Einleitung
Sag' mir, wo die Fahnen sind, wo sind sie geblieben? Nur noch in trotzigen Dauerarbeitslosenmilieus seien sie zu besichtigen, wird dieser Tage berichtet. In der Tageszeitung "Die Welt" las sich dazu sinngemäß: Je schwarz-rot-goldiger, desto Hartz IV-iger. Ansonsten herrscht vielerorts ein wenig Wehmut über den scheinbaren Verlust an "neuer, deutscher Heiterkeit". Ist dem "Sommer des Wohlgefühls" ein bleierner deutscher Herbst gefolgt, in dem die zuvor so "lächelnden, lebensfrohen, leichtherzigen Deutschen" sich wieder "ihr Land schlecht jammern"? Manche fragen sich ernsthaft, ob wir nach dem "gebrochenen deutschen Gefühlsdamm" nunmehr einen ängstlichen Deichwiederaufbau aus Angst vor der eigenen Ausgelassenheit erleben.
"Deutschland einig Wunderland". Bereits vier Monate nach dem kopfstößig dominierten WM-Finale scheint eine Welle der euphemistischen Frühhistorisierung des deutschen "Sommermärchens" einzusetzen. So gelingt Hajo Schumacher in der Rückschau das semantische Unikum von der "unbedingten Bereitschaft zu naiver Kollektivfreude". Und weiter voller Nostalgie: "Kann man die magischen Tage zurückholen, als alle gemeinsam bereit waren, das tägliche Gemäkel einfach zu lassen?" Anders gefragt: "Kann der Film - Sönke Wortmanns 'Deutschland - ein Sommermärchen' - uns lehren, wie man das WM-Gefühl immer und immer wieder abruft?"
Wie aber ist der schwarz-rot-goldene Freudentaumel in nüchternem Abstand zu beurteilen? War er Ausdruck eines souveränen, selbstverständlichen Umgangs mit nationaler Symbolik, "nur" ein weiteres superlatives Megaevent zwischen dem Papst-Rummel und "Schumis" Endspurt um Formel-1-Titel Nr. 8 oder doch mehr: die bunte, feierliche Manifestation eines neuen Patriotismus? Sind wir tatsächlich "in diesem Sommer andere geworden", wie selbst die ansonsten eher nüchtern hanseatisch gestimmte Zeit nach dem Berliner WM-Finale ins Schwärmen geriet?
Zumindest gab es etliche ausländische Stimmen, welche die angeblich so selbstzerquälten Nachkriegsdeutschen endlich in der nationalen Normalität angekommen wähnten, ohne sich deshalb fürderhin vor ihnen fürchten zu müssen. "Patriotismus soft" konstatierte zum Beispiel die italienische Zeitung Repubblica: "Neuer Stolz ohne Willen zur Macht". "Die Deutschen sind uns plötzlich sympathisch", empfand auch wohlwollend der von der konservativen FIFA um seine gigantische WM-Party gebrachte André Heller. Die französische Tageszeitung Libération sah nicht nur Fahnen, sondern roch sie auch, ohne freilich in landesübliche Ängste vor den Gefahren wiedererstarkter Teutonen zu verfallen: "Die Deutschen haben einen Monat an der Theke zugebracht und wir mit ihnen. Es war wunderbar."
Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder kommentierte auswärtiges Wohlwollen gegenüber neudeutschen Normalisierungsversuchen eher ironisch. Bei der jüngsten Präsentation seiner "Erinnerungen" schmunzelte er: Wenn gesagt würde, die Deutschen sollten doch endlich die Geschichte zurücklassen: "Die sagen es zwar so, meinen es aber nicht so."
Das Klischee vom wiedervereinigten Deutschen meint nicht nur einen ökonomisch in die Jahre gekommenen, sondern auch psychisch "kranken Mann in Europa", dem es vor allem an nationalem Selbstbewusstsein mangelt. "Deutschland auf der Couch", so analysierte Thomas Kielinger während der WM "den von Hypochondrie gebeugten Deutschen" als jemanden, der das "Gefühl einer neuen Vitalität, eines Aufbruchs, einer neuen Zuversicht" brauche. Noch deutlicher drückte es der Psychiater Fritz Simon aus: "Wir sind eine manisch-depressive Kultur. Der Jubel ist eine willkommene Kompensation des ganzen Gejammeres, das in Deutschland geherrscht hat."
Dabei fällt auf, dass das Stigma des beckmesserischen "Bedenkenträgers" längst reihum akzeptiert worden zu sein scheint. Selbst Vertreter des linksliberalen Feuilletons fühlen sich längst nicht mehr davon angesprochen, sondern verwenden es ihrerseits. Allen voran Schriftsteller Günter Grass, der sein Klinsmann-Lob im Interview mit der Süddeutschen Zeitung am Tag vor dem WM-Finale gegen "die bei uns so starke Fraktion der Bedenkenträger" richtet.
