Einleitung
Es ist seltsam: Solange ein verblichener Staatsratsvorsitzender bei jeder Gelegenheit ausrief: "Wir sind stoolz auf die sollistsche dojsche Nassjoohn", war das gemeine (!) Staatsvolk der DDR - oder zumindest jene 70 Prozent, die ein gleichgültiges bis kritisches Verhältnis zu ihrem streng eingegrenzten Land hatten - nicht sonderlich stolz auf die eigene Staatlichkeit. Die Landschaften, die Sporterfolge (gegen viel größere Staaten), die Vigilanz mancher kleiner Leute und vielleicht auch der jahrzehntelang erfolgreich ratternde "Trabant" - das mochte man ganz gern akzeptieren. Doch Stolz? Patriotische Gefühle? Kleine Leute sind gefühlsmäßig oft auf Seiten der Kleinen - weshalb im legendären Fußballspiel 1974 wohl relativ viele (70 Prozent?) zu "ihrer DDR" hielten und schadenfroh des großen professionellen Bruders Niederlage beklatschten.
Jene 70 Prozent aber wanderten Abend für Abend dennoch aus und sahen Westfernsehen - während heute 70 Prozent sich ganz gern an etwas Schönes erinnern möchten und deshalb die DDR gelegentlich leuchten lassen - in warmem Abendlicht oder ehrlichem Morgenrot. Die 70 Prozent sind gefühlte Prozent - aber genau so vom Dichter Adolf Endler verkündet worden.
Kann es aber sein, dass der im Titel angerufene Patriotismus ein Phantomschmerz ist? Das Land ist längst beigetreten, wie es offiziell heißt, bzw. breitgetreten, wie manch Sehnsüchtiger boshaft formuliert. Doch Untote der DDR wandeln durch neckische Shows, finstere Krimis voller Abrisshalden und Stasi-Seilschaften und kommen gelegentlich in Zirkeln hartnäckiger Beschöniger zum Vorschein. Die vielleicht merkwürdigste Hinterlassenschaft aber sind ideologische Alleswisser, die einen rechtskonservativen Patriotismus in den Mustern und Sprachwendungen der ganz alten DDR pflegen. All das folgt, schön der Reihe nach, weil Schlangestehen DDR-Hinterlassenschaft ist. Ganz nach vorn aber lassen wir zunächst die private Erinnerung. Und erzählen vom ureigenen Verhältnis zum Mutterland des Patriotismus.
Mein amerikanischer Patriotismus
"Sally Bleistift in Amerika" hieß eines meiner Kinderbücher.
Ein gutes Jahrzehnt später war ich im Land unseres damaligen Großen Bruders. In Odessa Schrägstrich Sowjetunion. Von den russischsprachigen Einheimischen wurde mir, während die schon erwähnte Fußball-Weltmeisterschaft tobte, der Unterschied zwischen Patriotismus und Nationalismus so erklärt: Patrioten sind die Verfechter und Anhänger eines großen Landes, zum Beispiel der Sowjetunion. Oder auch der USA. Nationalisten hingegen brüllen für kleine, unselbständige Länder, zum Beispiel Estland oder Armenien. Die DDR war in deren Augen wohl ein kleines, unselbständiges Land.
In Odessa traf ich dann meine ersten echten patriotischen Amerikaner; Seeleute, deren Schiff die Ladung nicht gelöscht bekam und die derweil in unserem Jugend-Hotel hausten. Endlich war Englisch am lebenden Objekt einsetzbar. Es funktionierte erstaunlich gut. Tief grub sich mir die Antwort eines der Seebären auf meine Frage nach seinem Hobby ein: Mei Haabi is tu meek Maani! Ahm an Pattriot! Ich war begeistert, wie großartig Amerikaner das Amerikanisch sprachen und ins Klischee passten, und er war begeistert, weil ich mit diesen komischen Russen reden konnte und trotzdem amerikanische Songs kannte.
Und wo immer ich später auf durch die DDR bummelnde US-Bürger traf, waren es prima Kumpels, wunderbare Schwestern, good guys; sie hatten Humor und kannten alle Hits, die wir auch kannten. Woodstock und Janis Joplin; die Astronauten und Martin Luther King; Jane Fonda und Harry Belafonte: We shall overcome. Das war der wichtigste patriotische Song eines durchschnittlich-braven DDR-Bürgers.
