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Von Leistungsgrenzen und Trendwenden | Militär | bpb.de

Militär Editorial Militärgeschichte. Perspektiven auf Militär und Gesellschaft im 19. und 20. Jahrhundert "Vorsorgende Wohlfahrtsarbeit am Volkskörper". Militär und militärische Interessen als Impulsgeber staatlicher Sozialpolitik Soldat sein. Sozialwissenschaftliche Debatten über den Wandel des Soldatenberufs Nicht ganz dicht am rechten Rand? Rechtsextremismus und Rechtspopulismus als Probleme der Bundeswehr Von Leistungsgrenzen und Trendwenden. Was soll und kann die Bundeswehr? Militär und Politik in Demokratien und Autokratien "Wenn du Frieden willst, bereite Krieg vor". Über liberalen Militarismus

Von Leistungsgrenzen und Trendwenden Was soll und kann die Bundeswehr?

Johannes Varwick

/ 17 Minuten zu lesen

Die deutschen Streitkräfte leben seit Jahren von der Substanz, leiden also an einer Unterfinanzierung bei gleichzeitig erhöhtem Gestaltungsanspruch seitens der Politik. Wie lassen sich Auftrag und Mittel wieder in Balance bringen?

Aufgaben und Struktur der Bundeswehr haben sich in den vergangenen Jahren in mehreren Schritten umfassend verändert. Allerdings hatte noch jede Reform der vergangenen 20 Jahre – wie auch die vorherigen – eine nur geringe Halbwertszeit. Die Bundeswehr ist eine vom Parlament legitimierte, kontrollierte und bei ihren Einsätzen mandatierte Streitkraft. Dass sie heute "ein paar heftige Probleme mit hohlen Strukturen bei Material und Personal hat, gehört in der deutschen Debatte inzwischen zum Allgemeinwissen".

Ausgangslage

Bereits das immer noch aktuelle Rahmendokument der Bundesregierung zu der Frage "Was soll und kann die Bundeswehr?", das Weißbuch zur Sicherheitspolitik und zur Zukunft der Bundeswehr von 2016, deutete an, dass die deutschen Streitkräfte seit Jahren von der Substanz leben, also an einer Unterfinanzierung bei gleichzeitig erhöhtem Gestaltungsanspruch seitens der Politik leiden. Die Bundeswehr entwickelt gemäß der aus dem Weißbuch abgeleiteten Konzeption aus dem Jahr 2018 ihre Fähigkeiten mit Blick auf spezifische Eigenschaften der Räume und Dimensionen, in denen militärische Operationen stattfinden können: "Heer, Luftwaffe, Marine, Spezialkräfte, Cyber und Informationsraum, Streitkräftebasis und Sanitätsdienst stellen in der Bundeswehr militärische Kräfte in den Dimensionen einsatzbereit zur Verfügung". Soweit der Anspruch. Es gehe, so Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer, um die Handlungsfähigkeit Deutschlands in der Sicherheitspolitik. Diese setze immer zwei Komponenten voraus: "Dass man es will und dass man es kann. Und für beides müssen wir unseren Beitrag leisten."

In den Analysen und Absichtserklärungen der zuständigen Ministerien, insbesondere des für die Bundeswehr zuständigen Bundesministeriums der Verteidigung und seiner vielen Ämter und Dienststellen, werden die dabei zwangsläufig auftretenden Versäumnisse, Schwachstellen und Fehler häufig korrekt erkannt. Die Defizite liegen vielmehr meist darin, die als richtig erkannten Maßnahmen umzusetzen. Die deutsche Sicherheitspolitik habe sich, so auch der Generalinspekteur der Bundeswehr, "mehr als 20 Jahre sehr intensiv mit dem Streichen und Kürzen beschäftigt, aber wenig damit, was die Bundeswehr braucht, um dauerhaft einsatzfähig zu sein. (…) Jetzt geht es darum, die verlorenen Kapazitäten auf einem modernen Niveau wieder aufzubauen." Insofern ist die Mängelliste der Bundeswehr lang; dies wird auch von Militärexperten außerhalb der Bundeswehr nicht ernsthaft in Zweifel gezogen – ebenso wenig wie etwa vom Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages in seinen Berichten der vergangenen Jahre.

