Einleitung
Eine persönliche Bemerkung vorab: Dieser Text stammt nicht von einem Bildungswissenschaftler, Bildungspolitiker oder Bildungsjournalisten, sondern von einem Schriftsteller. Die öffentliche Funktion des Schriftstellers oder Intellektuellen unterscheidet sich von der des Wissenschaftlers, Politikers und Journalisten. Wissenschaftler suchen nach Wahrheiten, Politiker verfolgen Ziele, Journalisten verbreiten Meinungen. Diese Geschäfte hat der Schriftsteller zu stören. Er muss dazwischenreden, ärgern und verärgern.
Seine geistige Redlichkeit zeigt sich im intellektuellen Querulantismus. Das ist nicht als Selbstlob zu verstehen, eher als Selbstanzeige. Sie wirkt hoffentlich strafmildernd, falls es zur Aburteilung kommt. Mit der muss rechnen, wer gegen die Windmühlen auf den Gemeinplätzen des Denkens anreitet, die sich dann als Riesen auf den Marktplätzen des Meinens herausstellen.
Bildung
Zu den Missverständnissen der aktuellen Bildungsdiskussion gehört die kuriose Idee, Deutschland sei eine Bildungsgesellschaft. Ein Gemeinwesen, in dem Politiker bei Sonntagsreden vom verschimmelten Humboldt'schen Bildungsideal schwärmen, aber bei näherem Befragen kaum den Alexander vom Wilhelm unterscheiden können, ist keine Bildungsgesellschaft. Ein Gemeinwesen, in dem Rateonkel von den Fernsehzuschauern als geistige Leitfiguren bewundert werden, ist keine Bildungsgesellschaft. Ein Gemeinwesen, in der Massen von sonst ganz vernünftigen Erwachsenen Romane über pubertierende Zauberlehrlinge oder die Feuchtgebiete intimrasierter Teenies lesen, ist keine Bildungsgesellschaft. Ein Gemeinwesen, in dem Leute mit akademischer Ausbildung das Wort intellektuell abfällig benutzen und Hochkultur als Zumutung gilt, ist keine Bildungsgesellschaft. Ein Gemeinwesen, in dem journalistische Meinungsmacher das betäubende Niveau ihrer gemachten Meinung damit rechtfertigen, ihr Publikum abholen zu müssen - vielleicht wie Mami und Papi die Kleinen vom Kindergarten -, ist keine Bildungsgesellschaft. Ein Gemeinwesen, in dem durchschnittliche Rechtsanwältinnen und mittelmäßige Ingenieure sich ohne mit der Wimper zu zucken den Leistungsträgern der Elite zurechnen, aber gleichzeitig alles an Kunst und Kultur, was nicht die Durchschnittlichkeit und das Mittelmaß bedient, als elitär beschimpfen, ist keine Bildungsgesellschaft. Ein Gemeinwesen, in dem der Autor eines Essays zum Thema Bildung überlegen muss, ob ein Satz wie der vorhergehende zu lang oder zu kompliziert ist, mag alles mögliche sein, nur eine Bildungsgesellschaft ist es nicht.
Vielleicht könnte man von Ausbildungsgesellschaft sprechen, weil den Menschen ohne Ausbildung häufig selbst mittelmäßige Chancen vorenthalten bleiben. Oder man könnte von Wissensgesellschaft sprechen, weil technische und wissenschaftliche Innovationen, die von Experten und Spezialisten hervorgebracht werden, die allgemeine Entwicklung maßgeblich bestimmen. Oder von Informationsgesellschaft, weil aus unseren Fernsehapparaten das weiße Rauschen der öffentlichen Debatten dröhnt und auf den Bildschirmen unserer Computer unentwegt schlecht verstandene Contents mit gut gemachter Reklame um die Wette blinken.