Als ich 1991 zum ersten Mal in Baltimore US-Boden betrat, merkte ich, dass alle Klischees stimmten: schaurig dünner Kaffee, Geschichtskenntnisse wie Klein McDonald, Dollar ist der Beste; mein Herz schlägt für mein Land. Und ich merkte, dass es zu jedem Klischee ein Gegenbeispiel gab. An der Universität Madison/Wisconsin waren die Alt-68er viel authentischere Alt-68er als in München. Die Unterwelt in Houston, klimatisierte Wandelgänge, war die kühle, saubere, elegante Welt der Schönen und Reichen - oben hockten nur Chicanos und Schwarze in der Hitze und dösten. Die oben waren unten und die unten waren oben. Und Texas war das Land mit der guten, sauberen Todesstrafe, das gegen bösen, außerehelichen Sittenverfall kämpft. Ach Amerika, mit Deinen koketten Schwestern und Brüdern, die zu Übertreibung und Humor neigen: Immer schlägt Euer Herz für Euer Land.
Und warum schlug in Deutschland und vor allem in jener DDR deutscher Nation mein Herz so unpatriotisch? Wer in einem kleinen, engen Land mit dem Buchstaben-Stotternamen DDR aufwächst, der wird schwer zum Patrioten werden. Vielleicht bleibt er für Angehörige großer Nationen immer und ewig Nationalist, wie ein Estländer oder Armenier?
Der Zeiten- und Rhythmuswechsel
Wir rekapitulieren die Situation im Jahre 1989. Denn die hat mit einem vermuteten, verschütteten, neu aufgekeimten oder eingebildeten Ost-Patriotismus zu tun. Die Leute verließen in Scharen die DDR. In den Zeitungen stand: "Wir weinen denen keine Tränenach!" Manchmal wurde halböffentlich gerufen: "Wir wollen raus!" Eine andere halbe Öffentlichkeit antwortete: "Wir bleiben hier!" Worunter verstanden wurde, dass sie nicht wegen irgendwelcher Errungenschaften hier blieben, sondern pflichtbewusst im sich leerenden Lande ausharrten - um eine trübe Gegenwart endlich zu ändern.
Nicht aber über diese Rufe und deren Hintergründe schrieben die Medien. Hingegen teilten sie mit: "Das Volk geht unerschütterlich auf seinem Weg zum weiteren Aufbau des Sozialismus voran." "Das Volk hat mit jenen paar Leuten, die sich unter unwürdigen Bedingungen in Botschaftsgebäuden drängen, nichts zu tun." "Das Volk steht geschlossen hinter der Politik der führenden Partei." "Das Volk geht nicht auf unangemeldete Zusammenrottungen." "Das Volk geht zur Tagesordnung über."
Auf solche Zeitungstexte bezogen sich jene Rufe, die nach der gefälschten Wahl vom Mai 1989 zuerst wohl im Spätsommer auf Leipzigs Ring erklangen: "Wir sind das Volk!" - Betonung auf dem Wir. Dann kam eine winzige Pause vor den übrigen drei Worten. Der Ruf war ein polemischer Ruf gegen alle Volksmeinungsverkündung in offiziellen DDR-Medien. Er war lustvoll, beschwingt und ironisch: Wir, liebe Verlautbarungsjournalisten, sind das Volk, und nicht jene Schlafwagenschaffner und Kampfgruppenkommandeure, die ihr immer mal aus dem ideologischen Zylinder zaubert und als Volksmeinungsrepräsentanten in eure Zeitungsspalten presst. Das Wort "Volk" wurde weniger völkisch denn als Bevölkerung verstanden. Eine Bevölkerung aus Werktätigen, die meist sächsisch sprachen. Wir sind die Werktätigen, denn wir sind wirklich tätig in unseren Betrieben, die nur auf dem Papier uns gehören. Aber wir sind jene, die noch aus Scheiße Bonbons machen können.
Dass mit dem Auftritt des Bundeskanzlers Kohl in Dresden, als der sich von echten Sachsen umjubelt sah, plötzlich oder eben doch nicht plötzlich, sondern vorbereitet der Ruf "Wir sind ein Volk!" erklang, hatte wohl nicht nur mit der Durchschnitts-Bewohnerschaft der DDR zu tun. Man schaue Bilder der Demos an: Im September und Oktober noch sind es Familienmütter und -väter, Leipziger im Parka wie du und ich, die dort ängstlich, aber mit einer gewissen Würde demonstrieren. Im Dezember sieht man solche Gesichter schon seltener - dafür gelegentlich jene Physiognomien, die heute auf gut geschützten NPD-Demos vorherrschen. Man sieht schon schwarzrotgoldne T-Shirts, original westdeutsches Parteienwerbematerial, und eben auch jenen Typen, der mit erhobenem Arm und im Schritt durchnässter Hose das Bild des hässlichen DDRlers, Deutschen, Gesamtdeutschen verkörpert.