Was also soll und was kann die Bundeswehr im Jahr 2020? In welchem Zustand sind die deutschen Streitkräfte, die ihre Ziele nicht aus sich selbst heraus formulieren, sondern die in Deutschland ohne Zweifel ein Instrument der Politik sind?

An die Leistungsgrenze – und darüber hinaus?

Noch in den 1980er Jahren galt die Bundeswehr als die mit Abstand stärkste konventionelle Streitmacht des Westens in Europa. Sie bildete das unverzichtbare Rückgrat der Verteidigung im Rahmen der Nato. Sie hat mit ihrer Stärke und Professionalität wesentlich dazu beigetragen, dass Abschreckung funktionierte und damit Europa von einem Dritten Weltkrieg verschont blieb. Was ist also zwischenzeitlich geschehen, dass sich das Bild innerhalb weniger Dekaden derart verändert hat? Der zeitgeschichtliche Hintergrund zeigt eine sich öffnende Schere zwischen Auftrag und Mitteln, ein Zustand, der in mehreren Schritten immer problematischer wurde. Auf den ersten Blick klingt es paradox, da nach dem Ende des Ost-West-Konflikts zugleich auch das "Ende der Geschichte" (Francis Fukuyama) erreicht schien, zumindest in (West-)Europa. Krieg schien undenkbar geworden, und damit auch militärische Vorsorge unnötig. Deutschland war "von Freunden umzingelt" und zugleich im Wesentlichen damit befasst, seine neu gewonnene Einheit zu realisieren. Eine Friedensdividende wurde von weiten Teilen der Gesellschaft eingefordert und auch Schritt für Schritt umgesetzt. Viele Verbände der Bundeswehr wurden aufgelöst und Personal massiv reduziert, einsatzwichtiges Material verschrottet oder verkauft und die Bevorratung an Ersatzteilen und Munition aus Kostengründen drastisch heruntergefahren. Die Wehrpflichtdauer wurde auf ein Niveau reduziert, das militärisch kaum noch sinnvoll war, und zugleich glaubte man, auf Reservisten mehr und mehr verzichten zu können. 2011 wurde die Wehrpflicht dann schließlich ausgesetzt.

Parallel dazu geriet Deutschland immer stärker unter internen und externen Druck, als leistungsstarke Wirtschaftsmacht einen militärischen Beitrag bei der internationalen Krisenbewältigung zu leisten, also auch auf diesem Feld eine Mitverantwortung zu übernehmen und damit einen Teil der jahrzehntelang erlebten Solidarität zurückzugeben. Damit geriet die Bundeswehr aber in eine Lage, die sie an den Rand ihrer Möglichkeiten und zum Teil auch darüber hinaus führte. Sie war bis dahin immer auf Landesverteidigung im engeren Sinne ausgerichtet – mit kurzen Wegen, auf eigenem Territorium und damit unter direktem Zugriff auf alle dort vorhandenen infrastrukturellen und personellen Ressourcen. Ihr strategischer Horizont, der eigentlich eher als taktischer oder bestenfalls operativer bezeichnet werden musste, endete bis dahin an der innerdeutschen Grenze. Die neue Auftragslage – zunächst in Somalia, dann auf dem Balkan und schließlich in Afghanistan, um nur einige der Schwerpunkte zu nennen – verlangte nun aber völlig anderes, wie beispielsweise eine strategische Verlegefähigkeit, ein robustes Führungs- und Informationssystem über weite Entfernungen, umfangreiche Feldlagerkapazitäten, mobile medizinische Versorgung mit modernster Ausstattung und vieles mehr. Neue Ausbildungserfordernisse und personelle Fähigkeitsprofile kamen hinzu. Eine Anschubfinanzierung für diese neuen Aufgaben – wie sie etwa die Weizsäcker-Kommission im Jahr 2000 gefordert hatte – erhielt die Bundeswehr nicht. Die nötige Umsteuerung war nur leistbar, indem die Ressourcen der Truppe konsequent auf die jeweiligen Einsatzmissionen konzentriert wurden – zulasten der meisten anderen Aufgaben und letztlich auch der Kohäsion und Substanz. Landes- und Bündnisverteidigung galt jedenfalls auch offiziell als nicht mehr strukturbestimmend. Im Klartext hieß das: Sie wurde vernachlässigt.

