Einleitung
Gegenwärtig wird in Deutschland der "gute" Patriotismus oft vom "schlechten" Nationalismus getrennt. Davon erhofft man sich, die nicht erst nach dem Zweiten Weltkrieg entstandene Unsicherheit beim Umgang mit der eigenen Nation teilweise zu überwinden und die Zuneigung zum eigenen Land in einer politisch-korrekten Sprache auszudrücken. Der Patriotismus soll zudem helfen, die infolge der Überwindung der großen politischen Ideologien entstandene Sinn- und Orientierungslücke wieder zu kitten und den gesellschaftlichen Zusammenhalt in einer von Individualisierung, Globalisierung und hoher Veränderungsgeschwindigkeit geprägten Welt zu stärken. Die in der Berliner Republik wieder salonfähig gewordene Vaterlandsliebe soll - im Gegensatz zum früheren aggressiven Nationalismus - eine aufgeklärte, friedliche und demokratische Loyalität zur Nation sein.
In der Tat hat der Patriotismus den großen Vorteil, eine Einstellung bzw. Empfindung zu sein, die kompatibel ist mit einer republikanischen bzw. demokratischen politischen Kultur, in der die Ideen der gegenseitigen Solidarität und einer aktiven politischen Teilhabe hochgehalten werden.
Patriotismus und Nationalismus lassen sich voneinander unterscheiden, wenn man wie Ernest Gellner unter Nationalismus "eine Form des politischen Denkens" versteht, "die auf der Annahme beruht, dass soziale Bindung von kultureller Übereinstimmung abhängt".
Der Nationalismus hat in der Vergangenheit zu - von oben gesteuerten oder von unten implodierenden - Ausbrüchen irrationaler Gewalt geführt, die zu Massenzerstörungen und Massenmorden von bisher unbekanntem Ausmaß ausuferten. Der Nationalismus ermöglichte außerdem im Innern zusammen mit dem Rassismus eine systematische "Ausschließungspraktik".
Für besonders viel Stress sorgt die Definition der Nation als homogene kulturelle Einheit. Dabei ist historisch gesehen die Nation weniger das Erzeugnis einer gemeinsamen Kultur bzw. eines gemeinsamen Codes als dessen Voraussetzung gewesen. Die "Erfindung der Nation"
Die Vertreter der Idee der Kulturnation haben die im Laufe der Nationenbildung entstandene gemeinsame Kultur in eine mythische Vergangenheit hineinprojektiert.
Es ist kein Zufall, dass die in Deutschland tief verwurzelte kulturalistische Definition der Nation den Weg für den mörderischen Nationalsozialismus gebahnt hat. Die Gründe für das deutsche Bekenntnis zur subjektiven, sprachlich-geistigen Kulturnation, das später sowohl eine objektive und letztendlich auch eine rassistische Dimension erhielt, sind hinreichend bekannt: Die Deutschen bildeten nach der Auflösung des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation und der späten Durchsetzung der kleindeutschen Lösung lange eine "Sprachgemeinschaft" ohne Staat. Deutschland war infolgedessen eine "verspätete Nation" - oder besser ein verspäteter Nationalstaat.
Freilich warnen deutsche Wissenschaftler wie Otto Kallscheuer und Claus Leggewie vor einer zu groben Vereinfachung dieser Fragestellung. Sie sehen in Herder in erster Linie einen aufgeklärten Kosmopoliten und in Fichte einen republikanischen Jakobiner und listen die vielen deutschen Verfechter eines weltoffenen Patriotismus auf. Am Ende ihrer Studie müssen jedoch auch sie zugeben, dass es eben doch einen deutschen "Sonderweg" in dem Verständnis, was eine Nation sei, gegeben hat.
Patriotismus als Gegengift des Nationalismus?
Der Nationalismus als Liebe zur Kulturnation war mitnichten ein rein deutsches Phänomen. Man findet ihn in unterschiedlichen Variationen in der Geschichte der meisten Nationalstaaten wieder. Allerdings hat sich der Patriotismus oft - jedoch nicht immer und nicht automatisch - in den modernen Republiken als Gegengift gegen das Gefährdungspotenzial des Nationalismus ausgewirkt.
