Militär und Politik in Demokratien und Autokratien
Aurel Croissant David Kuehn
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Das Militär ist auch im 21. Jahrhundert Symbol und Grundelement moderner Staatlichkeit. Das Verhältnis zwischen Streitkräften und politischem System zu regeln, ist daher ein Ordnungsproblem fast aller modernen Staaten.
Die Beziehung von Militär und Politik ist seit Langem Gegenstand sozialwissenschaftlicher Forschung. Dennoch variiert der Kenntnisstand stark nach Regimetyp. Für die gefestigten OECD-Demokratien ist er deutlich besser als für Staaten im Übergang von der Autokratie zum demokratischen Verfassungsstaat. Am wenigsten wissen wir über die politische Rolle der Streitkräfte in Autokratien.Dabei ist die Rolle des Militärs in Nicht-Demokratien oft zentral. Ihnen fehlen viele der Feedbackmechanismen, die in Demokratien eine friedliche Konfliktbearbeitung ermöglichen, weshalb sie meist über einen deutlich stärker ausgebauten Repressions- und Militärapparat verfügen. Auf der anderen Seite ist ein machtvolles Militär eine Gefahr für Autokraten: Seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges wurden mehr autoritäre Führer durch das eigene Militär gestürzt als durch Oppositionsbewegungen oder ausländische Interventionen.Die Fähigkeit autoritärer Herrscher, die Loyalität des Militärs an sich zu binden, ist auch von zentraler Bedeutung für den Ausgang von Massenprotesten, wie jüngst in Algerien und im Sudan. Die Position der Streitkräfte in der Autokratie prägt zudem die Herausforderungen einer demokratiekompatiblen Neuordnung der Beziehungen zwischen Militär und Politik nach dem Ende des alten Regimes und nimmt dadurch Einfluss auf die Stabilität und Qualität neuer Demokratien. Vor diesem Hintergrund diskutiert unser Beitrag allgemeine Ordnungsprobleme und Herausforderungen der politisch-militärischen Beziehungen und Kernfragen dieses Verhältnisses in autokratischen und demokratischen Regimekontexten.
Ordnungsprobleme und Herausforderungen
Organisationsformen, politische Funktionen und gesellschaftlicher Stellenwert des Militärs unterliegen einem kontinuierlichen Wandel. Gleichwohl ist das Militär auch im 21. Jahrhundert ein zentrales Symbol und materielles Grundelement moderner Staatlichkeit. Die Institutionalisierung regelungsbedürftiger Aspekte in der Interaktion von Streitkräften und politischem System ist daher ein Ordnungsproblem fast aller modernen Staaten, ungeachtet ihrer Herrschaftsordnung. Für die Ausgestaltung der Beziehungen zwischen den Institutionen und Organisationen des politischen Systems und dem Militär resultiert daraus eine doppelte Herausforderung. Zum einen ist das Militär organisatorisch und materiell in die Lage zu versetzen, seinen politisch definierten Aufgaben nachkommen zu können. Zum anderen müssen Mechanismen der politischen Kontrolle des Militärs geschaffen werden. Ob und wie politischen Systemen beides gelingt, ist das zentrale Thema der politikwissenschaftlichen Beschäftigung mit den politisch-militärischen Beziehungen in Autokratien und Demokratien.
Heutzutage sind die vom Staat aufgestellten Streitkräfte eines Landes die charakteristische Organisationform des Militärs. Hierzu gehören die Teilstreitkräfte und andere, in die Streitkräfte eingegliederte bewaffnete Formationen wie Milizen, Freiwilligenverbände und Gendarmerie. Hiervon zu unterscheiden sind militärische Organisationen, die parallel oder konkurrierend zu den Streitkräften bestehen, beispielsweise Guerillaverbände, Sondereinheiten von Innenministerien und Grenzschutz, oder militärische Formationen privater Sicherheits- und Militärunternehmen.
