Einleitung
Im November 1918 endete der Erste Weltkrieg; neun Monate später besaß Deutschland eine demokratische Verfassung. Doch der Übergang von der Monarchie zur Republik wollte sich nicht nachhaltig im kollektiven Gedächtnis der Deutschen einprägen. Dies mag mit der Natur von Gründungserzählungen zusammenhängen, die spektakuläre Ereignisse bevorzugt - besser noch, wenn sich die entscheidenden Momente visuell darstellen lassen, in einem Gemälde oder auf einem Foto. Der liberale Politiker und spätere Bundespräsident Theodor Heuss schrieb 1927: "Dem 11. August [1919, Tag der Unterzeichung der Weimarer Verfassung, N.R.] fehlt die Erschütterung durch einen eindrucksvollen Geschichtsvorgang, der Zeitgenossen einmal getroffen hatte und in eine wuchernde Legende einging. Es fehlt ihm auch das Pathos einer Echo weckenden Verkündigung, das heimliche Bildhafte eines Geschehnisses, an dem die Phantasie sich entzünden könnte." Aber braucht ein Staat wirklich "Pathos" und "wuchernde Legenden", und an welchen Ereignissen soll sich "die Phantasie entzünden"?
Gründungserzählungen sind wichtig, weil sie eine Gemeinschaft erzeugen sollen, die gesellschaftlich Trennendes verbindet. Sie wirken legitimierend und stabilisierend zugleich. Lange dominierte die Traditionsbildung des Kaiserreichs, mit welcher den Deutschen ihr neuer Nationalstaat schmackhaft gemacht werden sollte, die Geschichtsbücher und die historische Forschung. Doch auch die junge Weimarer Republik versuchte eine eigene Gründungserzählung zu entwickeln, um die Demokratie als historisch gewachsene Staatsform zu präsentieren. Wichtige Elemente darin waren, neben Verweisen auf die Frankfurter Nationalversammlung 1848/49, der Weltkrieg und die Verfassung.
Republikanische Erinnerung an den Weltkrieg
Die Bedeutung des Ersten Weltkriegs für die Weimarer Republik kann kaum überschätzt werden. Individuelle Trauer um verstorbene Angehörige, staatliche Ehrenmalprojekte, Kriegsromane und Kriegsfilme ebenso wie Diskussionen um finanzielle Ansprüche von Kriegsversehrten berührten große Teile der Gesellschaft. Trotzdem wirkte die Kriegserinnerung nicht gemeinschaftsstiftend. Vielmehr reklamierten verschiedene gesellschaftliche und politische Gruppen die Interpretation des Kriegsgeschehens für sich. Dem (politischen) Gegner wurde jegliches Deutungsrecht abgesprochen. Nicht nur nationalistisch gesinnte Kreise pflegten in Kriegsvereinen und bei Veteranentreffen ihre Erinnerungen, auch für viele Republikaner war der Weltkrieg ein entscheidendes Erlebnis. Sie hatten gekämpft und Opfer gebracht, hatten Angehörige und Freunde verloren und waren deshalb nicht bereit, die Interpretationshoheit über das Ereignis den Rechten zu überlassen. Dies galt für Männer und Frauen.
Im Jahre 1924 gründete sich das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold. Es verstand sich als republikanische Kriegsveteranenvereinigung und zugleich als Schutztruppe für die junge Demokratie. Offen für alle männlichen Republikaner und betont überparteilich, versuchte das Reichsbanner nicht nur eine republikanische Interpretation des Weltkriegs zu verbreiten, sondern auch durch Feste und Umzüge die Republik und ihre Unterstützer sichtbar zu machen. Auf lokaler, regionaler und nationaler Ebene wurde das Reichsbanner zu einer wichtigen Säule der jungen Demokratie. Der Anspruch der Überparteilichkeit bewahrheitete sich in der Führungselite: Auf lokaler Ebene dominierten Sozialdemokraten das 1,5 Millionen Mitglieder starke Reichsbanner.