Normalität der Berliner Republik
Bedurfte es erst eines ballgesteuerten Erweckungserlebnisses, um bei den Deutschen einen nationalen Gefühlsstau zu lösen? In der Zeitschrift Blätter für deutsche und internationale Politik deklariert Albrecht von Lucke die WM zum "Initiationsakt des neuen Deutschland". Es spricht indes einiges dagegen, dass es erst einer allerorten jubelnden Fußballszene bedurfte hätte, um einen neuen, "unverkrampften" Patriotismus loszutreten.
Die literarischen Wegbereiter einer solchen, bereits lange vor der WM zu beobachtenden Entwicklung waren Eckhard Fuhr mit seinem Essay über die "Berliner Republik als Vaterland", Reinhard Mohr und seine Beschreibung eines neuen, positiven "Deutschlandgefühls", Florian Langenscheidt mit seinen "250 Gründen, unser Land heute zu lieben", Matthias Matussek und sein neunationaler Paukenschlag "Wir Deutschen" oder Wolfgang Büscher, der mit "In Deutschland. Eine Reise", eine Art Abschied von der alten Bundesrepublik nimmt.
Allzu lange habe die öffentliche Bühne einem "Furor des deutschen Selbsthasses" gehört, schreibt Eckhard Fuhr, "der im Laufe der neunziger Jahre aus dem Milieu links-alternativer Akademiker in die neuen ökonomischen Eliten eingewandert ist. Diesem neuen deutschen Selbsthass ist Deutschland nur noch ein Wirtschaftsstandort, der durch brachiale Traditionszertrümmerung für den globalen Wettbewerb fit gemacht werden muss."
Viele Wahrnehmungssperren der Nachkriegszeit sind aber mittlerweile aufgehoben. Wer heute auf deutsche Opfer verweist, muss nicht mehr automatisch mit der "Revanchismus-Keule" rechnen. Der Boom der deutschen Opfergeschichte geht nicht auf das Konto der üblichen verdächtigen reaktionären Geister, sondern auf das geschichtspolitische Konto einer nachholbedürftigen Linken, die eine leidenshistorische Wiederannäherung an das eigene Volk sucht und dabei von bislang geübter politisch korrekter Ignoranz und geschichtspädagogischer Strenge abzusehen scheint. Erinnert sei an Jörg Friedrichs akribische Studie über den alliierten Bombenkrieg gegen deutsche Städte, an Günter Grass und seine Novelle über das untergegangene Flüchtlingsschiff "Wilhelm Gustloff" sowie an die von Peter Glotz mit angestoßene Kampagne für ein Zentrum gegen Vertreibung.
Der "Patriotismus der Berliner Republik" lässt sich nicht in politische Lager einordnen. Die Sozialdemokraten sahen im schwarz-rot-goldenen Fußball-Sommer die Früchte der Normalisierungspolitik ihres Ex-Kanzlers Schröder aufgehen. Diese hatte beim Identitätsdisput mit dem Schriftsteller Martin Walser im Willy-Brandt-Haus am 8. Mai 2002 begonnen, als das Vereinsmitglied von Borussia Dortmund mit lockerer Zunge bekannte, er würde sich über einen Sieg der deutschen Nationalmannschaft nicht nur freuen, weil wir ein so tolles Grundgesetz hätten, was unschwer als eine indirekte Absage an Habermas' postnationales Konzept des "Verfassungspatriotismus" zu deuten war. Im Bundestagswahlkampf 2002 beschwor Schröder gegen Stoiber seinen "deutschen Weg", der von der ersten bundesdeutschen Kriegsbeteiligung im Kosovo bis zum bis dato einmaligen Souveränitätsakt reichen sollte, der Weltmacht USA im Irak-Krieg die militärische Gefolgschaft versagt zu haben. Schließlich setzte der dritte SPD-Kanzler auch eigenwillige Akzente bei der Eröffnung der umstrittenen Flick-Collection, seiner Teilnahme an den D-Day-Feiern in der Normandie (2004) bis hin zum Gang ans spät in Rumänien entdeckte Soldatengrab des gefallenen Vaters.
Zudem hat die vom damaligen SPD-Chef Franz Müntefering 2005 eröffnete "Heuschrecken"-Debatte dazu geführt, dass die Linke heftig die Keule der "vaterlandslosen Gesellen" gegen undeutsche Unternehmer schwingt, die "daheim" keine Steuern mehr zahlen und Arbeitsplätze ins Ausland verlagern. Dass es Rot-Grün trotz aller erkennbaren Bemühungen um ein neues nationales Profil noch immer an Routine mangelte, bewies freilich der schwere symbolpolitische Fauxpas einer angedachten Feiertagsstreichung des 3. Oktober.