Ab 2014 änderte sich mit der Krimkrise das Bild wieder. Mit dem Paradigmenwechsel in der strategischen Einschätzung mit Blick auf Russland geriet erneut die klassische Verteidigungsfähigkeit in Europa in den Fokus. Das Aufgabenspektrum der Bundeswehr hat sich damit aber nicht etwa wieder auf den ursprünglichen Zustand reduziert, sondern ist de facto erneut erweitert worden. Das allerdings geht nun wohl endgültig über die Leistungsgrenzen der Truppe hinaus. Das Ergebnis spiegelt sich in ihrem jetzigen Zustand wider – und es spricht wenig dafür, dass es sich mit ein paar Milliarden Euro mehr entscheidend ändert, trotz aller Hinweise auf eine "finanzielle Trendwende" im Verteidigungshaushalt. Dazu sind die Defizite inzwischen viel zu grundlegend. Als Lösungsansatz bleibt daher kaum anderes übrig, als die der Truppe gestellten Aufgaben selbstkritisch zu analysieren, dabei eine konsequente Prioritätenfolge zu entscheiden und zugleich zwangsläufige Lücken in Kauf zu nehmen. Es geht also im Kern darum, die über viele Jahre aus den Fugen geratene Balance zwischen Auftrag und verfügbaren Mitteln wieder zu festigen.

Einsätze der Bundeswehr

Die Bundeswehr ist seit Langem eine Armee im Einsatz. Die klassische Funktion von Streitkräften zur Abschreckung und zur Verteidigung gegen Angriffe von außen ist gleichwohl so unverzichtbar wie unbestritten, auch wenn diese allgemeine Einsicht in den Streitkräfteplanungen und in weiten Teilen der deutschen Öffentlichkeit vorübergehend in Vergessenheit zu geraten schien und erst neuerdings wieder stärker ins Bewusstsein rückt. Was jenseits von Landes- und Bündnisverteidigung das militärische Krisenmanagement betrifft, lehrt die Erfahrung durchaus nüchterne Bescheidenheit mit Blick auf die Wirksamkeit und die Erfolgsaussichten von Militäreinsätzen. Seit 1991 waren in über 50 Auslandseinsätzen der Bundeswehr weit über 400000 Soldatinnen und Soldaten eingesetzt, und die Ergebnisse fallen sehr gemischt aus. Allerdings sollten aus dieser Bilanz keine falschen Schlüsse gezogen werden, denn erst das Bereithalten hinreichender militärischer Mittel befähigt überhaupt, in Krisen handlungsfähig zu sein beziehungsweise diese Mittel, eben weil man sie hat, nicht einsetzen zu müssen.

Im Rahmen der "erweiterten Vornepräsenz" der Nato verantwortet Deutschland seit Januar 2017 als Rahmennation die multinationale Battlegroup für Litauen. Mit derzeit 552 Soldatinnen und Soldaten ist dies nach Afghanistan und Mali die drittgrößte Mission der Bundeswehr im Ausland. Im Rahmen der Nato Response Force stellte Deutschland 2019 als Rahmennation die sogenannte Nato-Speerspitze (VJTF), die innerhalb von fünf Tagen für jedes denkbare Szenario abmarschbereit sein muss. 2023 werden abermals rund 15.000 deutsche Soldatinnen und Soldaten ihren Dienst als Teil der Speerspitze antreten – vermutlich ebenso unterhalb des Radars von weiten Teilen der Öffentlichkeit wie 2019. Über die Einbindung in die kollektive Verteidigung im Nato-Rahmen hinaus sind mit Stand März 2020 3.243 Bundeswehrsoldaten in zehn mandatierten Auslandseinsätzen tätig, darunter in Afghanistan (Resolute Support), Mali und Niger (MINUSMA und EUTM Mali) und im Irak (Counter Daesh). Auch hier ist bestenfalls weiterhin ein "freundliches Desinteresse" in weiten Teilen der Bevölkerung zu konstatieren – und dies obwohl jeder einzelne Einsatz vom Bundestag mandatiert werden muss.