Die strukturbestimmende Aufgabe der Streitkräfte ist die Landesverteidigung. Oft werden sie auch zum Erreichen weiterer politischer Ziele eingesetzt. In vielen liberalen Demokratien hilft das Militär bei Naturkatastrophen und unterstützt die Polizei oder andere Sicherheitsbehörden bei besonderem Bedarf in der Bekämpfung von organisierter Kriminalität und Terrorismus. Ein wichtiges internationales Aufgabenfeld sind humanitäre und friedenserhaltende Militäreinsätze. Außerhalb der entwickelten OECD-Demokratien erfüllt das Militär häufig auch Aufgaben im Bereich der wirtschaftlichen Entwicklung und der Eindämmung von inneren Unruhen und Aufständen. In Autokratien gehören hochrangige Militärs zur dominanten Herrschaftskoalition und haben mindestens Reservefunktion für den Regimeerhalt. Ferner kann ein stark ausgebauter Militärapparat unter Umständen von der Regierung politische und ökonomische Zugeständnisse einfordern. Selbst in fest verankerten westlichen Demokratien verfügen die Streitkräfte über politische Einflussmöglichkeiten. Aufgrund ihres Budgets, ihres Auftrags und ihrer Position verfügen sie über bürokratische Macht, mit der sie Vorrechte gegenüber konkurrierenden Bürokratien in Anspruch nehmen können. Zivil-militärische Koordination und die Berücksichtigung militärischen Fachwissens sind essenziell für die sicherheitspolitische Entscheidungsfindung und damit letztlich für den Schutzwert der Sicherheitspolitik. Wie andere Bürokraten auch, sind Militärs erfinderisch, wenn es darum geht, Mittel und Wege zu finden, sich gegen unerwünschte Vorgaben der Politik zu wehren. Militärs können sich vor der Auftragserfüllung drücken oder sie verzögern. Sie können bei der Beratung ziviler Entscheidungsträger die politische Agenda nach eigenen Präferenzen (mit)gestalten. Aufgrund ihrer Größe, ihres Einflusses auf die Wirtschaft und ihrer Verzahnung mit der Zivilgesellschaft können militärische Organisationen strukturelle Macht genießen. Ihre Vertreter können Verbindungen zu Parlamentariern aufbauen, um ihre bürokratischen Interessen zu schützen (Lobbying), oder Medien und Verbände einspannen, um Gehör für ihre Anliegen zu finden. Die Berücksichtigung dieser eher routinemäßigen Einflussdimensionen ist wichtig für das Verständnis vom Militär als politischem Akteur in autoritären Kontexten und in Demokratien.
Transformation der politischen Rolle des Militärs in modernen Autokratien
Aktuelle systematisch-vergleichende Studien zu den politisch-militärischen Beziehungen in Autokratien sind eher selten und beschränken sich meist auf einzelne Regionen. Zwar existiert eine umfangreiche Literatur zu den Formen und Konsequenzen von Militärherrschaft und Militärputschen. Jedoch ist die Zahl an Autokratien, in denen eine Gruppe von Offizieren, die das Militär als Institution repräsentieren, den politischen Entscheidungsprozess dominieren ("Militärregime"), seit dem Ende des Ost-West-Konflikts stark rückläufig: 1978 war jede fünfte Diktatur weltweit (21 von 97) direkt von Militärs regiert, 2010 waren es noch zwei: Algerien und Myanmar (Abbildung 1).
Auch die Zahl der von Militärs geführten Versuche, durch Androhung oder Ausübung von militärischer Gewalt einen Regierungswechsel zu erzwingen, ist rückläufig. Sie sank von durchschnittlich elf pro Jahr in den 1960er Jahren auf weniger als zwei im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts (Abbildung 2). Der Rückgang erfasst die Weltregionen in unterschiedlichem Maße: Am schwächsten ist er in (West)-Afrika, am stärksten in Lateinamerika und im arabischen Raum.