Das Kriegsgedenken des Reichsbanners verfolgte mehrere Ziele. Es sollte Raum schaffen für republikanische Kriegserinnerungen, besonders die der Arbeiterklasse, um so den eigenen Mitgliedern und ihren Kriegsopfern gerecht zu werden. Ebenso wichtig war die öffentliche Besetzung, Reklamierung und Verteidigung dieses Raumes. Im Sommer 1924 erklärte der Bundesvorstand des Reichsbanners, dass das Kriegsgedenken der nationalistischen Kreise "einen monarchischen Rummel" produziert habe, dem das Reichsbanner eigene Feiern entgegensetzen müsse. Die Zeitung des Reichsbanners reagierte auf die auch 1929 noch die Öffentlichkeit dominierende nationalistische Kriegserinnerung und schrieb: "(D)ass es ihre Toten waren, erklären rechte Kreise immer gern (...), aber die 2 Millionen, die fielen (mit ihren verschiedenen Ansichten und Einstellungen), gehören nur der gesamten Nation und nicht einer einzelnen Partei."
Es war das erklärte Ziel des Reichsbanners zu zeigen, dass viele Republikaner unter diesen zwei Millionen Toten waren, damit nationalistische Kreise keine Alleinherrschaft auf das Vermächtnis des Weltkriegs beanspruchen konnten. Mehr noch, Republikaner sollten nicht als Verräter an Vaterland und Nation diffamiert werden können, weil sie angeblich das Land nicht verteidigt hätten. Die Reichsbannerführer für Oberbayern und Schwaben erinnerten ihre lokalen Gruppen daran, dass würdige Gedenkfeiern durchzuführen seien, "die eindrucksvoll beweisen, dass in unserem Lager Massen von Kriegsteilnehmern und Angehörigen von Kriegsopfern sind". Drei Elemente dominierten die Rhetorik des Reichsbanners bezüglich des Weltkriegs. Zuerst wurde der nationalistische Anspruch, nach dem es sich allein um "ihre" Kriegstoten handele, kritisiert. Dann betonte das Reichsbanner die enormen Kriegsverluste in den Reihen der Republikaner, und letztendlich erinnerte es daran, dass das Vermächtnis des Krieges nur Frieden und Verständigung mit anderen Nationen sein könnte.
Die Verfassung als Gründungsdokument
Historische Bezüge, welche die Weimarer Verfassung in die Tradition der Frankfurter Nationalversammlung 1848/49 stellten und sie so als Vervollständigung einer alten republikanischen Idee präsentierten, finden sich besonders in Reden zum Verfassungstag. Auch wenn der 11. August, der Tag der Unterzeichnung der Weimarer Verfassung 1919, nie zum offiziellen Feiertag der Republik wurde, entwickelten sich trotzdem ein festliches Regierungszeremoniell und populäre Volkfeste zu Ehren des Tages. Neben anderen Festivitäten organisierte die Reichsregierung jedes Jahr einen Festakt im Reichstag.
Badens Staatspräsident Hermann Hummel verwies in seiner Verfassungstagsrede 1922 vor dem Parlament auf die lange demokratische Tradition der badischen Landesverfassung und lobte die Weimarer Verfassung als Bestandteil des selben nationalen Geistes. Er betonte damit eine demokratische Verfassungstradition in Deutschland, um allen denjenigen, die Demokratie und Parlamentarismus als "undeutsch" diffamierten, den Wind aus den Segeln zu nehmen. Reichsinnenminister Wilhelm Külz nannte im August 1926 die Weimarer Verfassung "die Magna Charta der deutschen Republik". Es war allerdings erst der Rechtsprofessor und ehemalige Reichsjustizminister Gustav Radbruch, der im August 1928 das Lob der Verfassung mit einer epischen Erzählung verband. Er beendete seine Rede mit einem eindrucksvollen Bild: "Eine Verfassung ist wie ein Schild, der seinem Träger um so lieber wird, je mehr Schrammen und Narben vergangener Kämpfe er zeigt (...). Es gibt einen alten Aberglauben, dass nur das Haus besteht, in dessen Grundstein ein Lebendiges eingemauert ist. Wie unendlich viel Leben ist in das Fundament unserer Verfassung eingemauert worden!" Damit verband Radbruch nicht nur die Weltkriegstoten mit der Verfassung, er bezog sich ebenso auf die 1922 und 1925 verstorbenen führenden Politiker der Republik, Walther Rathenau und Friedrich Ebert.