Multinationalität als zentrale Rahmenbedingung

Ein weiterer Aspekt der Entwicklung der Bundeswehr ist die weitgehende multinationale Einbindung. Auch die Zukunft deutscher und europäischer Sicherheitsvorsorge liegt im multilateralen Verbund, vor allem im Rahmen von UN, Nato und EU, aber wohl zunehmend auch in wechselnden "Koalitionen der Willigen" oder auch bilateralen Formaten. Keine der großen Herausforderungen lässt sich allein mit rein nationalen Mitteln auf Dauer bewältigen. Fragen nationaler Interessen und Strategien sind damit aber keinesfalls obsolet. Vielmehr bilden sie die Voraussetzung für jedes sinnvolle Mitwirken. Der Bundeswehr fällt dieser Aspekt auch insofern eher leicht, als sie seit ihrer Gründung 1955 ausschließlich durch Einbindung in Bündnisstrukturen wirksam werden konnte.

Es wird künftig noch stärker als bisher darum gehen, "Inseln funktionierender Kooperation" zu schaffen, das heißt, aus rein nationalen Fähigkeiten sollten sukzessive gemeinsame multinationale Fähigkeiten werden, die dann auch Nato und EU zugutekommen können. Mit Entwicklung des Rahmennationenkonzeptes ab 2013, zunächst im Kontext der Nato, später auch harmonisiert mit der Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit der EU im Verteidigungsbereich (SSZ, oder geläufiger PESCO: Permanent Structured Cooperation) sollen identifizierte Fähigkeitslücken möglichst gemeinsam geschlossen und durch erprobte Kooperationsbeziehungen militärische Effizienz erhöht werden, auch im Einsatz. Davon sind keine Wunder zu erwarten, und nach Lage der Dinge ist es auch unwahrscheinlich, dass daraus eine wirklich vergemeinschaftete "Europaarmee" werden wird. Zudem setzt der deutsche Parlamentsvorbehalt dem Einsatz von Streitkräften bei multinationaler Integration gewisse Grenzen. Der Weg hin zu einer aus nationalen Komponenten zusammengesetzten "Armee der Europäer", die dann auch die Nato stärken könnte, ist aber eine Zielperspektive, die die Bundeswehr weiter verändern wird. Das gilt für die militärpolitische Ebene genauso wie für die rüstungspolitische, wenngleich hier besonders deutlich die Schwierigkeiten einer effizienten Zusammenarbeit sichtbar sind. Gleichwohl werden Pläne wie etwa das für 2040 geplante französisch-deutsch-spanische Future Combat Air System (FCAS) die Einsatzrealität der kommenden Jahrzehnte prägen, allerdings wiederum außerhalb des EU-Kontextes.

Drei Trendwenden: Personal, Material, Finanzen

Was geschieht, wenn die Balance zwischen Auftrag und verfügbaren Mitteln über Jahre verlorenzugehen droht, zeigt der gegenwärtige Zustand der Bundeswehr. Viele der bestehenden Großsysteme (Eurofighter, der Kampfhubschrauber Tiger, Leopard 2, Panzerhaubitze 2000) haben ihren Ursprung in der Regierungszeit von Helmut Kohl, die Einführung von neuen Systemen kommt nur schleppend voran. Das gilt auch für neue Fragen wie Cyber, elektronische Kampfführung oder Künstliche Intelligenz, obgleich im April 2017 das Kommando Cyber- und Informationsraum in Dienst gestellt wurde und sich um diese neuen Fragen kümmert.