Hinter diesen Zahlen stecken komplexe Entwicklungen, die jedoch häufig nicht zur "Depolitisierung" der Streitkräfte im Sinne der strikten Trennung von militärischen und politischen Rollen führen. Stattdessen ist in modernen Autokratien oftmals eine Transformation militärischer Rollen zu beobachten, wenngleich das Militär vordergründig einer gefestigten politischen Kontrolle untersteht. Die Kooptation der Militärs in autoritäre Machtallianzen ziviler Regime dient der Herrschaftskonsolidierung, fördert aber die Expansion militärischer Rollen in weitere Teilbereiche von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft. Historisch ist dieses Phänomen nicht neu. Auch wenn das Ende des Kalten Krieges ein wichtiges Datum markiert, setzte die Entwicklung in der arabischen Welt bereits deutlich früher ein. Allerdings haben die weltweite Demokratisierungswelle Ende des 20. Jahrhunderts und das Entstehen neuer, modernisierter Formen der Autokratie dazu beigetragen, dass Militärs heute wesentlich öfter im Schatten der Macht agieren.
Um die Transformation der politischen Rolle des Militärs in autoritären Regimen zu Beginn des 21. Jahrhunderts konzeptionell und empirisch zu fassen, gibt es verschiedene Vorschläge. Neben den erwähnten Typologien von Militärherrschaft sind es vor allem Ansätze, die die sich wandelnde Rolle des Militärs von der des Herrschaftsträgers oder "Herausforderers" der Diktatur zur Stütze autokratischer Herrschaft hervorheben. So unterscheidet der PRM-Datensatz ("Political Roles of the Military") anhand von sechs Indikatoren vier mögliche politische Einflusstypen des Militärs in 120 Staaten.Die Daten für die Jahre 2016/17 zeigen, dass in neun von 50 Autokratien die Streitkräfte oder einzelne Militärführer direkt oder indirekt (durch Kontrolle des Zugangs zu herrschaftssensiblen Ämtern) die Herrschaft im Staate ausüben. In 22 Autokratien bewegt sich das Militär außerhalb der direkten Regierungsverantwortung, gehört aber zu den tragenden Stützen des autoritären Regimes, die die politische Führung ins Amt bringen und ihren Machterhalt sicherstellen. Gegen sie kann nicht regiert werden, und ohne sie können Diktatoren nicht an der Macht bleiben. Im Gegenzug genießen die Streitkräfte wirtschaftliche Renten, Straflosigkeit bei Menschenrechtsverletzungen oder Korruption sowie politische Mitsprache und Privilegien in sensiblen Politikbereichen (Abbildung 3).
Freilich bestehen Unterschiede zwischen den Regionen. Absolut und relativ am häufigsten ist das Militär in Afrika südlich der Sahara (acht von 12 Autokratien) Träger oder Stütze autoritärer Herrschaft, gefolgt vom Nahen und Mittleren Osten (sieben von 16) und dem pazifischen Asien (sechs von 12). Auch im postsowjetischen Raum gehört das Militär zu den Machtinstrumenten der neuen Autokratien. Da das Verhältnis zwischen autoritären Herrschern und dem Sicherheitssektor größtenteils aus kommunistischer Zeit übernommen wurde, spielt hier das Militär im täglichen politischen Leben jedoch eine geringere Rolle und ist als Herrschaftsstütze weitaus weniger relevant als die Kräfte der Inneren Sicherheit, insbesondere die Innenministerien.
Das Ausmaß der Beteiligung der Streitkräfte an der Herrschaftsausübung hängt von vielen Faktoren ab. Es variiert mit dem Typ der autoritären Ordnung und dem Beitrag des Militärs zur Staats- oder Regimegründung. Auch die militärische Bedrohung durch andere Staaten oder innergesellschaftliche Konflikte können Einfluss auf die politische Rolle des Militärs haben. Wichtig ist auch, ob es Diktatoren gelingt, zivile Eliten, politische Organisationen und gesellschaftliche Gruppen als Gegengewicht zu den Streitkräften in ihr Regime einzubinden, und ob sie ein ausreichendes Maß an Legitimitätsglauben der Bevölkerung besitzen. Hinzu kommen Intensität und Formen der Repression, mit denen autoritäre Regime auf Legitimationslücken oder konkrete Herausforderungen reagieren und ob sie hierfür gezwungen sind, sich auf militärischen Zwang zu stützen.