Die Reichsregierung versuchte, die Verfassung auch visuell hervorzuheben und ihr zudem mythischen Charakter zu verleihen. Der Reichskunstwart Edwin Redslob, der mit seinem von der Reichsregierung in den frühen Jahren der Republik geschaffenen Amt verantwortlich war für die künstlerische Formgebung des demokratischen Staates, gestaltete den Plenarsaal für die Feiern. Über dem Rednerpult prangte unübersehbar die Präambel der Weimarer Verfassung, welche die Einigkeit des deutschen Volks hervorhob. Um den zehnten Jahrestag der Verfassungsunterzeichnung 1929 würdig zu feiern, ließ die Reichsregierung 300 künstlerisch aufwendig gestaltete Verfassungsausgaben drucken, die als Ehrengeschenke ausgehändigt wurden; fünf davon bestanden aus handgeschöpftem Papier. Im März 1930, die Prachtausgaben hatten für die Feiern 1929 nicht mehr rechtzeitig fertiggestellt werden können, schickte der sozialdemokratische Reichsinnenminister Carl Severing das erste Exemplar an Reichspräsident Paul von Hindenburg. Severing verwies in seinem Brief auf die Bedeutung der Verfassung in der unruhigen Nachkriegszeit. Er gedachte des verstorbenen Reichspräsidenten Ebert und würdigte die Leistungen von Eberts Nachfolger Hindenburg. Severing schloss mit Worten, die sich auf die beigelegte Prachtausgabe der Verfassung bezogen: "Darum bitte ich Sie, Herr Reichspräsident, dieses Buch mit Ihrem Namenszug zu versehen und zum Besitz des Hauses zu machen, das der deutsche Reichspräsident bewohnt (...). Auf kostbarem und dauerhaftem Material, den zerstörenden Wirkungen der Zeit entzogen, verbleibe das Grundbuch unserer Verfassung im Hause des deutschen Reichspräsidenten und sei so auf das engste mit der höchsten Würde verbunden, die unser Volk zu vergeben hat." Hindenburg versprach, die Ausgabe der Verfassung in Ehren zu halten und an seinen Nachfolger weiterzugeben.
Dazu sollte es nicht mehr kommen. Nach Hindenburgs Tod 1934 vereinte Adolf Hitler die Ämter des Reichskanzlers und Reichspräsidenten auf seine Person. Trotzdem ist die mythische Atmosphäre, die Severing um die Verfassung kreierte, von Bedeutung. Die künstlerisch gestaltete Verfassung sollte weitergegeben werden, um für künftige Generationen zum republikanischen Gründungsdokument zu werden. Reichskunstwart Redslob erkannte dieses Potenzial, als er dem Reichsaußenministerium im August 1931 berichtet, dass sich eine in Leder gebundene und auf Pergamentpapier gedruckte Ausgabe der Verfassung "mit der Bedeutung einer Insignie" in Verwahrung des Reichspräsidenten befinde. Etwas prosaischer, dafür aber mit hohem erzieherischen Anspruch, war die Vorgehensweise der Preußischen Landesregierung. Sie verteilte Verfassungsausgaben zum Schulabschluss, ein Brauch, der auch heute in vielen Bundesländern üblich ist, wobei entweder die jeweilige Landesverfassung oder das Grundgesetz zur Verteilung gelangen.
Das Reichsbanner verband erzieherische und symbolträchtige Elemente miteinander, wenn es in seinen Publikationen auf die Verfassung einging. Zwar stand der republikanischen Organisation die schwarz-rot-goldene Flagge als Symbol für die Republik näher, trotzdem wurde auch versucht, die demokratische Verfassung bildhaft zu machen. Auf Titelseiten der "Illustrierten Reichsbanner Zeitung" (IRZ) erschienen Verfassungsbücher als Teil der Ausstattungen von Freiheitsgöttinnen, die in langem Kleid und mit langen Haaren demokratische und freiheitliche Werte vertraten. Die Verfassung und die Republik wurden dabei oft gleichgesetzt und mit weiblichen Symbolen ausgestattet. Die Freiheitsgöttin, eine Figur, die von den deutschen Sozialdemokraten häufig in ihren Publikationen verwendet wurde, war in der Bildsprache der Französischen Revolution verwurzelt. Die Kämpfer hingegen, die Republik und Verfassung schützen, waren nicht nur in der Bildsprache des Reichsbanners, sondern auch in den Statuten der Organisation - männlich. Das Reichsbanner nahm keine Frauen auf.
