Einleitung
Als im August 1914 der Krieg in Europa begann, glaubte niemand, dass dieser Konflikt die ganze Welt umfangen und ein äußerst schmerzvolles Jahrhundert einläuten sollte. Vereinzelt auftretende Untergangspropheten wurden rasch von einer Flutwelle des Optimismus zum Schweigen gebracht, die jede Krieg führende Nation überschwemmte. Der Krieg würde in wenigen Wochen, spätestens in wenigen Monaten vorüber sein.
Der lange erwartete Kampf beschwor, als er schließlich ausbrach, elementare Bilder der Säuberung herauf. Der Dichter Richard Dehmel sprach in jenen Tagen des August von einem "seelischen Flammenwunder" und "diesem reinigenden Sturm".
In der Vorkriegswelt hatte Deutschland die Kräfte der Veränderung und Erneuerung repräsentiert. Frankreich und Großbritannien standen für das Alte, Deutschland für das Neue. Die politische Einigung des Landes war spät, doch dafür umso schneller gekommen. Und mit ihr die Industrialisierung: Gegen Ende des 19. Jahrhunderts hatte Deutschland die weltweit führende Rolle in den neuesten Industrien, der chemischen und der elektrischen, inne. Die Qualität seiner herstellenden Industrie, das Talent seiner Wissenschaftler und Ingenieure, die Brillanz seiner Philosophen, Historiker und Musiker schienen unübertroffen. "As a rule", so der britische Historiker John Seeley, "good books are in German."
Vision und Realität
Der Kaiser versprach, dass der Krieg vorbei sein würde, sobald die Blätter fallen. Die Bäume verloren ihre Blätter zum fünften Mal, als der Krieg im November 1918 endlich zu Ende ging. Ein glorreiches Abenteuer - "Nach Paris... Frühstück auf dem Boulevard!" - war in einen unvorstellbaren Strudel gemündet. Etwa neun Millionen Menschen waren gestorben, ein Fünftel von ihnen Deutsche. Und noch viel mehr waren verstümmelt worden - eine ganze Generation, so schien es. Die Arbeit hatte organisiert, das Kriegsgerät geordnet, Lebensmittel hatten rationiert und Widersprüche ausgeschaltet werden müssen. Als Steuern und Kriegsanleihen nicht mehr ausreichten, um diese Bemühungen zu finanzieren, musste ein Versprechen die bare Münze ersetzen: Der Feind würde zahlen. Der Krieg, der so unschuldig begonnen hatte, endete in einem Morast schmerzvoller Ironie. Dabei waren nicht nur Menschen und Landstriche verstümmelt worden, sondern eine ganze Kultur mit ihren grundlegenden Auffassungen von Wachstum, Wohlstand und Fortschritt, moralisch wie materiell. Alles nahm Schaden, am meisten der traditionelle Begriff von Autorität, und zwar auf politischer, intellektueller und auf künstlerischer Ebene.
Warum hat sich das Gemetzel so lange hingezogen? Warum haben die Soldaten, auf allen Seiten, nicht einfach die Waffen niedergelegt? Der Grund dafür war ein außerordentlich starker sozialer Zusammenhalt, ein Gemeinschafts- und Pflichtgefühl auf allen Seiten, das heute nur schwer vorstellbar ist - Loyalität gegenüber der Familie, Freunden, Gott und dem Vaterland. Und schließlich, allen voran, Loyalität gegenüber den Kameraden: Insbesondere die "Frontgemeinschaft" wurde verklärt. Mit dieser Erfahrung war eine Verpflichtung verbunden, auf eine geistige Ebene gehoben durch ein Erbe des historischen und sozialen Engagements, das den amerikanischen Romanautor F. Scott Fitzgerald veranlasste, den Krieg als "love battle" zu bezeichnen: "This took religion and years of plenty and tremendous sureties (...). All my beautiful lovely safe world blew itself up here with a great gust of high explosive love." Als Fitzgeralds Held Dick Diver zehn Jahre nach dem Krieg das Schlachtfeld an der Somme durchstreift, kommt er zu dem Schluss, dass es diese Art von Schlacht niemals wieder geben könne.
