrecht als "illegal und ungerecht" gebrandmarkt und mehrere US-amerikanische Politiker forderten alsbald – hauptsächlich aus strategischen Interessen –, man solle Eritrea wieder "aus der Kälte zurückholen".

Interessenkonflikte mit Nil-Anrainern

Ein ganz anderer Konflikt ergab sich mit Ägypten, als auf Meles Zenawis Initiative hin beschlossen wurde, am Blauen Nil einen gigantischen Staudamm zu errichten, den "Grand Ethiopian Renaissance Dam" (GERD). 2011 wurde mit dem Bau begonnen, der in der westlichen Region Benishangul-Gumuz nahe der sudanesischen Grenze liegt und in Zukunft die Elektrizitätsversorgung von Äthiopiens schnell wachsender Bevölkerung sicherstellen soll.

Unzweifelhaft handelt es sich bei dem Bauwerk aber auch um ein ökologisch fragwürdiges Prestigeprojekt. Und für Ägypten bedeutet der Damm die Aussicht, dass sich das Volumen des verfügbaren Nilwassers bei Inbetriebnahme erheblich reduzieren wird, was eine Gefahr für die gesamte ägyptische Volkswirtschaft bedeuten würde. Da auch für den Sudan negative Konsequenzen drohen könnten, obwohl er gleichzeitig von der dort erzeugten Elektrizität profitieren würde, wird seit Baubeginn nach einer für alle drei Länder akzeptablen Lösung gesucht. Die Talsperre ist mittlerweile kurz vor der Vollendung, und es wird darüber diskutiert, wie schnell der Stausee von Äthiopien in den nächsten Jahren gefüllt werden darf, ohne negative Auswirkungen auf die anderen Nilanrainerstaaten zu provozieren.

Jüngst haben sich die USA im Konflikt zwischen den drei Parteien Äthiopien, Sudan und Ägypten eingeschaltet, um einem möglichen Konflikt zwischen den engen strategischen Partnern Ägypten und Äthiopien vorzubeugen. Im Februar 2020 einigten sich die drei betroffenen Länder darauf, die USA und die Weltbank damit zu beauftragen, ein endgültiges Abkommen zur Füllung und Inbetriebnahme des Damms auszuarbeiten. Auch wenn damit eine Lösung des Konflikts etwas wahrscheinlicher wurde, bleiben die tatsächlichen Auswirkungen dieses gigantischen Projekts nicht nur mit Blick auf die Umwelt unklar.

Chinesische Präsenz und arabischer Einfluss

China ist seit geraumer Zeit einer der größten Investoren in Äthiopien und finanzierte unter anderem eine neue Eisenbahnlinie von Addis Abeba nach Dschibuti. Das kleine Land am Roten Meer bietet seit Beginn des Konflikts mit Eritrea 1998 den einzigen Meereszugang für das wirtschaftlich wachsende Äthiopien. Neben Hafenanlagen für den Warentransport beherbergt Dschibuti aber auch französische, US-amerikanische, japanische und seit 2016 eine chinesische Militärbasis – die erste auf dem afrikanischen Kontinent. Im Rahmen der sogenannten Seidenstraßeninitiative verfolgt China in der Region am Horn von Afrika mit Schwerpunkt Äthiopien nicht nur wirtschaftliche, sondern auch strategische Interessen: Die Meerenge am Bab al-Mandab liegt am Weg vom Indischen Ozean zum Suezkanal und ist für die internationale Schifffahrt von höchster Bedeutung. Seitdem somalische Piraten die Küste in der Region zeitweilig durch die Entführung von Schiffen unsicher gemacht hatten, erhöhten sowohl Europa als auch die USA ihre Militärpräsenz in Dschibuti, um die Handelswege zu sichern. Äthiopien unterhält enge Beziehungen mit dem Präsidenten Dschibutis, Ismail Omar Guelleh, und betreibt seit Jahren eine Politik der wirtschaftlichen Verschmelzung beider Länder. Dschibuti, das mit unter einer Million Einwohnern eher einem Stadtstaat gleicht, hat dem wenig entgegenzusetzen.