Vom Volkskrieg zum Volksstaat
Republikanische Versuche, den Weltkrieg und die Republik miteinander zu verbinden, um die Kriegstoten in eine demokratische Gründungserzählung einzubeziehen und der Verfassung das von Theodor Heuss angesprochene Pathos zu verleihen, waren vielfältig. Gustav Radbruch verdeutlichte in seiner Rede am 11. August 1928 die republikanische Interpretation beider Ereignisse: "Das Volksheer - und Volksheer war damals, kämpfend oder leidend, das ganze deutsche Volk, Frauen und Männer - (...) bedingte den deutschen Volksstaat. Wir können der Verfassung des erneuerten Deutschland nicht gedenken, ohne der Jahre 1914 bis 1918 zu gedenken (...)." Mit dieser Betrachtungsweise reklamierte der überzeugte Demokrat Radbruch den Weltkrieg nachträglich für die Republik. Er versuchte nicht nur das in den 1920er Jahren dominierende Thema näher an die Republik zu binden, sondern ebenso der jungen Demokratie eine kämpferische Vorgeschichte zu verleihen. Oskar Kobel brachte diese Argumentation in seiner Publikation zum Verfassungstag auf folgende Formel: "Das Volk hat durch Kampf und Opfer sein Vaterland mit einer Herzensglut lieben gelernt, die ihm früher fremd war. Darum musste sein Besitzrecht am Vaterland in fester Form durch ein Staatsgrundgesetz verankert werden."
Die zeitliche Nähe der beiden Daten im August, der Kriegsbeginn am 4. (1914) und die Unterzeichung der Verfassung am 11. August (1919), erleichterte die gegenseitigen Bezüge. Das kam besonders dem Reichsbanner gelegen: Ende Juli 1926 schmückte die IRZ ihre Titelseite mit einer Zeichnung, die an die Brutalität des Krieges erinnerte. Sie zeigte drei verstümmelte Leichen, teilweise in Stacheldraht verfangen, und darüber die Gesichter drei junger Soldaten. Eine Woche später berichtete die IRZ über die bevorstehenden Verfassungsfeiern und wies ihre Leser an, beide Ereignisse miteinander zu verbinden. Die Schrecken und Leiden des Krieges, so die IRZ, konnten durch die demokratische Verfassung abgeschwächt werden. Diese garantiere allen Deutschen ein Mitspracherecht über Krieg und Frieden. Schon Anfang 1925 hatte die IRZ gefolgert, dass das einzig positive Kriegsvermächtnis die deutsche Republik gewesen sei. Damit wollte die Zeitung nicht nur Weltkrieg und Republik in einen engen Zusammenhang stellen, sondern auch der Kriegsverherrlichung nationalistischer Kreise eine Absage erteilen.
Das Reichsbanner präsentierte Kriegsmythen der 1920er Jahre, wie die Gemeinschaft im Schützengraben und das Verschwinden von Klassenunterschieden, als Grundlage für den neuen demokratischen Staat. Die "Neue Leipziger Zeitung" formulierte diesen Anspruch im Vorfeld eines Reichsbannertreffens im August 1927: "Das Reichsbanner verzichtet auf leere Phrasen und auf das überpatriotische Getue der Vaterländischen. Das gab es im Schützengraben nicht, das gibt es auch jetzt nicht im Dienste am Staate (...), keine Throne, keine Stufen, keine Chargen, sondern Bürger neben Bürger auf gleicher Ebene und im gleichen Geiste." So gut dieser angeblich im Weltkrieg erlernte Gemeinschaftssinn auch zu den Prinzipien einer Demokratie passte, das Reichsbanner wusste durch viele Arbeiter in seinen Reihen, dass Klassenunterschiede im Krieg ebenso präsent gewesen waren wie im Kaiserreich. Die republikanische Organisation bediente sich bewusst eines nationalen Mythos, wenn sie diese Verbindungslinien zog.