Die Bundeswehr ist trotz neuer Aufgaben in Teilen nicht durchhaltefähig einsatzbereit, es mangelt an der persönlichen Ausstattung der Soldaten, die Munitionsbevorratung unterschreitet die Nato-Vorgaben zum Teil drastisch, der Truppe fehlt es an Schiffen, Panzern und Helikoptern, Luftverteidigung und Kampfflugzeugen. Um diese Lage zu verbessern, hatte das Verteidigungsministerium unter der Leitung von Ursula von der Leyen 2016 sogenannte Trendwenden in den Bereichen Finanzen, Personal, Material und Infrastruktur ausgerufen und 2018 schließlich mit einer neu vorgelegten Konzeption der Bundeswehr und einem neuen Fähigkeitenprofil die Strategie der Bundeswehr der kommenden Jahre festgelegt. Die im Weißbuch 2016 beschriebenen Aufgaben der Bundeswehr – also im Wesentlichen Landes- und Bündnisverteidigung sowie erweitertes Krisenmanagement außerhalb des Bündnisgebiets – sollen künftig Gleichrangigkeit haben, könnten allerdings erklärtermaßen nicht alle gleichzeitig vollumfänglich wahrgenommen werden. Die Refokussierung auf die Landes- und Bündnisverteidigung stelle dabei die anspruchsvollste Aufgabe mit dem höchsten Nachholbedarf für die Bundeswehr dar. Cyber, hybride Kriegführung, angemessene Einsatzbereitschaft und schnelle Schwerpunktverlagerung mobiler Kräfte sowie Unterstützungsleistungen für Alliierte seien die aktuellen Themen und gleichzeitig Herausforderungen der Landes- und Bündnisverteidigung. In der sogenannten Grundaufstellung der Bundeswehr werde ein leistungsfähiger und robuster Kräfteansatz benötigt, der personell und materiell auftragsorientiert ausgestattet sein müsse. Fähigkeiten für andere Aufgaben, die in der Grundaufstellung originär nicht vorhanden sind (beispielsweise im Rahmen des internationalen Konfliktmanagements), sollen durch ergänzende spezifische "Missionspakete" bereitgestellt werden. Grundaufstellung und Missionspakete gemeinsam sollen dann das Erfüllen aller Aufgaben der Bundeswehr ermöglichen. Vorhandene Fähigkeiten müssten zu diesem Zweck nicht nur weiter verbessert und ausgebaut werden, sondern im Bereich der Landes- und Bündnisverteidigung auch teilweise wiederaufgebaut werden.

Trendwende Personal

Für die definierten Aufgaben wird zweifellos mehr Personal benötigt. Legte der Zwei-plus-Vier-Vertrag 1990 eine Obergrenze von 370000 Soldatinnen und Soldaten fest, betrug der Tiefstand der Bundeswehr im Jahr 2016 rund 166000 Berufs- und Zeitsoldaten, Anfang 2020 liegt die Zahl bei 184.000, davon rund 23.000 Frauen. Die Zielgröße soll 2025 186.000 plus bis zu 12.500 freiwillige Wehrdienstleistende und 4.500 Reservedienstleistende betragen. Auch angesichts des Aussetzens der Wehrpflicht 2011 hat die Bundeswehr indes erhebliche Schwierigkeiten bei der Gewinnung von geeignetem (Fach-)Personal. War die Bewerberlage in den vergangenen Jahren stark rückläufig, hat sie sich 2019 stabilisiert, allerdings auch aufgrund von Dienstzeitverlängerungen und nicht nur aufgrund von neu eingestelltem und hochqualifiziertem Personal. Dazu gehört auch ein neues Reservistenkonzept, das unter anderem vorsieht, dass alle, die bei der Bundeswehr Soldat oder Soldatin waren, künftig noch weitere sechs Jahre als Reservisten zu Übungen eingezogen werden, um im Krisenfall eingesetzt werden zu können. Die Zahl der unbesetzten Unteroffiziers- und Offiziersdienstposten lag 2019 bei mehr als 20000. Mit verschiedenen Attraktivitätssteigerungsgesetzen sowie einem forcierten Wandel bei der Rolle der Bundeswehr in Gesellschaft und Politik (wie kostenloses Bahnfahren in Uniform oder öffentliche Gelöbnisse) soll der Soldatenberuf mehr Wertschätzung erfahren und damit auch attraktiver werden.