Nun ist DDR-Geschichte in ihrer Spätphase auch die Geschichte einer dialektischen Groteske, die dem Dadaismus verpflichtet zu sein scheint: Wir sind für unser Land, weil wir gegen unser Land sind. Anfang der achtziger Jahre kreierten Hans-Eckardt Wenzel und Steffen Mensching als Clown-Duo eine neue Art des Kabaretts. Eines der Programme hieß "Altes aus der DaDaEr" (1982). Es wurde später mit "Neues aus der DaDaEr" (1989) fortgesetzt, bevor es 1990 hieß "Letztes aus der DaDaEr". Mit diesen Erfahrungen im Hinterkopf veröffentlichte Wenzel 1990 einen Aufsatz: "Rhythmische Veränderung einer Losung oder Die Entstehung des Marsches auf dem Gebiet des Tanzes."
Wenzel untersuchte die beiden Rufe "Wirsind das Volk" und "Wir sind ein Volk"rhythmisch-melodisch: Hier der beschwingte, schwebende Rhythmus Bammdaddaddamm Bammdaddaddam; Wir - sind das Volk. Wir - sind das Volk. ("Beinah wäre ein Walzer entstanden.") Später der Marsch-Tritt: Wir sind! - Ein Volk! Wir sind - Ein Volk!
Wenzel: "Mit derselben rhythmischen Struktur gerufen, hätte der veränderte Satz nun den Hintersinn erzeugen können: Na wir sind vielleicht ein Volk, wäre die alte Betonung aufrechterhalten geblieben." Und weiter: "Vielleicht vollziehen sich alle größeren Veränderungen auf diese Art: indem einer konkreten Existenz die eigene Abstraktion in anderer Bewertung gegenübergestellt wird." Schlicht gesagt: Der Gang auf die Straße hatte seinen Schwung, das Befreiende, das aus der Angst Hervorgetretene, das Heitere verloren. Er war ein nach führender Partei lechzender Ruf, ein Ruf um Eingang in den Schoß der Bundesrepublik geworden. Beschwingtheit war zum marschierenden Patriotismus geworden.
Von genau diesem Dezember-Ruf her aber wird bis heute begründet, dass in der DDR der Wunsch nach einem einheitlichen Vaterland, nach Patriotismus, nach deutscher Weltgeltung stärker als in der alten, liberalen, west- und südeuropäisch geprägten, oft subversiven Bundesrepublik gewesen sei. Und daran knüpfen die übrigens fast alle aus Westdeutschland zugewanderten NPD-Kader des Ostens an, von Sachsens Holger Apfel bis Mecklenburgs Udo Pastörs, im Glauben, im Osten sei man "nationaler" im NPD-Sinne als im Westen. Der Einzug rechter Parteien in die Parlamente Sachsen-Anhalts, Sachsens, Brandenburgs und Mecklenburg-Vorpommerns scheint dies durchaus zu belegen. Doch vielleicht ist die real existierende, sehr widersprüchliche DDR etwas anderes als die in ihrem tiefsten Ungeist nachwirkende deutsche Ost-Provinz?
Wo kommen wir her? Voll Stolz? Voll Scham?
Der DDR-Bürger machte als Repräsentant seines Landes früh spezifische Auslandserfahrungen. Natürlich ganz andere als jene Bewohnerinnen und Bewohner der ehemaligen Bundesrepublik, die in den fünfziger Jahren auszogen, Reiseweltmeister zu werden.
Hier soll ein Einschub verdeutlichen, dassder Sprachgebrauch "ehemalige DDR" schlicht falsch ist, während "ehemalige BRD" zur Klärung beitrüge. Die DDR gibt es nicht mehr, wie das Mittelalter und die Kaiserzeit. Keiner käme also auf die Idee, vom "ehemaligen Mittelalter" zu reden. Hingegen gibt es wirklich eine zeitgenössische BRD - die von heute, von der Oder bis zum Rhein - und eine "ehemalige BRD" - das Land, das bis 1990 eine Ständige Vertretung in jenem Land hatte, das sich als antiimperialistisches Bollwerk gegen den Kapitalismus verstand.