Zum zehnten Jahrestag der Weimarer Verfassung 1929 präsentierte das Reichsbanner sein spektakulärstes Projekt. Bei den groß angelegten Berliner Verfassungsfeiern errichtete die republikanische Organisation ein Ehrenmal vor dem Brandenburger Tor. Die Holzkonstruktion, die das Ehrenmal trug, war mit schwarz-rot-goldenem Stoff bezogen. Stelen ragten in den Himmel mit den Inschriften: "Allen Toten des Weltkrieges", "Den Opfern der Republik und der Arbeit" und "Den Toten des Reichsbanners". So gedachte das Reichsbanner allen Toten unter einer republikanischen Überschrift. Das Ehrenmal war 17 Meter hoch und 14 Meter breit und nur für die Verfassungsfeiern in der Hauptstadt aufgestellt worden. Mit diesem Projekt erreichte die republikanische Organisation eine visuell eindrucksvolle Verbindung der Themen Weltkrieg und Republik. Das liberale "Berliner Tageblatt" schrieb: "(D)as Ehrenmal soll die schwarz-rot-goldenen Farben zeigen und die 150 000 Mann des Reichsbannerzuges werden daran vorbeimarschieren. Das ist ein schöner, feierlicher Gedanke, den jeder vaterländisch Gesinnter billigen muss." Nationalistische Kritik, dass das Reichsbanner den Weltkrieg für "republikanische Zwecke" missbrauche, konterte die Zeitung mit dem Verweis, dass gerade die Schichten der Reichsbannermitglieder von besonders vielen Kriegstoten betroffen waren. Auch die "Vossische Zeitung" berichtete begeistert von dem Ehrenmal, wohingegen der spätere nationalsozialistische Propagandaminister Joseph Goebbels seine Verachtung über die republikanischen Inschriften in sein Tagebuch notierte.
In der Folgezeit verband das Reichsbanner Bezüge auf den Weltkrieg mit der Mobilisierung zur Verteidigung der krisengeschüttelten Republik. Erneut führt eine Titelseite der IRZ diese Vorgehensweise besonders plastisch vor Augen. Im März 1932 zeigte die Zeitung das Foto eines Kriegsinvaliden, der eine Spende für die Arbeit der so genannten "Eiserne Front", ein Zusammenschluss aus Reichsbanner und anderen republikanischen Gruppen, in eine Sammelbüchse wirft. Das Foto ist mit der Unterschrift "der Republik ärmster Sohn ist ihr getreuester" kommentiert. Damit bediente sich das Reichsbanner einer Variante des allgemein bekannten Zitats des Dichters Karl Bröger. Dieser hatte in seinen populären Kriegsgedichten vom "ärmsten Sohn des Vaterlandes" als "getreuester" geschrieben. So war der Zusammenhang hergestellt: Diejenigen, die das Vaterland unter sichtbaren Opfern ihrer Gesundheit verteidigt hatten, verteidigten 1932 auch die Demokratie.
Allerdings kritisierte der Journalist Carl von Ossietzky schon im März 1930, dass die Republik weder die Niederschlagung des rechtsnationalistischen Kapp-Putsches noch die öffentliche Empörung nach der Ermordung von Außenminister Rathenau staatsfördernd ausgenutzt habe. Beide Male sei eine Mehrheit der Bevölkerung bereit gewesen, aktiv für den demokratischen Staat einzutreten, glaubte Ossietzky: "Nur im März 1920 [Kapp-Putsch, N.R.] und im Juni 1922 [Ermordung Rathenaus] sah der Deutsche die Republik so, wie sie der Franzose immer gesehen hatte: nämlich kämpferisch, als Tochter der Freiheit."
Auch wenn das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold durchaus eine kämpferische Rhetorik pflegte, standen besonders republikanische Politiker und Behördenvertreter dem Heraufbeschwören der "kämpferischen Republik" skeptisch gegenüber. Sie wollten keine latente Krisenatmosphäre erzeugen, sondern eine Gründungserzählung für einen stabilen demokratischen Staat schaffen. Kampf, Opfer, Leiden und Schrecken des Weltkriegs hatten angeblich die demokratische Republik hervorgebracht, die durch eine stabile Verfassung, mit Wurzeln im Nationalliberalismus des 19. Jahrhunderts, Frieden und Freiheit garantieren sollte.
Die Differenz zwischen Anhängern eines "kämpferischen" Republikbegriffs und republikanischen Behördenvertretern, die auf demokratische Stabilisierung und politische Überzeugungen hofften, konnte nie überbrückt werden. Diese Zweigleisigkeit war ein Grundproblem des republikanischen Lagers und charakterisierte nicht nur die Suche nach Gründungserzählungen, sondern auch viele weitere Gebiete republikanischer Sinn- und Formgebungsversuche in den Weimarer Jahren.