Auch wenn der Patriotismus sich nicht immer leicht vom Nationalismus unterscheiden lässt - Maurizio Viroli spricht zu Recht von einer "Nationalisierung des Patriotismus" im 19. Jahrhundert -,
Virolis These vom Patriotismus als "Gegengift" des Nationalismus ist nicht unwidersprochen geblieben. So sieht Bernard Yack im heutigen Rekurs auf den Patriotismus die Entstehung eines neuen Mythos, der nicht weniger gefährlich sei als derjenige der ethnischen Nation. Auch wenn der Patriotismus möglicherweise in der Vergangenheit das alltägliche Engagement der Einzelnen für das Gemeinwesen gestärkt hat, wies er - wie der Nationalismus auch - in der politischen Alltagspraxis ein starkes Ab- und Ausgrenzungspotenzial auf.
Nach Nicholas Xenos lassen sich solche Ab- und Ausgrenzungen dadurch erklären, dass die Verfechter des Patriotismus sich nicht selten der Metapher der "Familie" bedienten, um auf die Tiefe ihrer Liebe zum "Vaterland" hinzuweisen. So bezeichnete der Republikaner Jean-Jacques Rousseau die Patria als "die gemeinschaftliche Mutter der Bürger".
Der Patriotismus war ohnehin selten frei von jeglichem Nationalismus. Selbst bei den Aufklärern und Republikanern Rousseau und Kant lassen sich Äußerungen finden, die belegen, dass auch sie die Nation als vorpolitische Gemeinschaft gedacht haben. So plädierte Rousseau - wie später auch Herder - für den Erhalt der kulturellen Vielfalt der Nationen. "Es gibt", bedauert er, "heutzutage, was immer man auch sagen mag, keine Franzosen, keine Deutschen, keine Spanier, selbst keine Engländer mehr, es gibt nur noch Europäer."
Immanuel Kant definiert seinerseits in seiner "Anthropologie in pragmatischer Hinsicht" das nationale Volk durch den Bezug auf eine angebliche Abstammung. Dabei handelt es sich seiner Ansicht nach um "die in einem Landstrich vereinigte Menge, in so fern sie ein Ganzes ausmacht. Diejenige Menge oder auch der Theil derselben, welcher sich durch gemeinschaftliche Abstammung für vereinigt zu einem bürgerlichen Ganzen erkennt."
Prioritätensetzung zwischen Patriotismus und Nationalismus
Die entscheidende Frage lautet letztendlich nicht, ob es einen Patriotismus in Reinform geben soll, sondern ob ihm Vorrang vor dem Nationalismus eingeräumt wird oder ob er zu diesem Zwecke instrumentalisiert wird. Mit anderen Worten: Steht die "patria civitatis" (das staatsbürgerliche Vaterland) über der "patria naturae" (dem natürlichen Vaterland), um auf die Begrifflichkeit Ciceros zurückzugreifen,
Angela Merkel ordnete - zumindest auf der Ebene des Diskurses - die Prioritäten nicht richtig, als sie in einem Zeitungsinterview den Patriotismus als "das Bekenntnis zur Geschichte der Nation, mit ihren Höhen und Tiefen, zur Kultur und Sprache des Landes, zu den Liedern, zu den Landschaften und Regionen, zu den Menschen mit ihren Leistungen" verstand und erst dann auf die republikanische Definition des Wortes zu sprechen kam: "Patriotismus bedeutet für mich aber auch darüber hinaus, nicht nur auf das persönliche Wohlergehen zu schauen, sondern sich dafür einzusetzen, dass das eigene Land vorankommt, dass Deutschland auch im Ausland als Erfolgsmodell angesehen wird."
Davon zeugt auch das Thesenpapier der sächsischen CDU "Deutscher Patriotismus in Europa", das auf dem 19. Landesparteitag am 5. November 2005 beschlossen wurde.