Ein relativ neues Phänomen ist hingegen das Engagement Saudi-Arabiens und der Vereinigten Arabischen Emirate in Äthiopien. Obwohl in unmittelbarer geografischer Nähe, aber jenseits des Roten Meeres gelegen, bestanden über Jahrzehnte keine engen Beziehungen zwischen dem vormals von sozialistischen Kräften regierten Äthiopien und den konservativen Golfmonarchien. Allerdings spielt der saudisch-äthiopische Milliardär und Wirtschaftsmagnat Mohammed Hussein al Amoudi seit Jahrzehnten eine bedeutende Rolle als Investor in der äthiopischen Wirtschaft.

Das Interesse der Golfmonarchien sowohl an Eritrea als auch an Äthiopien wuchs im Rahmen der geänderten strategischen Interessenlage seit etwa 2015. Eritrea war zunächst enger Verbündeter Qatars und erhielt vom dortigen Emir beträchtliche materielle Unterstützung. 2012 spitzte sich jedoch ein Konflikt zwischen den Mitgliedsstaaten des Golf-Kooperationsrates zu, und Qatar wurde aufgrund seiner relativ guten Beziehungen zu Iran und seiner Unterstützung für die Muslimbrüder von den anderen Mitgliedern, besonders Saudi-Arabien und den VAE, isoliert. In der Folge wechselte der eritreische Präsident Isayas Afewerki die Seiten und stellte den VAE den Hafen Assab als Militärbasis für den Krieg gegen die von Iran unterstützten Huthi-Rebellen im Jemen zur Verfügung.

Als in Äthiopien im April 2018 mit Abiy Ahmed ein Mann an die Regierung kam, der bereit war, den Konflikt mit Eritrea beizulegen, ergriffen die Golfmonarchien die Gelegenheit und vermittelten zwischen den beiden Regierungschefs. Bereits im Mai wurde der neue äthiopische Premier in die Emirate eingeladen, und im Juni besuchte der Kronprinz der VAE die äthiopische Hauptstadt. Abiy erhielt eine Zusage für einen Sofortkredit in Höhe von einer Milliarde US-Dollar als Abhilfe für die akuten Devisenprobleme Äthiopiens. Der Kronprinz versprach darüber hinaus weitere Milliardeninvestitionen. Das Friedensabkommen zwischen Eritrea und Äthiopien wurde dann auch im saudischen Dschidda in Anwesenheit des saudischen Königs unterzeichnet.

Eines der Hauptziele der saudischen und emiratischen Königshäuser ist es, den iranischen Einfluss in der Rotmeerregion einzudämmen. Hierzu wird ein politisch stabiles Eritrea als hilfreich angesehen, das in Harmonie mit Äthiopien lebt. Zudem ist Äthiopien mit seinen rund 110 Millionen Einwohnern und einer aufstrebenden Volkswirtschaft auch von zunehmendem wirtschaftlichem Interesse für die Golfmonarchien.

Abiy Ahmed: Friedensfürst?

Als Abiy Ahmed 2018 an die Macht kam, galt er als großer Hoffnungsträger. Jahrelang hatte die Bevölkerung in vielen Landesteilen gewaltsam gegen die Regierung protestiert. Obwohl Mitglied der seit 1991 autoritär regierenden EPRDF-Koalition, stieß Abiy in atemberaubendem Tempo innenpolitische Reformen an, ließ politische Gefangene frei, lud Oppositionsführer aus dem Ausland ein, sich friedlich in Äthiopien zu engagieren, stellte die Pressefreiheit wieder her, entmachtete wichtige Teile des von der TPLF dominierten Geheimdienstes und reformierte die Regierungspartei von innen: Erst jüngst wurde sie in Prosperity Party umbenannt, was die Abkehr von ihrem alten sozialistisch-revolutionären Image unterstreichen soll.