Von besonderer Bedeutung sind auch die Methoden, mit denen Autokraten versuchen, das Risiko ihrer Entmachtung durch das eigene Militär zu verringern. Zu den robusten, tief in die Organisationssphäre der Streitkräfte eingreifenden Maßnahmen zählen: militärische Verbände aufzustellen, die außerhalb der Streitkräfte stehen und deren Hauptzweck der Schutz des Regimes gegen das eigene Militär ist; ein umfassendes Spitzel- und Kontrollsystem aufzubauen, dessen Dienste das Militär und sich selbst wechselseitig kontrollieren; sowie gezielt Angehörige bestimmter ethnischer, religiöser oder Stammesgruppen zu rekrutieren, denen auch die Regimespitze angehört. Dazu gehört auch, die Konkurrenz zwischen Teilen der Streitkräfte um politische oder wirtschaftliche "Renten" zu fördern, sowie eher beschwichtigende Maßnahmen wie materielle Anreize zu gewähren, etwa einen großen Militärhaushalt, lukrative Beteiligungen am Wirtschaftsunternehmen und sozialpolitische Wohltaten für Militärs und ihre Familien.
Die Handlungsmöglichkeiten autoritärer Regierungen sind nicht unbeschränkt. Sie werden begrenzt durch strukturelle Zwänge und situative Faktoren. Robuste Maßnahmen, wie bewaffnete Gegengewichte zu bilden und das Militär zu überwachen, erfordern starke Hebel der Regierung gegenüber dem Militär. Wo diese fehlen, werden Autokraten eher auf weiche Maßnahmen ausweichen. Zudem sind Kontrolle und Kooptation des Militärs stets mit finanziellen, politischen und institutionellen Kosten verbunden. Die einschlägige Forschung zeigt, dass sie häufig die Fähigkeit der Streitkräfte beeinträchtigen, mit den vorhandenen Mitteln ein hinreichendes Maß an militärischer Schlagkraft zu erzielen.Ferner hat der "Arabische Frühling" gezeigt, dass Instrumente der Coup-Prävention eine nicht intendierte Wirkung entfalten können, wenn die Bedrohung nicht aus der Herrschaftskoalition, sondern von der Bevölkerung ausgeht. Parallele Sicherheitsstrukturen aufzubauen und materielle Anreize selektiv zu gewähren, provoziert einen Wettbewerb innerhalb der Sicherheitsapparate, der deprivierte Gruppen im Militär dazu motiviert, zur Opposition überzulaufen. Die präferenzielle Rekrutierung von Gemeinschaften, die als besonders vertrauenswürdig gelten, scheint eher geeignet, militärische Loyalität auch in Krisenzeiten zu erhalten, erhöht aber das Bürgerkriegsrisiko.
Rückzug und Rückkehr des Militärs in neuen Demokratien
Die Rolle der Streitkräfte in der Autokratie prägt die Herausforderungen für die Neuordnung der zivil-militärischen Beziehungen nach einem demokratischen Systemwechsel und hat hierdurch Einfluss auf die Effektivität und Qualität neuer Demokratien. Demokratische Systemwechsel können analytisch in zwei Phasen unterteilt werden: Die erste Phase der Transition umfasst den Übergang vom alten autokratischen Regime zur neuen demokratischen Regierung. Sobald das geschafft ist, kann die zweite Phase beginnen. Sie führt zum effektiven Funktionieren eines demokratischen Regimes oder, mit anderen Worten, zur Konsolidierung der Demokratie.
Während der Transition besteht die "militärische Herausforderung" für die zivilen Akteure darin, die Bildung einer demokratischen Regierung zu erreichen, ohne militärischen Widerstand zu provozieren. Die Herausforderung in der zweiten Phase liegt darin, funktionierende Institutionen der demokratischen Kontrolle über das Militär zu schaffen. Beides ist dann schwieriger, wenn das Militär eine tragende Säule des autoritären Regimes war oder die politischen Institutionen der ständigen Bedrohung durch das Militär oder Gruppen innerhalb der Streitkräfte ausgesetzt waren, was im Politikwissenschaftsjargon auch "Prätorianismus" genannt wird. Statistische Untersuchungen zeigen eine höhere Anfälligkeit von Demokratien für Regimezusammenbrüche, wenn sie auf militärisch dominierte Regime folgen. Fälle des dauerhaften Rückzugs in die Kasernen waren daher im 20. Jahrhundert lange Zeit die Ausnahme.
