"Warum lassen wir zu, dass die Rüstungsindustrie die EU vereinnahmt?"
Allerdings sind die hohen Verteidigungsausgaben liberaler demokratischer Staaten, so beunruhigend sie auch sein mögen, kein neuer Trend. Sie stehen auch nicht für eine "grundlegende Kursänderung" oder eine "Vereinnahmung" bislang friedlicher Nationen, wie es Fotiadis darstellt. Tatsächlich liegen die Militärausgaben aller Staaten weltweit, also einschließlich der Rüstungsausgaben liberaler demokratischer Staaten, seit 1960 auf einem relativ konstanten Niveau.
Können liberale demokratische Staaten militaristisch sein?
Generell betrachten sich liberale Staaten nicht als militaristisch. Vielleicht ist das der Grund, warum sich manche Beobachter von ihrer Beteiligung an militärischen Aktivitäten überrascht zeigen. Schließlich führt Gewalt zu Unordnung und Chaos, ein Zustand, der nicht zuträglich ist, wenn man die Rechte und Freiheiten des Einzelnen in den Mittelpunkt stellt, wie es demokratische Gesellschaften anstreben. Aus diesem Grund vertreten liberale demokratische Staaten oft die Vorstellung, ein Krieg, wenn man ihn denn führt, solle klare, legitime Ziele verfolgen und in einem angemessenen Verhältnis zum Ausmaß der von den Aggressoren ausgehenden Bedrohung der Bevölkerung und der Gefährdung der Werte stehen. Liberale Staaten scheuen daher meist den Gedanken, dass der Erhalt und Einsatz der weltweit größten militärischen Kapazitäten eine Aggression darstellen. Obwohl also die Militärausgaben und Waffenexporte liberaler Demokratien darauf hindeuten, dass das römische Sprichwort si vis pacem, para bellum ("Wenn du Frieden willst, bereite Krieg vor") weltweit Anwendung findet, werden diese Entwicklungen selten als Zeichen militaristischer Bestrebungen gedeutet, eher als Vorbereitung, um sich verteidigen zu können.
Ein Krieg stellt liberale Demokratien vor unausweichliche Probleme. Sie müssen in der Lage sein, die individuellen Rechte ihrer Bürger zu garantieren; diese Fähigkeit ist ihre Daseinsberechtigung. Der Gesellschaftsvertrag, der einer liberalen demokratischen Regierungsführung zugrunde liegt, verlangt, dass der Einzelne einen Teil seiner Freiheiten an den Staat abgibt (er zahlt Steuern, hält sich an die Gesetze), aber nur, wenn der Staat als Garant für die öffentliche Ordnung fungiert (das Leben seiner Bürger schützt, für ihren Lebensunterhalt und ihr Eigentum garantiert und so weiter). Das heißt, dass liberale Staaten ihre Bürger vor der Gewalt eines bewaffneten Konfliktes schützen müssen, der dem Einzelnen seine grundlegenden Rechte nimmt – letzten Endes auch sein Recht auf Leben. Doch sobald man davon ausgeht, dass sich eine liberale demokratische Gemeinschaft schützen muss und dafür Streitkräfte und militärische Kapazitäten benötigt – was wiederum erfordert, dass Einzelne auf ihre individuellen Rechte und Freiheiten verzichten und möglicherweise auch ihr Leben für den Staat geben –, wird die Vorbereitung auf einen Krieg und die Bereitschaft, Krieg zu führen, zur Voraussetzung jeder liberalen Gesellschaft. So argumentiert etwa der Sozialwissenschaftler Michael Billig, dass alle Gesellschaften, "die eine Armee unterhalten, (…) auch den Glauben [hegen], dass einige Dinge wertvoller sind als das Leben an sich".
Dieses Spannungsverhältnis ist nicht neu. Es wird von liberalen demokratischen Staaten im Fall einer militärischen Gewaltanwendung stets neu verhandelt. Nehmen wir Großbritannien als Beispiel, ein Land, das bei den Militärausgaben und auch bei den Rüstungsexporten 2019 weltweit auf dem sechsten Platz rangierte. Obwohl sich Großbritannien eindeutig dazu bekennt, für den Fall eines Krieges vorbereitet zu sein, und andere Länder mit der nötigen Ausrüstung dafür beliefert, wird es vielfach als Land dargestellt, das im Laufe des 20. Jahrhunderts, vor allem in der Zeit nach der Dekolonisation, liberaler und antimilitaristischer geworden sei.
Liberale Demokratien rechtfertigen ihre Vorbereitungen, militärische Mittel zu nutzen, ihren tatsächlichen Einsatz und ihre mitunter eindeutige Priorisierung für militärische Mittel oft damit, dass sie rechtliche Beschränkungen für die Bedingungen festlegen, unter denen ein Krieg begonnen und geführt werden darf. Die grundlegende Annahme lautet dabei, dass Gewalt minimiert wird und ihr Einsatz verhältnismäßig und begründbar sein soll. Liberale demokratische Staaten argumentieren jedoch auch, dass, wenn man zu sehr vor einem Krieg zurückschrecke, die Vorbereitungen vernachlässige oder sich bei der Art der Kriegführung beschränken lasse, das Risiko steige, dass diese "liberale Vorgehensweise angesichts illiberaler und uneingeschränkter Kräfte die Wahrscheinlichkeit eines nicht liberalen Triumphs erhöhen könnte".