Die von Saudi-Arabien und den VAE gesponserten Friedensgespräche zwischen Äthiopien und Eritrea wären nicht möglich gewesen, hätte Abiy nicht in einem entscheidenden Punkt Gesprächsbereitschaft gezeigt. Nach dem Ende des Grenzkrieges hatte ein neu geschaffenes internationales Schiedsgericht Eritrea 2002 einige Gebiete um die Stadt Badme zugesprochen, die symbolisch zwar wichtig, ökonomisch aber uninteressant sind. Abiys Vorgänger hatten den Schiedsspruch "im Prinzip" akzeptiert, jedoch einen Dialog über die genaue Umsetzung der Demarkation gefordert, was Eritrea wiederum kategorisch ablehnte. Im Juni 2018 erklärte sich Äthiopien nun bereit, das Grenzabkommen umzusetzen.

Doch auch auf eritreischer Seite galt es – und gilt es immer noch –, Hindernisse zu überwinden. Aufgrund der vermeintlich weiter bestehenden Bedrohung durch Äthiopien hatte Eritrea 2002 einen zeitlich unbefristeten Nationaldienst eingeführt, der auch systematische Zwangsarbeit umfasst. Rekruten müssen seither ihren Patriotismus beweisen, indem sie ohne Gehalt für den Profit der Regierungspartei und hochrangiger Militärs schuften, was zu einem Massenexodus der Jugend geführt hat. Da die Führungselite von diesem System profitiert, zeigte sie kaum Interesse an einer Änderung des Status quo. Mit dem Machtwechsel in Addis Abeba und der relativen Entmachtung der TPLF verbindet sich auf eritreischer Seite jedoch die Hoffnung auf eine längerfristige Schwächung der tigrayischen Elite in Äthiopien, die Eritrea als Hauptfeind gilt. Zudem winkte üppige Unterstützung durch die Golfmonarchien, die den Friedensprozess im Hintergrund vorantrieben, was Präsident Isayas Afewerki schließlich dazu bewog, auf Abiys Angebot einzugehen.

Nachdem Isayas und Abiy im September 2018 im saudischen Dschidda ein Abkommen über Frieden und Freundschaft geschlossen hatten, herrschte zunächst Hoffnung: Die Grenzen wurden vorübergehend wieder geöffnet, Familien besuchten sich nach jahrelanger Trennung, Eritreer konnten nach zwei Jahrzehnten erstmals wieder ohne Exit-Visum die Grenze überqueren. Abiy schmiedete bereits Pläne für eine äthiopische Marine, und die Europäische Union beschloss, den Bau einer neuen Straße von Äthiopien zu den eritreischen Häfen zu finanzieren, obwohl die Arbeiten auch von eritreischen Nationaldienstrekruten, also von Zwangsarbeitern, verrichtet werden.

Seither ist einige Zeit vergangen, ohne dass es zu einer weiteren Präzisierung oder Umsetzung des Friedensabkommens gekommen wäre. Im Gegenteil: Bis Januar 2019 wurden alle Grenzübergänge wieder geschlossen; es gibt bislang kein Abkommen über den Wechselkurs, kein Handelsabkommen und auch keine Pläne, den Grenzverlauf am Boden zu markieren. Die Regionalregierung Tigrays, die de facto die Grenze kontrolliert, widersetzt sich der Demarkation, und auch von eritreischer Seite ging keine neue Initiative aus, die Umsetzung voranzutreiben. Die dortige Regierung scheut eine Umsetzung des Abkommens, da sie interne Reformen, besonders die Verkürzung des Nationaldienstes, unter allen Umständen verhindern will. Der äthiopische Regierungschef kann somit nicht für den einstweiligen Stillstand im Friedensprozess zwischen Eritrea und Äthiopien verantwortlich gemacht werden.

Auch ein schwelender Grenzkonflikt zwischen Eritrea und Dschibuti konnte bislang nicht gelöst werden, obwohl Abiy den Präsidenten beider Länder das Versprechen abgerungen hatte, sich friedlich auf den Grenzverlauf zu einigen. Einstweilen ist der äthiopische Premier mit internen Problemen ausgelastet: Ethnisierte kommunale Gewalt schwelt seit Monaten in vielen Landesteilen, da der alte Sicherheitsapparat geschwächt und im Zuge der politischen Liberalisierung die von politischen Akteuren im Internet betriebene Hetze stark zugenommen hat.