Mit der "dritten Welle" der Demokratisierung hat sich das geändert. Trotz mancher Ausnahmen wie Thailand, Mali und die Türkei profitieren neue Demokratien besonders von der geringeren Putschneigung des Militärs im 21. Jahrhundert. Das signalisiert eine neue Stabilität der zivil-militärischen Beziehungen, gerade in Lateinamerika, wo viele Länder lange Zeit in der "Putsch-Falle" gefangen waren.
Um dauerhaft wirksam zu sein, erfordert politische Kontrolle über die Streitkräfte in Demokratien jedoch, klare und verlässliche Regeln zu schaffen, die Entscheidungs- und Kontrollbefugnisse so verteilen, dass sie den Primat der Politik sichern. Darüber hinaus müssen demokratische Institutionen in der Lage sein, das Militär zu disziplinieren, ohne selbst militärischen Zwang einzusetzen. Ein zivil geführtes Verteidigungsministerium und ein parlamentarischer Verteidigungsausschuss sind Schlüsselinstitutionen. Die zivile Kontrolle ist in der Regierung konzentriert oder wird von Exekutive und Legislative gemeinsam ausgeübt, und zwar jeweils im Zusammenwirken mit der Judikative und der Zivilgesellschaft (Parteien, Verbände, Medien). Darüber hinaus ist die Struktur der demokratischen Kontrolle für jeden Staat spezifisch. Sie wird von Faktoren wie Kultur, historischer Tradition und Erfahrung, internem und externem Bedrohungsumfeld, gesellschaftlichen Normen und politischen Institutionen geprägt.
Gemessen am Leitbild der demokratisch ausgestalteten Kontrolle des Militärs geben die postautoritären Demokratien ein uneinheitliches Bild ab. Der von uns entwickelte Composite Civilian Control Score misst für die Jahre 1974 bis 2010 die Verteilung politischer Entscheidungsrechte zwischen zivilen und militärischen Akteuren in 66 Demokratien in fünf Politikarenen: erstens politische Rekrutierung, zweitens "public policies", drittens innere Sicherheit, viertens Verteidigungspolitik und fünftens Militärorganisation. Vielerorts haben sich die zivil-militärischen Beziehungen deutlich positiver entwickelt, als in den ersten Jahren des demokratischen Systemwechsels zu erwarten gewesen war. In der Mehrzahl der Fälle wurde die zivile Aufsicht über das Militär gestärkt und der politische Einfluss des Militärs wurde verringert. Doch gibt es beträchtliche Unterschiede zwischen den Ländern und Regionen (Abbildung 4).
Am weitesten entwickelt ist die demokratische Kontrolle in den südeuropäischen Demokratien Griechenland, Spanien und Portugal sowie in den postkommunistischen Transformationsstaaten, insbesondere in den mittel- und osteuropäischen EU-Mitgliedsländern. Hier waren die Ausgangs- und Rahmenbedingungen relativ vorteilhaft. Zum einen wirkten Nato-Mitgliedschaft und EU-Beitritt positiv auf die zivil-militärischen Reformen. Zum anderen basierte in Mittelosteuropa, wie im gesamten postkommunistischen Raum, schon das alte Modell der politisch-militärischen Beziehungen auf dem Primat der Politik, genauer: der kommunistischen Parteien. Auch im pazifischen Asien und in Afrika südlich der Sahara zeigen sich vielerorts bedeutende Veränderungen in den zivil-militärischen Beziehungen. Allerdings sind die Kontraste innerhalb der Regionen besonders stark, etwa zwischen erfolgreichen Reformstaaten wie Taiwan und Ghana auf der einen und Thailand und Niger auf der anderen Seite.
Besonders widersprüchlich sind die Veränderungen im Hinblick auf die erfolgte Institutionalisierung demokratischer politisch-militärischer Beziehungen in Lateinamerika. Auch hier hat der demokratische Systemwechsel allerorten eine Reform der zivil-militärischen Beziehungen angestoßen. In Ländern wie Argentinien, Uruguay und Chile ist sie trotz teils widriger Ausgangsbedingungen weit fortgeschritten. In Staaten wie Bolivien, Peru, Guatemala oder Honduras waren Reformen deutlich weniger weitreichend, und teils strebt das Militärs heute wieder verstärkt nach politischem Einfluss – eine Entwicklung, die von rechten und rechtsautoritären Parteien und Politikern mitunter gefördert wird.