Alle diese Etikettierungen, mögen sie nun überzeugen oder nicht, haben nichts mit Bildung zu tun, sofern dieser misshandelte Begriff einen selbständigen Sinn behalten soll. Dieser muss gegen die Indienstnahme durch Erwerbs- und Statusinteressen verteidigt werden. Bildung ist nicht der Büttel des persönlichen Fortkommens, sondern ein eigenständiger Wert. Wer Bildung bloß als Hilfsmagd der eigenen Karriere ansieht, hat keine. Aus diesem Grund sind auch eine gute Schulausbildung oder ein Universitätsstudium nicht identisch mit Bildung. Guten Schulen und Universitäten gelingt es, zu bilden, indem sie ausbilden, aber die Ausbildung allein ist noch keine Bildung. Wer ein Hochschulexamen hinter sich gebracht hat, kann nicht allein wegen seiner fachlichen Ausbildung als gebildet gelten, sondern nur weil und wenn er oder sie in Zusammenhang mit dieser Ausbildung noch etwas anderes erfahren und begriffen hat. Des Weiteren hat Bildung nichts mit Gescheitheit oder mit einem bestimmten Intelligenzgrad oder einer spezifischen Begabung zu tun. Gescheite Menschen können sehr unklug sein, halbe Genies auf einem Feld ganze Trottel auf allen anderen. Hohe Intelligenz bewirkt nicht automatisch geistige Offenheit. Zwar kann ohne ein Fundament an kulturellen, geschichtlichen und naturwissenschaftlichen Sach- und Fachkenntnissen, wie sie Schulen und Universitäten vermitteln, das Gebäude der Bildung nicht errichtet werden. Aber wenn dieses Fundament der Kenntnisse gelegt ist, fängt der eigentliche Hochbau des Denkens erst an.
Was bleibt nach diesen Einschränkungen vom Begriff der Bildung übrig? Das, was sich weder durch fachwissenschaftliche Wahrheiten disziplinieren noch durch persönliche oder politische Interessen versklaven lässt. Bildung ist Selbstzweck: Gebildete Menschen verfügen über die Fähigkeit, geistige, ästhetische und ethische Erfahrungen zu machen, weil sie sich für geistige, ästhetische und ethische Erfahrungen interessieren, und zwar auch dann, wenn dadurch die eigenen Wertvorstellungen und Lebensbedürfnisse in Frage gestellt werden. Das hat auch etwas mit Transzendenz zu tun. Dabei wird der eigene Horizont nicht etwa erweitert, wie es immer so schrecklich engstirnig heißt, sondern überschritten: Es gibt Größeres als die eigene Existenz.
Gebildete Menschen können zwischen Meinungen, Sachverhalten und Argumenten unterscheiden und halten sich beim Nachdenken mehr an letztere als an erstere. Sie wissen, dass Meinungen im politischen Interessenkampf zwar relevant, aber in der Sache oft fragwürdig sind. Auch wer von nichts eine Ahnung hat, bildet sich über alles eine Meinung. Und doch ergeben noch so viele gebildete Meinungen keinen gebildeten Menschen. Die mediale Fetischisierung von Kernthesen und Hauptbotschaften und die aggressive Ungeduld gegenüber einem allmählichen Entfalten von Argumenten ist ein weiterer Hinweis darauf, dass die strapazierte Vokabel von der Bildungsgesellschaft nicht be-, sondern bloß abgegriffen ist, wie eine durch viele und nicht immer saubere Hände gegangene Münze. Zur Fähigkeit, um der Erkenntnis Willen wenigstens probehalber und vorübergehend von den eigenen Werten und Bedürfnissen abzusehen, gehört auch der Sinn für das Historische, oder, um es pathetisch zu sagen: Ein Gespür für Endlichkeit. Und zwar für die biologische Endlichkeit des eigenen Lebens wie für die geschichtliche Endlichkeit der eigenen Gesellschaft. Wer nicht zu dem Gedankenspiel fähig ist, sich die Wahrheiten, Interessen und Meinungen der Gegenwart unter dem prüfenden Blick zukünftiger Historiker vorzustellen, kann sich nicht gebildet nennen.
Ein solcher Blick aus der Zukunft über die Gegenwart und unmittelbare Vergangenheit unserer sogenannten Bildungsgesellschaft fiele ernüchternd aus. Seit dem Sputnik-Schock 1957, als der erste sowjetische Weltraumsatellit die westliche Welt aus der Fassung brachte, wurden zurückliegende Bildungskatastrophen beklagt, vorhandene Bildungsmiseren angeprangert und bevorstehende Bildungsoffensiven verkündet. Stets ging es dabei auch um soziale Ungerechtigkeit, ob dies wie in den 1960er und 1970er Jahren die Forderung nach mehr Chancengleichheit nach sich zog oder nach mehr ,Chancengerechtigkeit in den 1980er und 1990er Jahren - bis dann der PISA-Schock bewies, dass sich an der Chancenungleichheit der Kinder aus den unteren Sozialschichten und der Chancenungerechtigkeit gegen Kinder aus bildungsfernen Familien über all die Jahre und Jahrzehnte nur wenig geändert hat. Die Litanei der schlimmen Befunde setzt sich bis heute fort:
Im Dezember 2001 sagte Jürgen Baumert, der wissenschaftliche Leiter der ersten PISA-Studie in Deutschland: "Die Chancen eines Arbeiterkindes, anstelle der Realschule ein Gymnasium zu besuchen, sind viermal geringer als eines Kindes aus der Oberschicht."