Es bleibt zu erwähnen, dass die äthiopische Regierung 2019 nach dem Sturz des Diktators Omar al-Bashir im Sudan erfolgreich an Verhandlungen über die Einsetzung einer Übergangsregierung mitgewirkt hat und sich auch im Südsudan über die IGAD für eine Beilegung des Dauerkonfliktes zwischen den Rivalen Salva Kiir Mayardit und Riek Machar einsetzt. Die seit 2006 zerrütteten Beziehungen Äthiopiens zur somalischen Regierung in Mogadischu haben sich auf Initiative Abiys ebenfalls stark verbessert.

Ausblick: Zwischen Hegemonie und Staatszerfall

Abiy Ahmed hat mit großem Engagement versucht, sein Land zu reformieren und den eisernen Griff der EPRDF-Regierung zu lockern, die bislang jedwede Opposition kriminalisiert, die Zivilgesellschaft reglementiert und Bürgerrechte und Pressefreiheit stark eingeschränkt hatte. Allerdings führte dies in vielen Landesteilen zu ethnisch motivierter Gewalt, zumal das von Meles Zenawi eingeführte Konstrukt des ethnischen Föderalismus zu einer Polarisierung der Gesellschaft beigetragen hat.

Zudem hat der junge Premierminister versucht, die erstarrten Konfliktkonstellationen am Horn von Afrika aufzubrechen, den "Kalten Frieden" mit Eritrea zu beenden, die Beziehungen zu Somalia zu verbessern und in den internen Konflikten des Sudan und Südsudan zu vermitteln. Derzeit weht jedoch trotz vermeintlicher anfänglicher Euphorie ein kalter Wind aus Eritrea, seit Präsident Isayas bewusst geworden ist, dass eine Umsetzung des Friedensabkommens mit Äthiopien den seit 30 Jahren unveränderten Status quo in Eritrea und somit seine Machtposition gefährden könnte. Dennoch ist das Horn von Afrika seit dem Amtsantritt Abiys mit Ausnahme des Problems von kommunaler Gewalt in mehreren Regionen ein friedlicherer Ort geworden.

Es bleibt abzuwarten, ob der äthiopische Premier bei den nächsten Wahlen bestehen wird und seinen Reformprozess fortführen kann, oder ob es zu einer weiteren Destabilisierung oder gar einem Zerfall des Landes kommen wird – die Führung Tigrays hat bereits angedeutet, dass sie erwägt, vom verfassungsrechtlich garantierten Recht auf Sezession Gebrauch zu machen, wenn sich die Dinge weiterhin nicht in ihrem Sinne entwickeln. Allerdings hat Äthiopien in seiner langen Geschichte bereits unzählige Krisen überwunden, und es bleibt zu hoffen, dass die von Abiy begonnenen Friedensprozesse umgesetzt werden können, wobei auch mehr Engagement der westlichen Demokratien, insbesondere Europas, wünschenswert wäre. Die internationale Gemeinschaft einschließlich der Europäischen Union hat recht wenig dazu beigetragen, die Friedensprozesse am Horn von Afrika voranzutreiben. Die Erhaltung des Friedens und die Verbesserung der Menschenrechte und Lebensbedingungen für die Bevölkerung in der Region würden einen konstruktiven und dauerhaften Beitrag zur von Europa angestrebten "Fluchtursachenbekämpfung" leisten.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Richard J. Reid, Frontiers of Violence in North-East Africa: Genealogies of Conflict since 1800, Oxford 2011.

  2. Vgl. Eyassu Gayim, The Eritrea Question. The Conflict Between the Right of Self-Determination and the Interests of States, Uppsala 1993.

  3. Vgl. Ogbazghi Yohannes, Eritrea. A Pawn in World Politics, Gainsville 1993.

  4. Vgl. Robert G. Patman, The Soviet Union in the Horn of Africa. The Diplomacy of Intervention and Disengagement, Cambridge 1990.