Zurück zu getrenntdeutschen Reise-Zeiten. Fuhr ein DDR-Bürger in ihm zugängliches Ausland, vom Goldenen Strand Bulgariens bis zu den Schneehängen Zakopanes, so war er dort Negativ-Auslese. Es gab Deutschsprachige mit richtigem Geld - und es gab ihn. Er definierte sich nicht, wie andere Völker, über Sprache (deutsch), Gebräuche (Biertrinken) und Sitten (Pünktlichkeit), sondern allein über die Währung. Wenn dies vielleicht keinen spezifischen Patriotismus nach sich zog, so doch ein bis heute nachwirkendes Gemeinschaftsgefühl von Rügen bis zum Vogtland: Du warst doch auch einer, der früher am Urlauber-Katzentisch hocken musste, während die Bundis - Westdeutsche hießen damals Bundis - alles bis zum Abwinken für paar Westpfennige bekamen.
Fehlendes oder vorhandenes Gemeinschaftsgefühl ist übrigens bis heute in Kabaretts hörbar. Um Anspielungen zu verstehen, müssen beide Seiten über einen gemeinsamen Erfahrungshorizont verfügen - die auf der Bühne und die im Publikum. Die Politik der Großen Koalition und die Geliebten Dieter Bohlens sind allen von Hamburg bis Dresden klar; werden aber Vergangenheitsgeschichten erzählt, spaltet sich das Publikum - nicht nur von den politischen Ansichten her, sondern auch von der Fähigkeit, assoziieren und folglich verstehen zu können. Es fällt bis heute Ostlern leichter, alte Geschichten der ehemaligen BRD zu verstehen, als Westlern, die Besonderheiten ostdeutscher Sprachgebung, vom "ABV" über "Kreisleitung" bis zur "Messe der Meister von Morgen" zu begreifen.
Andererseits ist es in der heutigen Gesellschaft oft nötig, Herkunft zu verschleiern. Das Sächsische hört man in westdeutschen und westdeutsch geleiteten Betrieben - die übergroße Mehrheit - nicht gern als Offizialsprache. So werden extra Sprachkurse angeboten, um nicht nur die verräterische mitteldeutsche Sprachfärbung auszumerzen, sondern auch alle Wendungen, die auf eine DDR-Sozialisation hindeuten, zu eliminieren. Man sollte aufs Gymnasium gegangen sein - nicht zur Erweiterten Oberschule. Sprachregelungen gehen so weit, dass es statt Tischlern und Klempnern nur die eigentlich allein im süddeutschen Sprachraum üblichen Schreiner und Spengler in ostdeutschen Handwerksrollen gibt. Zur Vorsicht lädt man sich nicht mehr, wie es korrekt hieße, zu Ostern und zu Weihnachten ein, sondern an Ostern und an Weihnachten. Als Nutzer solcher Wendungen kommt der Sprecher, wie er suggerieren will, auf keinen Fall aus Deutschlands Osten. Keinem leitenden Menschen im Mitteldeutschen Rundfunk würde es einfallen, sein Hessisch oder Fränkisch zu unterdrücken; von Ost-Mitarbeitern wird das im Westen aber sehr wohl erwartet. Statt stolz auf seine Herkunft zu sein - wofür man ohnehin nie etwas kann -, schämt sich der Ostmensch. Und kettet sich so noch nach Jahren auf spezifische Weise an seinen zu Recht dahingegangenen Staat.
Die Vorurteile der Gegenwart
Vor einem guten Jahr erregte ein Buch deutsch-deutsches Denken. Der Publizist Landolf Scherzer hatte von einer Zeitung den Auftrag bekommen, die einst innerdeutsche Grenze zwischen Thüringen und Bayern bzw. Hessen zu beschreiben. Scherzer wandert als "Der Grenz-Gänger"
Scherzer, der offensichtlich an Harmoniesucht leidet, findet dennoch unter solchen niederschmetternden Meinungen immer wieder Verbindendes heraus und versucht, bei allen auch ihn erschreckenden Vorurteilen ein Zukunftsbild zu zeichnen, das die im guten Sinne patriotische Liedzeile vom "Deutschland, einig Vaterland" zur Realität lassen werden könnte.