Charakteristika des liberalen Militarismus
Das skizzierte Spannungsfeld hat zwei Hauptrichtungen der Kritik am liberalen Militarismus hervorgebracht. Die erste lautet, dass die Rüstungsindustrie der liberalen Demokratien, die hohen Rüstungsausgaben und die Kriege in Wirklichkeit einer Ausweitung des Kapitalismus und Neoliberalismus dienen würden, bei der ein Krieg neue Möglichkeiten bietet, Kapital anzuhäufen. Die zweite Richtung der Kritik verweist darauf, dass es beim liberalen Militarismus auch nur um Krieg gehe, in diesem Fall um eine Form, mit dem liberale Demokratien die Bevölkerung anderer Staaten befrieden wollen und versuchen würden, Gesellschaftsmodelle einzuführen, die eher ihren liberalen demokratischen Normen und ihren Vorstellungen von Regierungsführung entsprechen, während sie gleichzeitig vielen Individuen das Recht absprechen würden, an diesem Prozess mitzuwirken.
Durch starke militärische Kapazitäten und die Möglichkeit, einen blühenden Handel mit Rüstungsgütern zu betreiben, ist nicht nur die Sicherheit der Menschen an den Orten gefährdet, wo Militärinterventionen stattfinden, auch die Mitglieder liberaler Gesellschaften haben mit den negativen Auswirkungen zu kämpfen. Militärische Interventionen und der Unterhalt militärischer Arsenale sind kostspielig Setzt man in diesem Bereich Prioritäten, fehlt Geld in anderen Bereichen, etwa für Soziales und Gesundheit. Für einen Teil der Bevölkerung liberaler demokratischer Staaten steigt daher nicht die Sicherheit, sondern die Unsicherheit, vor allem für Frauen, die stärker von Einschnitten im sozialen Bereich betroffen sind.
Der liberale Militarismus ist zudem oft stark rassifiziert. Multikulturalismus, Einwanderung und Asyl werden zunehmend als gesellschaftliches Übel oder Problem für liberale demokratische Gesellschaften betrachtet. Wie der Rassismusforscher Paul Gilroy argumentiert, wird Einwanderung von der Bevölkerung liberaler demokratischer Staaten in zunehmendem Maße als "Invasionskrieg" wahrgenommen, vor allem von Bürgern, die eine vermeintlich ruhmreiche Vergangenheit nostalgisch verklären, mit militärischen Siegen, errungen von Personen, die überwiegend oder ausschließlich weiß waren.
Dennoch gelingt es liberalen Demokratien, Krieg und die Vorbereitungen auf einen Krieg als rationales Vorgehen in einer immer chaotischeren Welt darzustellen, in der "die Anderen", vom Faschismus über den Kommunismus bis zu gescheiterten oder von Terroristen geführten "Staaten", kontinuierlich das Leben der Bürger und deren Lebensweise bedrohen. Ohne größere Widerstände ist durch diese Form der Befriedung und Regierungsführung in vielen liberalen demokratischen Gesellschaften eine ambivalente Haltung gegenüber dem Militarismus entstanden, begleitet von einer breiten Akzeptanz des Mottos si vis pacem, para bellum.
Liberaler Militarismus und Critical Military Studies
Diese Wachsamkeit ist ein wichtiger Bestandteil des interdisziplinären Gebiets der Critical Military Studies, die Krieg und Kriegsvorbereitungen nicht als gegeben hinnehmen, sondern infrage stellen. Die Forschung im Bereich der Critical Security Studies hat dazu beigetragen, zu zeigen, wie angebliche globale "Realitäten" eigentlich das Ergebnis politischer Behauptungen und Standpunkte sind.
Ebenso vernachlässigten sie den Aspekt, wie Militarismus übernommen, verkörpert und herbeigesehnt werden kann und wie er in und über die Zivilgesellschaft und das Militär hinaus wirkt. Diese wichtigen Fragen wurden stattdessen von den Critical Military Studies gestellt, schließlich bleibt der Militarismus nach wie vor ein beherrschender Faktor der internationalen Beziehungen. Die Critical Military Studies hinterfragen den Ansatz der Strategic Studies, indem sie zeigen, dass Militarismus das Ergebnis einer gesellschaftlichen und politischen Auseinandersetzung ist.
Im Fall der liberalen Demokratien haben die Critical Military Studies gezeigt, dass die Freiwilligen, die liberale Demokratien für den Militärdienst benötigen, gezielt angeworben werden, wie ihre Familien ebenfalls vom Staat mobilisiert werden, um die Bereitschaft zu unterstützen, sich fürs Militär zu entscheiden und dort zu bleiben, und wie die breitere Gesellschaft überzeugt wird, weiterhin Steuern zu zahlen, mit denen das Militär Soldaten bewaffnen, ausstatten und ausbilden kann. Bei den Streitkräften jedes Staates dominieren Männer sowohl in absoluten Zahlen als auch in den höheren Rängen deutlich. Entsprechend wird in den Analysen der Critical Military Studies häufig die Frage der Politikwissenschaftlerin Cynthia Enloe in den Mittelpunkt gestellt: "Wo sind die Frauen?"
Schluss
Krieg ist kein unvermeidlicher Bestandteil der menschlichen Existenz. Die Androhung von Krieg, die Vorbereitungen und die Verwendung von Krieg müssen als Mittel der Politik untersucht werden. Die anhaltende Faszination für den Militarismus, nicht die diagnostizierte "Vereinnahmung" liberaler Demokratien durch die Rüstungsindustrie, sollte dabei im Mittelpunkt stehen. Auch wenn der liberale Militarismus sich von anderen Formen des Militarismus unterscheidet, indem er etwa den Erhalt und Einsatz militärischer Macht ständig rechtfertigen muss, ist und bleibt er doch, wie der Politikwissenschaftler Bryan Mabee feststellt, "eine Form des Militarismus".