  5. Vgl. Jacob Wiebel, "Let the Red Terror Intensify": Political Violence, Governance and Society in Urban Ethiopia, 1976–78, in: International Journal of African Historical Studies 1/2015, S. 13–29.

  6. Vgl. Alex De Waal, The Theory and Practice of Meles Zenawi, in: African Affairs 446/2013, S. 148–155. Zum Ethnoföderalismus siehe auch den Beitrag von Zemelak Ayele und Julia Günther in dieser Ausgabe (Anm. d. Red.).

  7. Vgl. Kjetil Tronvoll/Tekeste Negash, Brothers at War. Making Sense of the Eritrean-Ethiopian War, Oxord 2001; Nicole Hirt, Zwischen Selbstfindung und Krieg: Die Entwicklung der ehemaligen "Brothers in Arms" Äthiopien und Eritrea, in: Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr (Hrsg.), Wegweiser zur Geschichte. Horn von Afrika, Potsdam 2018, S. 65–78.

  8. Vgl. Nicole Hirt, Eritrea, the USA and the "War on Terrorism". Internal Challenges and the International Dimension, in: Eva-Maria Bruchhaus/Monika Sommer (Hrsg.), Hot Spot Horn of Africa Revisited. Approaches to Make Sense of Conflict, Berlin 2008.

  9. Vgl. Nicole Hirt, Sanktionen gegen Eritrea: Anstoß für Reformen oder "Akt der Verschwörung?", GIGA Focus Afrika 1/2010.

  10. Hank Cohen, Time to Bring Eritrea in from the Cold, 16.12.2013, Externer Link: https://africanarguments.org/2013/12/16/time-to-bring-eritrea-in-from-the-cold-by-hank-cohen.

  11. Vgl. U.S. Department of the State Treasury, Joint Statement of Ethiopia, Egypt, Sudan, the United States and the World Bank, 31.1.2020, Externer Link: https://home.treasury.gov/news/press-releases/sm891.

  12. Vgl. David Styan, Djibouti: Changing Influence in the Horn’s Strategic Hub, Chatham House Briefing Paper, April 2013.

  13. Vgl. Aaron Maasho, UAE to Give Ethiopia $3 Billion in Aid and Investments, 16.6.2018, Externer Link: https://af.reuters.com/article/investingNews/idAFKBN1JC07G-OZABS.

  14. Vgl. Nicole Hirt, Der unvollkommene Frieden: geostrategische Machtkämpfe am Horn von Afrika, GIGA Focus Afrika 5/2019.

  15. Vgl. Annette Weber, Abiy Superstar – Reformer or Revolutionary?, Stiftung Wissenschaft und Politik, SWP Comment 26/2018.

  16. Vgl. Gaim Kibreab, The Eritrean National Service. Servitude for the "Common Good" and the Youth Exodus, Oxford 2017.

  17. Vgl. Martina Stevis-Gridneff, How Forced Labor in Eritrea is Linked to EU-Funded Projects, 8.1.2020, Externer Link: http://www.nytimes.com/2020/01/08/world/europe/conscription-eritrea-eu.html.

  18. Vgl. "People of Tigray Have Developed Sentiment for Secession", Debretsion, 12.6.2019, Externer Link: https://borkena.com/2019/06/12/people-of-tigray-have-developed-sentiment-for-secession-debretsion.

Lizenz

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 3.0 DE - Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland" veröffentlicht. Autor/-in: Nicole Hirt für Aus Politik und Zeitgeschichte/bpb.de

Sie dürfen den Text unter Nennung der Lizenz CC BY-NC-ND 3.0 DE und des/der Autors/-in teilen.
Urheberrechtliche Angaben zu Bildern / Grafiken / Videos finden sich direkt bei den Abbildungen.
Sie wollen einen Inhalt von bpb.de nutzen?

ist promovierte Politikwissenschaftlerin und Soziologin und arbeitet als Research Fellow am GIGA Institut für Afrika-Studien in Hamburg. E-Mail Link: nicole.hirt@giga-hamburg.de