Im September 2002 meldete "Der Spiegel": "Von den 32 untersuchten Nationen ist in keiner der Abstand zwischen der Leistung von Schülern aus privilegierten Familien und solchen aus unteren sozialen Schichten derart groß wie in Deutschland: Platz 32."
Im April 2003 stand in der "Zeit": "Je früher die Auslese, je hierarchischer die Schulstruktur, desto stärker schlägt sich die soziale Herkunft eines Schülers auf seine Leistung nieder."
Im September 2004 sagte der Eliteforscher Michael Hartmann über die Auswahlgespräche an den Universitäten: "Bewerber aus bürgerlichen Familien werden gegenüber Arbeiterkindern eindeutig bevorzugt."
Im Oktober 2004 schrieb Jochen Schweitzer, damals Vertreter der Kultusministerkonferenz in den PISA-Gremien: "Die Schüler aus den unteren Sozialschichten werden vierfach bestraft: durch ihre Herkunft, durch die ungerechte Selektion am Ende der Grundschule, durch die ungünstigen Lernbedingungen der Hauptschule und schließlich durch die geringsten Chancen auf dem Arbeitsmarkt."
Im März 2007 appellierte UN-Berichterstatter Vernor Munoz nach seiner Inspektionsreise durch deutsche Schulen vor dem "Rat für Menschenrechte" an die Bundesregierung, "das mehrgliedrige Schulsystem, das sehr selektiv und sicher auch diskriminierend ist, noch einmal zu überdenken."
Im September 2008 berichtete "Spiegel Online" über eine neue Wiesbadener Studie, in der alle 35 Grundschulen der Stadt auf ihre Gymnasialempfehlungen untersucht wurden: "Aufs Gymnasium schaffen es in erster Linie die Privilegierten, nämlich Kinder gut betuchter Akademiker. Schüler aus einer niedrigen sozialen Schicht haben weitaus schlechtere Karten beim Schulübergang. Und zwar auch bei gleicher Leistung."
Im gleichen Monat bekräftigte Jürgen Baumert seinen alten Befund von 2001: "Verrate mir deinen Bildungsabschluss, und ich sage dir, welche Art von Beruf du ergreifen wirst, wie viel du verdienst, wen du heiratest und wie gesund du sein wirst."
Interesse
Trotz der Konjunktur, die das Thema Bildung seit dem PISA-Schock hat, ziehen bei der Lösung der Probleme keineswegs alle an einem Strang. Bildung ist eine knappe Ressource, was in den Wohlfühldiskussionen derer, die sie haben, oft übergangen wird. Weil knappe Ressourcen nur mit großem Aufwand an Menschen, Geld und Zeit erweitert werden können, kommt es zu Konflikten darüber, wer wann wovon wie viel bekommt. Die Gerechtigkeit spielt dabei eine Heldenrolle. Es ist die des Maulhelden: Große Klappe, nichts dahinter.
Im Alltag prallen die Interessen der verschiedenen Gruppen aufeinander, in den Medien konkurrieren die Meinungen, und in der Politik sind die Entscheidungen darüber, wie die begrenzten Ressourcen verteilt werden sollen, heftig umkämpft. In diesem Konfliktfeld haben Bildungswissenschaftler in erster Linie die Aufgabe, sachlich korrekte Informationen bereit zu stellen, also - wenn man es so ausdrücken will - nach der Wahrheit zu suchen. Dabei müssen die eigenen Interessen und die der sozialen Schicht, der man angehört, zurücktreten. Die Bildungspolitiker dagegen dürfen und müssen die Interessen ihrer Wählerinnen und Wähler in den Vordergrund stellen. Die Wahrheit ist dabei nicht immer hilfreich, manchmal sogar hinderlich. Die Rolle der Bildungsjournalisten wiederum besteht darin, die Öffentlichkeit über wissenschaftliche Ergebnisse und politische Ziele zu informieren, Meinungen zu äußern und diese Meinungen dem Publikum nahe zu bringen.