Im Westen hatte ein deutscher Sieg zwei Mal in der Luft gelegen, und zwar im September 1914 und im April 1918. Im Osten wurde tatsächlich im März 1918 ein Sieg erzielt, als sich Russland, nach der bolschewistischen Revolution, von dem Blutbad zurückzog. In Deutschland waren die Emotionen zwischen freudiger Zuversicht und tiefer Verzweiflung brutal hin und her gerissen worden. Umzingelt von feindlichen Mächten zu Lande, konfrontiert mit der britischen Blockade zur See, zunehmend von der ganzen Welt belagert, vor allem, als die USA im April 1917 in den Krieg eintraten, fühlten sich die Deutschen in ihrer Not gezwungen, neue Ideen und neue Methoden auszuprobieren. Egal, welche Methoden. Die "Einkreisung" musste durchbrochen werden, und jede Möglichkeit, die eine Befreiung in Aussicht stellte, war nicht nur zulässig, sondern ein Gebot der Stunde. Zu Lande waren die Deutschen die ersten, die im April 1915 in Flandern Giftgas einsetzten; zu Wasser führten sie einen uneingeschränkten U-Boot-Krieg, um sich aus dem Würgegriff der britischen Flotte zu befreien; "Tauben" (Aufklärungsflugzeuge) tauchten über Paris und Zeppelin-Luftschiffe über Großbritannien auf. Die ernste militärische Lage sowie ihr Selbstbild als Erneuerer, das sie vor dem Krieg gepflegt hatten, verleitete viele Deutsche, außerhalb bestehender internationaler Normen von Gesetz und Moral zu denken und zu handeln, Normen, die speziell mit Großbritannien und Frankreich assoziiert wurden, jenen Ländern, die über mehrere Jahrhunderte die mächtigsten in Europa waren.
Bedeutung
Als der Krieg zu Ende ging, befanden sich die deutschen Truppen noch immer auf fremdem Boden. Das bedeutete, dass der Begriff der Niederlage zunächst nur abstrakte Bedeutung hatte. Belgien, Nordfrankreich und Kurland lagen vielleicht in Schutt und Asche; das deutsche Territorium aber war unversehrt. Wer konnte in dieser Situation als Sieger und wer als Besiegter bezeichnet werden? Die Deutschen hatten die Kriegsanstrengungen zwar am eigenen Leib schmerzvoll miterlebt, Opfer und Entbehrungen in einem bisher unbekannten Ausmaß ertragen müssen, doch aus diesen Anstrengungen war eher ein Gefühl von Stolz als von Erniedrigung erwachsen: Der Feind, zahlenmäßig weit überlegen, hatte in Schach gehalten werden können. Niederlage war daher nichts als ein Wort, das bestenfalls aus dem Munde von Feinden, Verrätern oder Verbrechern zu hören war. Von Feldmarschall Paul von Hindenburg stammt die Bemerkung, es sei ein britischer General gewesen, der zu ihm gesagt habe, die deutsche Armee sei nicht auf dem Schlachtfeld geschlagen worden, sondern einem Dolchstoß aus dem eigenen Land erlegen.
Daheim, innerhalb der politischen Linken und der Arbeiterbewegung, war die Frage nach dem Sinn des Krieges aufgetaucht, als die Aussicht auf einen raschen Sieg geschwunden war. Der Burgfrieden hatte erste Risse bekommen. Die Volks- und Frontgemeinschaft, theoretisch gleich wichtig, begannen, auseinander zu driften. Im April 1917 spaltete sich die Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD), damals die bei weitem größte politische Gruppierung. Im Juli verabschiedete der Reichstag eine Resolution, die vom Zentrum vorgelegt und von Sozialisten und Linksliberalen unterstützt wurde - von Elementen, die im Bismarck-Reich stets als mit dem deutsch-preußischen Ideal unvereinbar gebrandmarkt wurden - und die einen auf Verhandlungen und Kompromiss basierenden Frieden anstrebte.
Anfang 1918 lähmten von radikalen Arbeitervertretern angeführte Streiks verschiedene für den Krieg unabdingbare Industriezweige. Während der Wille der kämpfenden Front ungebrochen war, schien die Heimatfront zu bröckeln. Kanzler Theobald von Bethmann Hollweg, der versucht hatte, mit seiner "Politik der Diagonale" das gesamte politische Spektrum zu erreichen, wurde im Sommer 1917 aus seinem Amt entlassen, und die Oberste Heeresleitung ergriff die politische und militärische Initiative, um den Widerstand gegen den Krieg im Keim zu ersticken. Die Unterdrückung dieses Widerstands führte zu seiner Radikalisierung. Die politischen Auseinandersetzungen der Weimarer Ära waren eine vorhersehbare Folge der Interessenkonflikte und Meinungsverschiedenheiten während des Krieges.
Folgen
Der Krieg fügte der Welt eine schreckliche Wunde zu. Für die britisch-französische Allianz bot der Sieg einen gewissen Trost. Das Opfer schien nicht sinnlos gewesen zu sein: Der Krieg, so hieß es, war notwendig, "um dem Krieg ein Ende zu setzen" und "die Demokratie in der Welt zu verankern". Parolen und Gedenkfeiern waren Balsam auf die Wunden. Allein für die Deutschen gab es keinen Trost außer der Erinnerung an eine unausweichliche und heroische Verteidigung. Im Vertrag von Versailles im Juni 1919 wurden sie für die Katastrophe verantwortlich erklärt, und die Reparationskommission legte ihnen im April 1921 eine Auflistung der materiellen Kosten vor. Sie sollten bis in die 1980er Jahre zahlen. "Bis in die dritte Generation müsst ihr fronen!", warnte eine politische Opposition, die jeglichen Kriegstribut kategorisch ablehnte. Die Vereinbarung sollte zweimal, 1924 und 1929, geändert und 1933 gänzlich außer Kraft gesetzt werden.