Trendwende Material

Der Anteil an zur Verfügung stehenden Mitteln für Investitionen in neues oder die Modernisierung bestehenden Materials ist in den vergangenen Jahren gestiegen, erreicht aber noch nicht die zugesagte Rüstungsinvestitionsquote von 20 Prozent des Verteidigungshaushalts. Die Beschaffungsdauer und -prozesse, die bürokratischen Hindernisse auf Seiten der Bundeswehr wie auch die Entwicklungs- und Produktionsmöglichkeiten der Rüstungsindustrie sind zudem stark verbesserungsbedürftig. Der Wehrbeauftragte spricht von "offensichtlich dysfunktional gewordenen Strukturen auf der Amtsseite", zahlreiche Beobachter betonen, dass es der Bundeswehr noch immer nicht zufriedenstellend gelingt, das zur Verfügung stehende Geld effizient einzusetzen und Verschwendung zu vermeiden. Im Bericht des Wehrbeauftragten werden zahlreiche Mängel genannt, unter anderem seien von 284 neu eingekauften Schützenpanzern Puma nur ein Viertel, von 53 Kampfhubschraubern Tiger oder dem Transporthubschrauber NH90 nur ein Bruchteil, bei den 93 Tornados weniger als ein Viertel, von 15 größeren Kampfschiffen neun einsatzbereit.

Gemäß des Fähigkeitenprofils der Bundeswehr soll erst 2031 die sogenannte Vollausstattung erreicht sein, als Zwischenschritt soll 2023 eine Brigade des Heeres (von bisher siebeneinhalb) voll ausgerüstet sein, 2027 eine ganze Division (drei Brigaden), 2031 dann drei Divisionen. Ob das mit den derzeitigen Mitteln erreichbar ist, wird bezweifelt. Hinsichtlich der Einsatzbereitschaft der 66 Hauptwaffensysteme der Bundeswehr wird selbst in den offiziellen Zahlen seitens des Bundesministeriums der Verteidigung (die internen Dokumente sind nicht zugänglich) ein gemischtes Bild gezeichnet. Zwar habe es erhebliche Verbesserungen gegeben, von einer zufriedenstellenden Lage könne bei im Schnitt 70 Prozent Einsatzbereitschaft aber keine Rede sein. Alle Reformen der Vergangenheit, so Verteidigungsministerin Kramp-Karrenbauer, auch die massive Einbindung externen Sachverstandes, hätten offenkundig "nicht zu den Ergebnissen geführt, die wir uns wünschen". Auch der damalige Inspekteur des Heeres argumentiert, dass es gut sei, dass die notwendigen Finanzmittel zur Verfügung gestellt würden. Großprojekte könnten aber nur angegangen werden, wenn eine verlässliche mittelfristige Finanzplanung vorhanden sei. "Auf Sicht fahren, das funktioniert schlecht. Als Bundeswehr ist es uns nicht gelungen, in den vergangenen fünf Jahren unsere überbordende Bürokratie vollständig einzudämmen. Es ist nicht hilfreich, dass die Beschaffung etwa von Zelten und Rucksäcken und Helmen genauso planerisch durchgeführt wird wie die Beschaffung eines Panzers". Mit einer "Initiative Einsatzbereitschaft" und einer Reihe damit verbundener Maßnahmen soll 2020 Abhilfe geschaffen werden.

Trendwende Finanzen

Die Umsetzung der neuen Konzeption ist nur bei deutlich steigenden Finanzmitteln realisierbar. Lag die Höhe des Verteidigungshaushalts 2014 bei 32,4 Milliarden Euro (2015: 33,0; 2016: 34,3; 2017: 37,0; 2018: 38,5), wuchs der Etat 2019 auf 43,2 Milliarden Euro. Für 2020 hat der Bundestag Verteidigungsausgaben in Höhe von 45,1 Milliarden Euro beschlossen. Die Steigerung der nach Nato-Kriterien anrechenbaren deutschen Verteidigungsausgaben beträgt seit dem Nato-Gipfel von Wales 2014 bis heute rund 40 Prozent. Wichtiger Indikator für die Trendwende Finanzen sind auch die steigenden Mittel für Rüstungsinvestitionen, um den anerkannten Investitionsstau der vergangenen Jahre aufzulösen und militärische Fähigkeiten weiterentwickeln zu können. Nicht zu erreichen mit diesen durchaus beachtlichen Steigerungen, sind allerdings die zugesagten Verpflichtungen im Rahmen von Nato und EU (das politisch umstrittene Zwei-Prozent-Ziel). Die Bundesregierung strebt hier bis 2024 eine Quote von 1,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, bis 2031 eine Quote von zwei Prozent an. Der Anteil der Verteidigungsausgaben am Bruttoinlandsprodukt stieg zwar entsprechend an: von 1,18 Prozent im Jahr 2014 über 1,23 Prozent 2018 auf 1,36 Prozent im Jahr 2019. Für 2020 meldet die Bundesregierung der Nato 50,3 Milliarden Euro, das wäre mit prognostizierten 1,42 Prozent des BIP aber immer noch weit entfernt von dem zugesagten Ziel.