Was erklärt diese Entwicklungen? Aus einer theoretisch informierten und empirisch-vergleichenden Betrachtung lassen sich fünf erklärungskräftige Faktoren und Faktorenkombinationen benennen. Dies sind: erstens der Typ des autoritären Regimes und der Einfluss ziviler oder militärischer Eliten auf Agenda und Verlauf der Transition; zweitens die Geschlossenheit und Einigkeit der zivilen beziehungsweise militärischen Eliten; drittens die Unterstützung für die Demokratie in der Bevölkerung; viertens internationale Einflussfaktoren; fünftens die Veränderung der nationalen und internationalen Bedrohungslagen.
Ein Vergleich der unterschiedlichen Regionen zeigt, dass die Institutionalisierung demokratischer Kontrolle über das Militär besonders dort schwerfällt, wo der Übergang aus einem militarisierten autoritären Regime erfolgt und wo Militärs die Transition planen, lenken oder im Ringen mit zivilen Eliten gestalten. Bedeutsam sind auch internationale und innergesellschaftliche Konfliktlagen und Bedrohungsszenarien, die Integrationsleistung der politischen Institutionen und Organisationen, die Unterstützung der Bürger für die Demokratie und ob gesellschaftliche Eliten in Konflikten mit anderen Teileliten das Militär umwerben und hierdurch als vermittelnden Machtfaktor aufwerten. Letzteres ist besonders hinderlich für die Institutionalisierung demokratischer politischer Kontrolle, "denn eine Armee, die umworben wird, ist eine Armee, die schwer zu reformieren ist". Schließlich haben die demokratiefreundliche Großwetterlage nach 1990, die Ächtung von Militärinterventionen durch Regionalorganisationen in Afrika und Lateinamerika und die Konditionierungspolitik von Nato und EU positiv gewirkt.
Insgesamt deutet vieles darauf hin, dass die alte Frage, wie über demokratisch etablierte Institutionen die Streitkräfte "vor dem eigenen organisatorischen Impuls zur Übernahme der Regierungsgeschäfte bewahrt werden können", an Brisanz verloren hat. Anders sieht es aus mit der Ausweitung des Geltungsbereichs der demokratischen Politik in Bereiche, die historisch vom Militär als seine Domäne verstanden wurden, etwa die Entwicklung der eigenen Organisation und der Verteidigungspolitik sowie die mitunter sehr substanziellen wirtschaftlichen Aktivitäten des Militärs. Sie stockt vielerorts, nicht zuletzt, weil demokratische Politiker häufig nicht über die für eine effektive und bewusste Überwachung militärischer Auftragserfüllung nötige Handlungskompetenz und Handlungskapazität verfügen. In vielen Ländern ist das Verhältnis von Militärs und politischen Entscheidungsträgern auch Jahrzehnte nach dem Systemwechsel durch drastische Informationsasymmetrien zugunsten der Militärs geprägt. Ursächlich hierfür ist neben der historisch bedingten Schwäche der zivilen Strukturen im Bereich der Militär- und Sicherheitspolitik mitunter auch das enorme Desinteresse der Politik.
Hinzu kommt, dass neue Demokratien ihre Streitkräfte vermehrt für nicht verteidigungsbezogene Missionen einsetzen, von der Terrorismusbekämpfung bis hin zu Infrastrukturmaßnahmen und sogenannten civic actions Programmen. In Mittel- und Südamerika übernehmen Militärs auf Drängen der Regierungen und mit breiter Zustimmung der Bevölkerung verstärkt polizeiähnliche Aufgaben der Kriminalitätsbekämpfung und der inneren Sicherheit. Immer häufiger wird das Militär auch gegen unbewaffnete Demonstranten eingesetzt. Beides hat teils drastische Folgen für die Menschen- und Bürgerrechtslage, da trotz neuer, ziviler Aufgabenfelder die militärischen Einsatz- und Verhaltensregeln sowie Verfahren beibehalten werden. Zudem geht die Übernahme neuer Aufgaben durch das Militär oft mit einem Mangel an demokratischer Verantwortlichkeit, öffentlicher Transparenz und gesellschaftlicher Partizipation einher.