Alle Parteien - bis auf die Linkspartei - haben die Fanbegeisterung während der WM innenpolitisch auszuschlachten versucht: Grünen-Chefin Claudia Roth sprach von einer wunderbaren Multikulti-Feier, und Joschka Fischer dichtete sich eine gleichsam nostalgisch stimmige Mixtur aus "Sommernachtstraum und Woodstock" zusammen. FDP-Parteichef Guido Westerwelle wartete mit der staatsmännischen Interpretation auf - "Da hat sich einfach etwas zum Guten gewendet. Das ist aufgeklärter Patriotismus, das ist europäischer Patriotismus", während sein Vize Rainer Brüderle hinter dem neuen Fahnenpatriotismus die "größte Straßendemonstration gegen die Große Koalition" witterte.
Und die Konservativen? Sie sahen Roman Herzogs vormals herbeigesehnten "Ruck" durch Klinsmanns Motivationspower endlich auf den Weg gebracht. Die Patriotismus-Debatte der CDU auf dem Düsseldorfer Parteitag 2004 hatte eher einem Rohrkrepierer geglichen. Sie diente seinerzeit dem Zweck, vom unionsinternen Krach um die "Kopfpauschale" beim Gesundheitskompromiss und die vielen Protestbriefe auf den Ausschluss des nationalkonservativen Fuldaer Bundestagsabgeordneten Martin Hohmann abzulenken. Während damals schon die Ministerpräsidenten Christian Wulff aus Niedersachsen und Peter Müller aus dem Saarland vor einer Neuauflage von Leitkultur-Kampagnen warnten, gab Merkels Vorgänger im CDU-Parteivorsitz, Wolfgang Schäuble, zu bedenken: "Eine Patriotismusdebatte auf Knopfdruck funktioniert nicht." Nach einer enttäuschenden Kongressrede seiner Nachfolgerin warnte er sogar vor neuen Sehnsüchten in der Partei nach Helmut Kohl, der in den Augen der Altvorderen als Patriotismus-Nachweis keine größeren Kampagnen, sondern nur die altmodische Schlussformel seiner Parteitagsreden nötig gehabt habe: "Gott schütze unser deutsches Vaterland."
Die Linke im Wechselbad der Gefühle
Der "Deutungstrieb, der das Fest nicht auf sich beruhen lassen will", wie es Jens Bisky formulierte, schlug während und nach der WM in zwei Richtungen aus: Die Fanbegeisterung wurde gleichsam patriotisch oder zirzensisch entmischt, d.h. entweder national interpretiert oder karnevalistisch gegengelesen.
Alt- wie neupatriotischen Autoren von Martin Walser bis Matthias Matussek fiel es leicht, das schwarz-rot-goldene Fahnenmeer als endlich eingetretene flügelübergreifende Deutschwerdung der einst von soviel Selbsthass befallenen Landsleute zu begrüßen. Eine stilgerechte "subversive Aktion" gegen postnationale Alt-68er wollte der liberal-konservative Publizist Paul Nolte in der Fanbegeisterung erblicken, obgleich die FAZ verkünden sollte, dass das zur Schau gestellte nationale Selbstbewusstsein nicht einmal mehr in den "bedenkenträgerischen Feuilletons zu Debatten über die Gefahren der Deutschtümelei" führe.
Fußball war als Massensport schon immer ein Transporteur nationalistischer Stimmungen. Die Parole "Ich bin stolz, ein Deutscher zu sein" entstand zu Beginn der 1980er Jahre im Rechtsextremistenmilieu, ehe ein deutscher Nationalspieler für ihre Verbreitung in von Hause aus harmlosere Milieus sorgen sollte - Torwart Toni Schumacher intonierte sie in trotziger Bekennerpose, nachdem er wegen eines üblen Foulspiels gegen den französischen Abwehrrecken Patrick Battiston im WM-Halbfinalmatch 1982 in Sevilla in heftige internationale Kritik geraten war. Inzwischen ist jene Parole auch im Deutschen Bundestag angekommen. Als CDU-Generalsekretär Laurenz Meyer sie 2001 aussprach und deshalb vom grünen Minister Jürgen Trittin als "Skinhead" beschimpft wurde, kam es zur berühmt-berüchtigten Nationalstolz-Debatte, in die sich auch Bundespräsident Johannes Rau mit der versuchten Klarstellung einschalten sollte: Man könne nur stolz auf etwas selbst Geleistetes sein, woraufhin FDP-Chef Guido Westerwelle in seiner Gegenattacke besonderen Mut beweisen wollte, als er die Parole auch auf Englisch zum Besten gab: "I'm proud to be a German."