Zwischenbilanz

Nimmt man die Erfahrungen der Trendwenden und der zahlreichen Versuche, die Bundeswehr zu reformieren, zusammen, dann kommt man nicht umhin festzustellen, dass doch eine ganze Reihe hausgemachter Probleme die Bundeswehr belasten. Der Wehrbeauftragte formuliert das in beeindruckender Klarheit: "Schon lange sind es nicht einzelne Vorschriften, die den Rahmen des Überschaubaren sprengen, sondern die Überorganisation des gesamten Apparats der Bundeswehr. Kommandeure klagen, dass die zunehmende Bürokratisierung in allen Bereichen die operative Flexibilität immer weiter einschränke. Der strikte Prozessvollzug sei wichtiger geworden als das operative Ziel. Eine ‚Trendwende Mentalität‘ ist in der Bundeswehr deshalb dringend von Nöten."

Deutschlands Rolle in der Welt gerecht werden

Alldem muss sich die deutsche Sicherheitspolitik stellen. Deutschland hat eine ökonomische und politische Schlüsselrolle sowohl in der Nato als auch in der EU und ist ebenfalls eine wichtige Macht in der UN. Von daher sollte es eine Selbstverständlichkeit sein, dass Deutschland – nach einem intensiven politischen Abwägungsprozess – grundsätzlich auch im vollen Spektrum an militärischen Einsätzen teilnehmen und seine Kräfte verfassungskonform, solidarisch und verlässlich zur Anwendung bringen kann. Aus verschiedenen Gründen zeigt Deutschland aber im sicherheitspolitischen und dabei insbesondere im militärischen Bereich internationaler Krisenbewältigung bisweilen immer noch eine bemerkenswerte Zurückhaltung, die von seinen Partnern zum Teil kritisch gesehen wird.

Der Kern der internationalen sicherheitspolitischen Verantwortung Deutschlands sollte sich aus Gründen seiner Lage, Größe, Wirtschaftskraft und auch Geschichte vor allem auf seine stabilisierende Funktion in Europa beziehen. Mit Blick auf die Rolle seiner Streitkräfte ergibt sich daraus eine besondere Verantwortung für das Thema Landes- und Bündnisverteidigung, und hier hat Deutschland ab 2014 auch dezidiert Verantwortung übernommen – selbst wenn diese noch keineswegs durch entsprechende finanzielle Ressourcen dauerhaft materiell und personell unterfüttert ist. Aber dennoch lässt sich darüber hinaus feststellen, dass Deutschland wie kaum ein anderes Land von der liberalen internationalen Ordnung profitiert, zu deren Erhalt es jedoch zumindest militärisch bisweilen nur wenig beiträgt. Anders formuliert: Die "Kultur der Zurückhaltung" und die "Kultur der Verantwortung" sind in den vergangenen Jahren wohl nicht immer richtig austariert worden. Der in einer bestimmten historischen Konstellation nach der Wiedererlangung der vollen Souveränität 1989/90 zu Recht beschworene Gegensatz von "Verantwortungspolitik" und "Machtpolitik" ist jedenfalls heute nicht mehr das Kernproblem für deutsche Sicherheitspolitik. Der Gedanke der Mitverantwortung für eine offene und stabile internationale Ordnung verlangt vielmehr eine Neubewertung in der gesamten Breite – nicht zuletzt auch vor dem Hintergrund der strategischen Neuorientierung der US-Außenpolitik.