Krise der Demokratie und Rolle des Militärs
Nicht nur in Südamerika bauen Regierungen immer häufiger wieder auf die Hilfe des Militärs. Das ist eine gefährliche Strategie. Auch wenn ein Zurück in die Vergangenheit des Prätorianismus für die Mehrzahl der jungen Demokratien unwahrscheinlich scheint, steht zu befürchten, dass die Beteiligung des Militärs an der Macht die Qualität und Stabilität der demokratischen Institutionen untergräbt. Zudem geht es bei der demokratischen Neuordnung der politisch-militärischen Beziehungen in Transformationssystemen auch darum, sicherzustellen, dass Regierungen ihre Kontrolle über die Streitkräfte nicht für eigene Zwecke instrumentalisieren, etwa um die Opposition einzuschüchtern, die Bevölkerung zu kontrollieren oder um machterhaltende Patronagenetzwerke zu pflegen.
Letzteres spricht einen neuen Untersuchungsgegenstand der vergleichenden Analyse politisch-militärischer Beziehungen in Autokratien und Demokratien an, der die beiden Forschungsrichtungen wieder enger zusammenführt: die Analyse der Rolle von Militärs in Demokratiekrisen und in Prozessen des Niedergangs der Demokratie. Die zu Beginn des 21. Jahrhunderts vorherrschende Gefahr für die Demokratie besteht weniger in der drohenden Machtübernahme durch das Militär, sondern dass die Militärs demokratisch gewählten Regierungen dabei helfen, bürgerliche Freiheiten einzuschränken und politische Rechte auszuhöhlen.
Über das Ausmaß der Krise der Demokratie und ihre Bedeutung weltweit streiten die Experten. Nicht bestreiten lässt sich aber, dass die gängigen Demokratie-Barometer übereinstimmend eine Zunahme von Erosionstendenzen in einer wachsenden Zahl etablierter und neuer Demokratien verzeichnen. Da diese Prozesse meist nicht abrupt, sondern graduell und in einer Reihe von aufeinander aufbauenden Schritten ablaufen, die Demokratie eher untergraben als zu ihrem Zusammenbruch zu führen und der Angriff auf die Demokratie häufig von gewählten zivilen Akteuren geführt wird, wurde die Rolle des Militärs bislang weder theoretisch reflektiert noch empirisch systematisch analysiert.
Im vorigen Abschnitt wurden bereits einige Entwicklungen in Lateinamerikas skizziert. Ergänzend wären etwa die Amtsenthebungen von meist linken Präsidenten etwa in Brasilien (Dilma Rousseff), Paraguay (Fernando Lugo), Honduras (Manuel Zelaya) und Bolivien (Evo Morales) zu nennen, an denen die nationalen Militärs nicht unbeteiligt waren. Auch in anderen Regionen lassen sich mühelos Beispiele finden, in denen Militärs in der ein oder anderen Form in Prozesse des backsliding involviert sind. Doch die Annahme, das Militär würde per se als treibende Kraft im Bündnis mit zivilen Eliten oder als Erfüllungsgehilfe ziviler Politiker an der Zerstörung der Demokratie mitwirken oder bestenfalls tatenlos zusehen, wie gewählte Führer demokratische Institutionen und Prozesse aushöhlen, greift zu kurz. Es lassen sich auch Episoden benennen, in denen der Widerstand des Militärs dazu beigetragen hat, die Krise der Demokratie zu überwinden. Aufgabe der Politikwissenschaft ist es, von diesen Einzelbeobachtungen ausgehend tiefenscharfe empirische Analysen, valide Klassifikationen und erklärungskräftige Theorien zu entwickeln.
ist Professor für Vergleichende Politikwissenschaft am Institut für Politische Wissenschaft der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg und Dekan der Fakultät für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften. E-Mail Link: aurel.croissant@ipw.uni-heidelberg.de