Ganz anders las das Buch der aus Hessen zugewanderte Meininger Journalist Hans-Joachim Föller. In einem halben Dutzend Zeitungen, darunter der "Süddeutschen Zeitung", lässt er seine Meinung als Rezension drucken, beginnend im Berliner "Tagesspiegel":
Es entwickelt sich ein veritabler Streit in weiteren Medien mit Anrufung des Presserats und vielerlei Nachschlägen.
Unsterbliches gestanztes Sprachgut
Wir versuchen nun doch noch eine Definition des spezifischen Ost-Patriotismus und registrieren sein Vorkommen in sprachlichen Spurenelementen. Da wir als Deutsche den Patriotismus als Vaterlandsliebe definieren sollten, ist er als Ost-Patriotismus unerklärlich: Mein Vater kam aus Schlesien, die Väter meiner Altersgefährten aus Pommern, dem Rheinland und sogar aus unserem sächsischen Wohnort. Wenn wir den Verfassungspatriotismus als konstituierend annähmen: Eine Ost-Verfassung gibt es nicht, und eine DDR-Verfassung kennen jene Leute, die sich womöglich als Ost-Patrioten bezeichnen, gewiss nicht. Bliebe die Verbundenheit zu einer Geschichte, einer Sozialisation, einer Landschaft, in der man aufgewachsen ist - die ist beim Bayern nicht anders als beim Dänen, mal mehr, mal weniger ausgeprägt. Von nachwirkenden Verstrickungen ins Land der Kindheit, der Jugend, der Berufsfindung und vor allem des Umbruchs ist in den vorliegenden Abschnitten gesprochen worden, sogar von jenen Nachwirkungen, die Schriftsteller am meisten interessieren: sprachlichen.
Diese Besonderheit soll etwas ausgeführt werden: Sprach- und Denkmuster der DDR kehren auf neue Weise wieder. Genau dort, wo man sie nicht vermutet: bei Kritikern jeglichen DDR-Geistes, der grundsätzlich nur als Ungeist bezeichnet wird.
Die Argumentation von Hans-Joachim Föller gegen Scherzers "Grenz-Gänger" gipfelt denn auch darin, Scherzer habe ein "verzerrtes Weltbild". "Verzerrtes Weltbild" war ein Lieblings-Totschlagwort der DDR-Nomenklatur gegen missliebige Künstler. Ein "verbindliches Weltbild", wie es bei der Debatte um eine ausgesonderte Werner-Tübke-Graphik im Thüringer Landtag von der Stasi-Beauftragten Hildigund Neubert gefordert wurde,
"Öffentliche Herabwürdigung" der DDR-Staatsführung galt als schlimmstes Vergehen westlicher Korrespondenten. Wie kommt dieser Ausdruck in die Sprache bekennender Demokraten? So gibt es eine sprachliche Allianz von Leuten, die gleichermaßen ausrufen: Die Welt ist so, wie wir sie anordnen! Das sind zum einen SED-Parteigänger, die sich im Nachhinein die DDR aufhübschen, zum andern Blockparteifreunde, die 1989 schon am Vormittag ihren Widerstandskampf entdeckten. Beide beschwören: Es muss doch ein verbindliches Weltbild geben! Wenn dies aber Ausdruck von Ost-Patriotismus ist, sollten wir die eingangs gestellte Frage so beantworten: Nein!
Richtigstellung
In APuZ 1-2/2007 schreibt Matthias Biskupek auf S.18, die Argumentation des Journalisten Hans-Joachim Föller gegen Landolf Scherzers Buch "Der Grenz-Gänger" gipfele in dem Vorwurf, Scherzer habe ein "verzerrtes Weltbild". Das Zitat ist falsch. Diesen Begriff hat Föller in seinen Besprechungen des Buches nicht verwendet. Auf Seite 17 findet sich das korrekte Zitat aus Föllers Rezension im "Tagesspiegel": "Scherzer (...) arbeitet mit verfälschten, irreführenden und erfundenen Zitaten und konstruiert ein Zerrbild von den wirklichen Verhältnissen." Die Landesbeauftragte des Freistaats Thüringen für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik, Hildigund Neubert, legt Wert auf die Feststellung, dass sie im Rahmen einer Ausstellung im Thüringer Landtag, aus der eine Werner-Tübke-Graphik entfernt worden ist, kein "verbindliches Weltbild" gefordert habe, wie von Biskupek behauptet wird. Eine solche Forderung habe sie auch anderen Orts nicht erhoben.
Die Redaktion