Das bedeutet nicht, dass Deutschland sich künftig leichtfertiger militärisch engagieren und in einer Art Automatismus allen Wünschen und Forderungen von Partnern öffnen sollte. Es bedeutet aber sehr wohl, dass Deutschland in den (vermutlich wenigen) Fällen, in denen der Einsatz seiner Streitkräfte zur Problemlösung nachhaltig beitragen kann, dies im multilateralen Verbund verlässlich tun können sollte. Die Mehrzahl der Sicherheitsexperten nimmt an, dass die kommenden 30 Jahre nicht ähnlich stabil und sicher für Deutschland sein werden wie die drei Jahrzehnte seit 1989 – und schon diese waren nicht nur friedlich. Das machtpolitische Verhalten Russlands, das neue nukleare Ungleichgewicht in Europa, der Aufstieg und die militärischen Ambitionen Chinas, die Unsicherheit über die militärische Rolle der USA in Europa, die sicherheitspolitischen Folgen des Klimawandels, die instabilen Regionen in Osteuropa, auf dem Balkan, im Nahen Osten und in Teilen Afrikas, der internationale Terrorismus und natürlich die Technologierevolution, die den Charakter militärischer Bedrohungen massiv verändern wird, sprechen dagegen. Die Verteidigungsministerin formuliert das wie folgt: "Ich bin sicher: Angesichts der internationalen Lage werden wir uns auf mehr und forderndere Einsätze einstellen müssen. Zumindest müssen wir uns darauf einstellen, dass von unseren Partnern mehr gefordert wird, als das heute noch der Fall ist. Mir ist wichtig, dass wir dafür gerüstet sind – eben nicht nur im Sinne von Material und Ausbildung und einer klugen Balance von Kampf- und Unterstützungstruppen. Sondern auch politisch und kommunikativ."

In der beschriebenen Lage ist mit Blick auf die Bundeswehr als Parlamentsarmee insbesondere der Deutsche Bundestag gefordert. Er sollte sich auf Verteidigung und sicherheitspolitische Handlungsfähigkeit als staatliche Kernaufgabe der Daseinsvorsorge besinnen und deshalb seine Budgethoheit dazu nutzen, ein Bundeswehrstärkungsgesetz zu verabschieden, das die deutschen Fähigkeitszusagen aus dem Nato-Planungsprozess und der EU-Fähigkeitsplanung für die Jahre bis 2031 verbindlich mit Geld hinterlegt. Dergleichen mag neu für Deutschland sein, aber ungewöhnlich wäre es nicht. Frankreich hat ein Militärprogrammgesetz, und in Polen ist das Zwei-Prozent-Ziel gesetzlich verankert. In anderen Politikfeldern betreibt Deutschland solche langfristigen Selbstbindungen mit großer Selbstverständlichkeit. So bindet etwa das Strukturstärkungsgesetz für die vom Kohleausstieg betroffenen Bergbauregionen und auch das Gute-Kita-Gesetz sehr langfristig Mittel. Bei einem solchen Stärkungsgesetz für die Bundeswehr ginge es um die Substanz von Sicherheit, die sich letztlich auch in militärischen Fähigkeiten ausdrückt. Deutschland sollte seine Streitkräfte durchgängig modern ausstatten, altes Gerät stetig erneuern und steigende Personal- und Technologiekosten finanzieren, um Gegner abzuschrecken und notfalls in Einsätzen zu bestehen.

Es geht dabei nicht um eine Militarisierung der deutschen Sicherheitspolitik – auch wenn das natürlich in der politischen und wissenschaftlichen Debatte umstritten ist. Deutschland neigt gewiss nicht zu militärischen Abenteuern – und das sollte auch so bleiben. Aber Deutschland muss sich als bekennender Multilateralist an verbindliche internationale Abmachungen halten. Verweigert Deutschland sich selbst und Europa eine starke Bundeswehr, so setzt es die Säulen seiner heutigen und vor allem künftigen Sicherheit aufs Spiel: Die Nato wird geschwächt und die EU gar nicht erst zu einem eigenständigen sicherheitspolitischen Akteur aufgebaut. Und die Bundeswehr erst dann ad hoc angemessen auszustatten, wenn eine Krise da ist, in der Handlungsbedarf erkannt wird, wird angesichts der Vielzahl an hier aufgezeigten Baustellen nicht gelingen.

ist Professor für Internationale Beziehungen und europäische Politik an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Zu seinen Schwerpunkten gehören sicherheitspolitische Grundfragen und internationale Organisationen. Externer Link: http://www.johannes-varwick.de