Die Kriegsschuldfrage, also die Suche nach einem Schuldigen, den man für alle nachfolgenden Katastrophen verantwortlich machen konnte - Bolschewismus, Bürgerkrieg, Inflation, Depression, Nationalsozialismus, noch ein Krieg, den Holocaust und den Kalten Krieg - lässt die Welt seither nicht mehr los. Zu diesem Thema wurden Berge von Literatur geschrieben. Doch die Kriegsschulddebatte - in ihrer ursprünglichen Form in den 1920er Jahren und dann in einer neuen, von Fritz Fischer initiierten Phase in den 1960er Jahren - ist immer am Wesentlichen vorbeigegangen: Niemand hatte im August 1914 den Krieg gewollt, zu dem es schließlich doch gekommen ist. Kann man für etwas schuldig gesprochen werden, was man nicht im Entferntesten hätte voraussehen können? Bereits nach einem Jahr hatte der Krieg eine Dynamik entwickelt, die alle früheren Begriffe von Führung und Verantwortung, politisch wie militärisch, über den Haufen geworfen hatte. Alle traditionellen Formen der Repräsentation, wie Sprache, Kunst, Geschichte oder Recht, wurden in Frage gestellt. Zum damaligen Zeitpunkt wagten nur wenige, von einer drohenden kulturellen Krise zu sprechen; später durchlebte die Welt diese Krise - eine des Zerfalls, der Ungewissheit und der wachsenden Ironie.
In Vicki Baums 1929 erschienenem, enorm erfolgreichen Roman "Menschen im Hotel", der im luxuriösen Hotel Adlon in Berlin, Unter den Linden, spielt, kommt ein so genannter Dr. Otternschlag vor, ein Mann mit nur einem halben Gesicht: "Die andere Gesichtshälfte war nicht vorhanden. Es gab da nur einen schiefen, ineinandergeflickten und zusammengeklappten Wirrwarr, in dem zwischen Nähten und Narben ein Glasauge blickte." Dieses künstliche Auge nennt der Doktor sein "Souvenir von Flandern". Das Hotel erstrahlt in Glanz und Glamour, doch für Otternschlag ist all dieses Getriebe nichts weiter als eine Fassade, hinter der Verzweiflung steht. "Grauenhaft ist es", sagt er. "Immer das gleiche. Nichts geschieht. Grauenhaft allein ist man. Die Welt ist ein gestorbener Stern, sie wärmt nicht mehr."
Man könnte meinen, dieses existentielle mal du siècle, das der Weltkrieg hervorgerufen hat, ist noch immer nicht abgeklungen. Zweifel und Unsicherheit bleiben; doch wir feiern die Vielfalt und die Komplexität, faute de mieux. Aus diesem Blickwinkel stellen sogar die Ereignisse von 1989 bis 1992 - der Fall der Berliner Mauer, der Zusammenbruch der Sowjetunion und das Ende des Kalten Krieges - weniger einen Endpunkt als vielmehr eine weitere große Etappe bei der Demontage des utopischen Ideals dar.
Auch der wissenschaftlichen Disziplin der Geschichte blieb diese Unsicherheit und Selbstreflexion, in Methodologie und Zielsetzung, nicht erspart. Schon im Jahre 1925 veröffentlichte Thomas Mann die Erzählung "Unordnung und frühes Leid", in der ein 47-jähriger Geschichtsprofessor, samt Frau und vier Kindern, im Mittelpunkt steht. Die Kinder nennen ihre Eltern "die Greise" und ihre Großeltern "die Urgreise"; der älteste Sohn - damals siebzehn - trägt Lidschatten und möchte kein Wissenschaftler, sondern Tänzer, Kabarettist oder Kellner werden. Sein Vorbild namens Iwan ist "ein Künstler der neueren Schule, der in sonderbaren und, wie es dem Professor scheint, äußerst gezierten und unnatürlichen Tänzerposen auf der Bühne steht und leidvoll schreit". "Einen Professor der Geschichte", schreibt Mann, "kann das unmöglich ansprechen."
Seit Mann diese Gedankenbilder entwarf, sind viele Jahre vergangen, und der intellektuelle Ehrenplatz, den einst Clio innehatte, ist weiter unbesetzt. Die Muse der Geschichte wurde rüde zur Seite gestoßen. Ihre Kolleginnen Melpomene und Thalia haben mit ihren tragischen und komischen Talenten erfolglos versucht, ihren Platz einzunehmen, doch bisher ist der Stuhl in der Mitte des Symposiums wie zum Trotz leer geblieben.