Dass eine verkehrte Prioritätensetzung fatale Folgen nach sich ziehen kann, musste man in der Vergangenheit nicht nur in Deutschland, sondern auch in Frankreich schmerzlich erfahren. Dies wird am Fallbeispiel des französischen Neoroyalisten Charles Maurras deutlich. In einem in der Zeitschrift "Le Soleil" vom 2. März 1900 erschienenen Aufsatz benutzte Maurras, um den modernen "integralen Nationalismus" - der Begriff stammt von ihm - zu beschreiben, die Sprache des alten Patriotismus und verlangte vom Bürger in Anlehnung an das alte Rom, dass er "seine Gefühle, seine Interessen und sein Lehrgebäude dem Wohle des Vaterlandes unterordnet".
Der "Verfassungspatriotismus"
Der Imperativ, dem Patriotismus den Vorrang vor dem Nationalismus einzuräumen, sollte jedoch nicht zu dem falschen Schluss verleiten, ihn von jeglicher sozialer, geschichtlicher und kultureller Konkretheit zu reinigen. Gerade dies haben die französischen (nicht republikanischen) Vertreter der Definition der Nation als Willensgemeinschaft des Endes des 19. Jahrhunderts, Fustel de Coulanges und Ernest Renan, nicht getan.
Tzvetan Todorov spricht von einer logisch unhaltbaren Vermischung der subjektivistischen und objektivistischen Sichtweisen der Nation bei Renan. Dieser habe zwar mit Erfolg vermieden, den "bürgerlichen" Nationalismus in einen einfachen Patriotismus zu verwandeln. Es sei ihm aber nicht gelungen, zwischen zwei Erscheinungsformen der Nation scharf genug zu trennen: der politischen und der kulturellen. Renan deute die "kulturelle" Dimension der Nation mit patriotischen Kriterien.
Todorov übersieht allerdings, dass weder Renan noch Fustel de Coulanges eine kulturalistische Auffassung der Nation vertraten. Sie wollten vielmehr auf die Einbettung des Einzelnen in ein gemeinsames politisches Handeln, das zwangsläufig im Laufe der Jahre zur Entstehung einer Solidar- bzw. Schicksalsgemeinschaft und zur Konstruktion einer "narrativen Identität" führt, hinweisen.
Das Handeln der Staatsbürger zur Verwirklichung gemeinsamer Projekte erfordert gerade die mobilisierende Kraft der politischen Symbolik. In seiner in Frankreich viel zitierten Untersuchung der Zeremonien vom 11. November stellt der französische Historiker und Politologe Antoine Prost fest, dass esohne politische Kulte keinen republikanischen Glauben und keine republikanische Tugend geben würde. "Dann", so Prost, "herrscht ein entzaubertes Regime, in dem sich der Gesellschaftsvertrag angesichts funktionaler Notwendigkeiten verflüchtigt."
Man sollte nicht versuchen, den politischen Glauben durch die Vernunft zu ersetzen, sondern vielmehr die Vernunft als Wächterin über den politischen Glauben zu etablieren. Gerade dies war das Ziel des Republikaners Dolf Sternberger. Der Erfinder des Begriffs "Verfassungspatriotismus" - der Loyalität zur Verfassung und nicht zur Kulturnation - weigerte sich mit guten Gründen, das Vaterland als "Mutterschoß" zu überhöhen.
Oft wirft man dem zweiten deutschen Verfechter des "Verfassungspatriotismus", Jürgen Habermas, ungerechtfertigterweise vor, diesen Begriff von allen vorpolitischen Bestimmungen reinigen zu wollen. Dabei ist ihm wohl bewusst, dass die Deutung der Verfassung stets auf Grundlage eines gemeinsamen, kulturell bedingten Interpretationshorizonts erfolgt, und dass die gemeinsame politische Kultur der Staatsbürger "ethisch imprägniert" ist.
Für eine Loyalität zur offenen Republik
Auch wenn man sich bemüht, zwischen Patriotismus und nationalistischer Ideologie scharf zu trennen, und auch wenn man dem Patriotismus eine eindeutige Priorität vor dem Nationalismus einräumt, bleibt die entscheidende Frage offen, ob der Patriotismus in modernen pluralistischen Demokratien überhaupt noch zeitgemäß ist. Die Republikaner beantworten diese Frage selbstverständlich mit "Ja", denn mit dem Patriotismus verbinden sie die ihnen am Herzen liegenden Vorstellungen des gesellschaftlichen Zusammenhalts und des sozialen bzw. politischen Engagements der Staatsbürger. So sehen Benjamin Barber, Jean-Marie Guéhenno, Pierre-André Taguieff, Dominique Schnapper und Yves Lacoste in der Nation den natürlichen Raum für soziale Solidarität und Demokratie.