Bei all dem wird nicht immer redlich verfahren. Sobald es um die Interessen der eigenen Kinder oder der eigenen Schicht geht, kommt die konventionelle Moral rasch zum Erliegen. Auf die nicht mehr zu leugnenden bitteren Befunde wird mit Gebärden der Beschwichtigung reagiert; und wer sich damit nicht zufrieden gibt, sondern auf den Interessen der Kinder aus Familien benachteiligter Sozialschichten beharrt, muss mit dem Vorwurf des Ressentiments rechnen, wie seit jeher alle, die im Haus des Henkers vom Strick sprechen. Die akademischen Mittelschichten werden seit Jahrzehnten durch die Selektionsmechanismen des deutschen Bildungssystems bevorzugt. Doch selbst wenn sie die Nachteile der anderen beklagen, wollen sie von den eigenen Vorteilen nicht lassen. Listig werden die eigenen Startvorteile gerechtfertigt, indem man hinterlistig die Bereitschaft erkennen lässt, sie auch anderen einzuräumen. Dabei wird jedoch eine Bedingung gestellt: die besondere Begabung.
Bei Kindern aus Akademikerfamilien fragt niemand nach dieser besonderen Begabung. Durchschnitt reicht völlig aus. Promoviert gezeugte Kinder gehen nicht auf die Hauptschule. Vom besonders begabten Arbeiter-, Unterschicht- oder Migrantenkind, dem Abitur und Studium ermöglicht werden müsse, ist viel die Rede in den vergangenen Jahren. Aber auch schon in den Jahrzehnten nach dem Sputnik-Schock war viel davon die Rede gewesen. Der Anteil dieser Kinder an den Hochschulabsolventen hat sich dennoch nicht maßgeblich vergrößert, trotz der sozialliberalen Bildungsoffensive der späten 1960er und frühen 1970er Jahre. Die unsichtbaren Barrieren der Bildungsferne sind so hoch, dass sie ihre Schutzfunktion zugunsten der Bildungsnahen auch dann erfüllen, wenn so getan wird, als wolle man diese Schutzfunktion gar nicht.
In Wahrheit besteht aber genau darin der Sinn der besonderen Begabung. Sie wird Kindern bildungsferner Eltern als Bedingung abverlangt, wenn sie ins höhere Bildungssystem hineinwollen, und Kindern, deren Eltern schon in diesem System sind, ohne weitere Prüfung unterstellt. Man stelle sich vor, nicht Elternwille oder Lehrerempfehlungen, sondern anonym geschriebene und erst nach der Auswertung den Schülern zugeordnete Tests würden über den Wechsel von der Grundschule zum Gymnasium entscheiden. Es könnte gut sein, dass dann die ehern ungerechte Relation zwischen Akademiker- und Nichtakademikerkindern etwas gerechter werden würde. So manchem unbegabten Akademikerkind bliebe der Übertritt zum Gymnasium versperrt, und normal begabte Kinder bildungsferner Eltern würden die freien Plätze einnehmen. Ein solcher Test ist kein ernsthafter Vorschlag. Nicht nur, weil sich die Besitzer familiär ererbter Bildungsprivilegien bis zum Äußersten dagegen wehren würden, sondern weil er im deutschen System nicht praktikabel wäre und auch sachliche Nachteile hat. Die Idee wurde nur ins Spiel gebracht, um an der Angst vor ihrer Umsetzung zu demonstrieren, dass sich auch Akademikereltern über die Begabung ihrer Kinder im tiefsten Herzen keineswegs immer sicher sind.