Tatsächlich lässt sich jedoch der Patriotismus nur schwer mit dem heutigen Pluralismus vereinbaren. Die früheren Vertreter des Republikanismus sind meist von der Existenz eines allen Staatsbürgern gemeinsamen politischen Projektes und eines Endziels ausgegangen und haben sich aus diesem Grund mit dem politischen und gesellschaftlichen Pluralismus schwer getan. Machiavelli, Algernon Sidney und Adam Ferguson zählen zu den wenigen unter ihnen, die sich bemüht haben, eine pluralistische und konfliktreiche Republik zu denken.
Heute noch hat der von Rousseau beeinflusste Republikanismus französischer Prägung Probleme, die kulturelle Vielfalt im öffentlichen Raum ernst zu nehmen.
Nur durch eine zivilgesellschaftliche Deutung des republikanischen Patriotismus lässt sich dieser mit dem inner- bzw. außenstaatlichen (hyper-)modernen Pluralismus zusammen denken. Dafür ist es notwendig, wie Dieter Oberndörfer und Michael Walzer von einer Treue zur offenen Republik auszugehen.
Weder die Nation noch das Vaterland sollten Gegenstand der Loyalität der Staatsbürger sein, sondern eine dem politischen, sozialen, kulturellen und ethnischen Pluralismus gegenüber prinzipiell offene Republik mit einer starken Zivilgesellschaft. Walzer tendiert wie Habermas und im Unterschied zu Oberndörfer dazu, die "mystischen Beiklänge", die "kunstvollen Ritualisierungen" und die "symbolischen Ausdrucksformen" dieser Art von Loyalität zu gering zu schätzen. Man sollte deren Notwendigkeit erkennen und zugleich eine kritische Distanz zu ihnen pflegen.
Da der Patriotismus nicht als Treue zur Patria, sondern als Loyalität zur Republik verstanden werden soll, erweist sich letztendlich der Begriff "Patriotismus" als ungeeignet. Mit ihm sind Metaphern verbunden, die für moderne mündige Bürger und Subjekte problematisch sind, wie die Liebe zu abstrakten Personen - nach dem Bonmot des Bundespräsidenten Gustav Heinemann liebt man nicht den Staat, sondern seine Frau -, die mütterliche Geborgenheit und Fürsorge der Gemeinschaft oder die Bewunderung der "Väter". Nicht Patriotismus sollte gefördert werden, sondern eine gesunde, kritische, aber auch bewusste Treue zur Republik, die mehr ist als nur die positive Haltung zu den Grundprinzipien der Verfassung. Sie setzt nicht nur Zivilcourage voraus, sondern auch die Bereitschaft, im Ernstfall selbst sein Leben einzusetzen. In dieser Hinsicht haben sich die New Yorker Feuerwehrleute am 11. September 2001 nicht nur pflichtbewusst, sondern auch "republikanisch" verhalten.
Der 11. September zeigt übrigens auch, dass ein wohlverstandener Republikanismus den gesellschaftlichen Pluralismus keinesfalls gefährdet. Nach dem Attentat bekannten sich die Vertreter der verschiedenen Ethnien, Religions- und Bevölkerungsgemeinschaften öffentlich zur Republik und zur Nation, ohne dafür ihre Zugehörigkeit zu unterschiedlichen Gemeinschaften preiszugeben. Eine solche Loyalität zur offenen Republik macht eine "verschachtelte" gemeinschaftliche Loyalität möglich: Man kann sich zugleich zu einer innerstaatlichen Gemeinschaft, zu einer Nation und zu Europa bekennen. Der Weltbürger fühlt sich zudem im Sinne Kants mit den anderen Republikanern weltweit eng verbunden.