Überhaupt wird mit der Begabung im Dienst des Interesses viel Schindluder getrieben. Die kursierenden Vorstellungen von Begabung sind mitunter ziemlich unbegabt. Auch akademisch ausgebildete Leute reden bisweilen einen Unsinn daher, der ihnen selbst peinlich wäre, hätten sie die Bildung und auch den Mumm, den eigenen Interessendiskurs einmal mit Abstand zu betrachten. Es kommt vor, dass Menschen allen Ernstes von in den Genen liegenden Begabungen sprechen, die nicht einmal die Frage beantworten könnten, wie viel Chromosomenpaare der Mensch hat. Derlei sich selbst unverständlich bleibendes Bramarbasieren hat seit der Entzifferung des genetischen Codes noch zugenommen. Aber das Genom ist nicht das Buch des Lebens, in dem Bildungsnahe lesen könnten, warum Bildungsferne keine Bücher lesen. Die naturalistische Reduktion, die Rückführung des von Menschen zu verantwortenden sozialen Unrechts auf die unverrückbaren Grundlagen der Natur, ist seit jeher ein beliebtes und trotz seiner Primitivität erstaunlich erfolgreich gebliebenes Mittel zur Verteidigung eigener Interessen. Früher hat Gott die kleinen Leute an den Platz gestellt, auf dem auch ihre Kinder dienend bleiben sollten, statt in die Universitäten davon zu laufen. Heute sind es die Gene, mit denen die Kinder an ihren Plätzen in der Bildungshierarchie festgezurrt werden: für nicht oder schlecht deutsch sprechende Migranten- und Unterschichtenkinder die Hauptschule, für die Kinder der kleinbürgerlichen Arbeiter- und Angestelltenmilieus die Realschule, für die der normalen akademischen Mittelschicht das Gymnasium und für die der gehobenen Mittelschicht und der Oberschicht die Privatschule.
Denen, die heute gegen die vorgeschobene genetische Gegebenheit der Verhältnisse protestieren, wird der gleiche Vorwurf an den Kopf geworfen wie einst denjenigen, die sich nicht mit der göttlichen Gegebenheit abspeisen lassen wollten: der Vorwurf der Ideologie. Es ist wie mit den Ressentiments. Die haben auch immer die anderen. Was bei denjenigen, die sich im System befinden, als legitime Interessenvertretung gilt, wird bei denjenigen, die erst noch hineinwollen, als Ideologie gebrandmarkt. Beispielsweise achten Akademikereltern penibel darauf, dass ihren Kindern die gleichen Chancen geboten werden wie denen anderer Akademiker. Wenn es aber nicht um schichtinterne, sondern um schichtübergreifende Chancengleichheit geht, kommt es zum Beißreflex: Die Chancengleichheit, auf die man unter seinesgleichen höchsten Wert legt, wird als Gleichmacherei verschrien, wenn sie jene geltend machen, die nicht dazu gehören.
Eine weitere beliebte Taktik im Kampf um die Vorteile ist die Verwechslung von Interesse mit Moral. Im Unterschied zu den klassischen Oberschichten, die ihre Familienprivilegien mit so eingewachsener Selbstverständlichkeit leben, dass sie Moral dabei nicht nötig haben, wollen die mittleren akademischen Milieus das Interesse und die Moral. Die dummen Hasen aus der Bildungsferne mögen so schnell hin und her rennen, wie sie können. Der Igel des Interesses und die Igelin der Moral sind immer schon da. Das geht so weit, dass die Besserverdiener das Privileg des kostenfreien Studiums mit dem verlogenen Hinweis verteidigen, dass besonders begabte Arbeiterkinder sonst nicht mehr studieren könnten. Ein halbes Jahrhundert lang waren diesen Schichten die Arbeiterkinder völlig egal, wie deren nach wie vor dramatische Unterrepräsentanz an den Universitäten beweist. Aber sobald es darum geht, die Besitzer von Privilegien auch zu deren Finanzierung heranzuziehen, wird das Eigeninteresse zu einer Sache der allgemeinen Moral erklärt.
Bildungsinteresse
Bildung kann nur von denen wertgeschätzt werden, die sie haben. Darin besteht das so schwer überwindbare Dilemma für Kinder aus bildungsfernen Familien. Und deshalb bleiben viele dieser Kinder auf halbem Wege stecken. Ihre Eltern können Bildung nur in Kategorien des persönlichen Fortkommens erfassen und rechnen geistige Werte, mit denen sie nichts anfangen können, in materielle und soziale um. Was soll ein Studium bringen, wenn nicht höheres Einkommen und besseren Status? Die erbärmliche Frage nach dem, was eine höhere Schul- und eine Universitätsausbildung bringt, offenbart das ganze Elend geistigen Desinteresses, ein verstocktes Verharren im eigenen, eng umgrenzten Horizont. Aber der verächtliche Ton, mit dem man Bildung als Luxus für bessere Leute und höhere Kreise abtut, verrät uneingestandene Selbstverachtung.
Der Weg aus diesem Dilemma zwischen bildungsferner Ignoranz und Selbstverachtung führt aber nicht über die Opferrolle. Mitleid zu predigen, ist unangebracht. Vielmehr sollte kampagnenartig ein regelrechter Bildungsneid geweckt werden. Genauso ist es völlig verkehrt, Bildungswege als Opfergänge darzustellen, an deren Ende man beladen von lauter Zeug, das man im Leben nicht brauchen kann, über die Ziellinie eines gutbezahlten Jobs taumelt - falls man nicht sozialwissenschaftlich qualifiziert Taxi fährt, was ja vermeintlich die meisten promovierten Soziologen tun. Die Studierenden, gleichgültig, was sie studieren, sind nicht die Erniedrigten und Beleidigten unseres Gesellschaftssystems, sondern bilden das Reservoir derjenigen, aus denen sich die künftige Funktionselite rekrutiert. Nicht jede und jeder aus diesem Reservoir wird auf ihre Kosten und zu seinen Erfolgen kommen. Aber wer nicht zu diesem Reservoir gehört, hat kaum eine Chance, sich auf eigene Faust Bildung zu verschaffen und wird nie zu denen vordringen, die in Wirtschaft, Wissenschaft, Politik und Gesellschaft das Sagen haben. Natürlich gibt es immer einzelne Ausnahmen. Hatten wir nicht einen Außenminister mit Taxiführerschein und ohne Hochschuldiplom? Wer ernsthaft darauf aus ist, in bildungsfernen Familien das Bildungsinteresse zu schüren, sollte das Studium weder als Hürden- noch als Marathonlauf darstellen. Das schreckt nur ab und hält die Bahn frei für diejenigen, die es besser wissen und sich deshalb einbilden, es auch besser zu können.
An den Schulen und Hochschulen muss ein Klima der Ermutigung geschaffen werden. Der Einsatz auf persönlicher Ebene und für einzelne Menschen, zum Beispiel wenn eine aufmerksame Lehrerin ein begabtes Arbeiterkind entdeckt und fördert, genügt nicht, wenn Bildung in der Breite attraktiv gemacht werden soll. Auch Patenschaften an den Universitäten, mit denen beruflich etablierte Akademiker aus bildungsfernen Familien den studentischen Nachwuchs aus dem gleichen Herkunftsmilieu mit ihren Erfahrungen und Kontakten unterstützen, reichen dafür nicht aus. So wichtig und bewundernswert dieses persönliche Engagement auch ist, die Beseitigung der strukturellen Benachteiligung ist nicht innerhalb der Institutionen möglich, zu deren Aufgaben das Organisieren und Verwalten eben dieser Benachteiligung gehört. Ungerechtigkeiten des Bildungssystems können im System gemildert, aber nur von außen abgeschafft werden.
Das hat die Überwindung der Benachteiligung von Schülerinnen und Studentinnen bewiesen. Es gibt nach wie vor Einzelfälle der Diskriminierung, aber von einer strukturellen Benachteiligung der Mädchen im deutschen Bildungssystem kann nicht mehr die Rede sein. Sie setzt allerdings nach dem Durchlaufen der Bildungsinstitutionen beim Verteilen der Berufschancen wieder ein. Dass die strukturelle Benachteiligung der Mädchen an Schulen und der Frauen an Hochschulen überwunden werden konnte, hat weniger mit pädagogischen und bildungspolitischen Reformen zu tun, als mit der nachdrücklichen Veränderung der weiblichen Lebensentwürfe. Das idiotische "Du heiratest ja doch", mit dem weibliche Bildungsambitionen einst abgewürgt wurden, spielt heute keine Rolle mehr, jedenfalls nicht in den bildungsbereiten Mittelschichten. Dort gibt es beim Bildungsinteresse und Bildungserfolg keine Rangfolge mehr nach Geschlechtern.
Es käme darauf an, analog zur Frauenbewegung eine Bildungsbewegung zu initiieren mit dem Ziel, die Rangfolge des Bildungsinteresses auch nach Schichten zu überwinden. Ohne die Bereitschaft vieler Menschen aus den gebildeten Mittelschichten, nicht nur das besonders begabte Arbeiter- und Migrantenkind zu fördern, sondern Solidarität in der Breite aufzubringen, wird das kaum zu erreichen sein. Aber warum sollten Menschen sich für die Kinder anderer Leute einsetzen, wenn diese Kinder massenhaft zu Konkurrenten der eigenen zu werden drohen? So etwas kann man von niemandem verlangen. Da es aber den Bildungsfernen an Kraft und Interesse fehlt, sich selbst zu nehmen, was ihnen und ihren Kindern zusteht, wird sich die Litanei der schlimmen Befunde weiter fortsetzen.