Eigentlich hat die Linke ihre Debatte über nationale WM-Begeisterung längst hinter sich. Denn schon 1990 zur WM in Italien entflammte eine Kontroverse in der tageszeitung, nachdem erstmalig in deutschen Städten bei Erfolgen des Teams um Matthäus, Völler & Co. abgeschaute südländische Begeisterung aufkam und im Stile jubelnder Tifosi Autocorsi und Fahnenmeere zu erleben waren: "Auf deutschen Straßen ist endlich wieder was los", freuten sich damals ergraute Alt-Spontis. Endlich hätten sich die Massen vomeinsamen bierdumpfen Besäufnis hinter der Glotze verabschiedet und sich "kollektiv im öffentlichen Raum gefreut". Selbst Daniel Cohn-Bendit nannte die Fahnenschwenker damals "etwas Wunderbares: So normal sind wir. Wir unterscheiden uns nicht vom Rest der Welt." Dagegen stand noch immer die beißende Kritik aus dem altlinken Milieu, die hinter dem grenzenlosen Jubel über den dritten deutschen WM-Titel anhand vereinzelter vandalistischer Ausschreitungen einen nationalistischen Vorgeschmack auf die nahende Deutsche Einheit vermuteten.
Aber auch klügere Köpfe haben sich seinerzeit die Frage gestellt, welche Gefahren möglicherweise von einem neu aufkommenden Patriotismus ausgehen könnten. In Anlehnung an eine Analyse Thomas Nipperdeys hat Peter Glotz im Jahre 1994 für die Zeit nach der Reichsgründung drei Typen von Patriotismus unterschieden: den "durchschnittlichen Normal-Patriotismus", der auf Wir- und Heimatgefühle setzt, und den "Normalisierungs-Nationalismus" nach der Deutschen Einheit. Deren Ausprägungen sah er im "theatralischen Machtpathos" des Politologen Arnulf Baring, in der "höchst wirksamen Rehabilitierung Carl Schmitts" durch Joachim Fest, in der "Deutschland zuerst"-Rhetorik Brigitte Seebacher-Brandts oder der Souveränitäts-Ideologie des früheren Welt-Feuilletonchefs Rainer Zitelmann sowie der schneidigen Schreiber der Wochenzeitung Junge Freiheit. Schließlich der dritte Typus: ein abenteuerlicher "Radikal-Nationalismus" nach der ersten Vereinigung, der aber Gott sei Dank - so Glotz - heute nur noch "ein dünnes Rinnsal" darstelle.
Während also der verstorbene Querdenker der SPD trotz eines alarmistischen Akzents weitgehend Entwarnung gab, hält ein Teil der linken Kulturkritik einen neuen Patriotismus, der ohne jede Feindbestimmung auszukommen glaubt, offenbar noch immer für ein Wunschgebilde. Der Politologe Kurt Lenk erinnert daran, dass die schöne WM-Parole "Die Welt zu Gast bei Freunden" quer stehe zur historischen Erfahrung jenes Franzosenhasses, der mit der Entstehung eines deutschen Patriotismus zu Zeiten des Kampfes um die deutsche Einheit Ende des 19. Jahrhunderts einherging.
Lenk beruft sich auf den niederländischen Kulturhistoriker Johan Huizinga, der 1942 formuliert hatte, "unter den Feen, die an der Wiege der Nationen standen, haben Hochmut, Habsucht, Hass und Neid niemals gefehlt". Selbst das erhabenste Nationalgefühl könne in Chauvinismus münden. Zwar sei es vom schlichten Gefühl, dass die eigene Gesellschaft gut sei, "weil sie die eigene ist", zur politischen Forderung nach "Reinhaltung des Volkskörpers" ein weiter Weg, so der Konservatismus-Experte Lenk. Wer aber wollte bestreiten, dass gerade eine weitgehend globalisierte Gesellschaft nicht frei ist von xenophobischen und nationalistischen Gefahrenpotenzialen?
Zur WM 2006 versuchte jedoch nur noch die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) in Hessen, sich als einsame Spielverderberin in Szene zu setzen, und warnte vor der Nationalhymne als einem "furchtbaren Loblied auf die deutsche Nation", während in der Auslandspresse Haydns Streichquartett - selbst in seiner marschmäßigen Verhunzung - im internationalen Hymnen-Ranking weit vorne rangierte. Wen interessierte da noch der Text - zumal im Vergleich zu weitaus martialischer formulierten Strophen anderer Teilnehmerländer?
Auch in der Neuen Zürcher Zeitung fehlte es nicht an kritischen Untertönen zum "kraftmeierischen und bierselig lauten Pop- und Party-Patriotismus". Denn Deutschland-Korrespondent Stefan Osterhaus verursachte dort mit seiner Polemik gegen Oliver Bierhoffs missverständliche Parole "Die Welt hat wieder Angst vor uns" eine Flut von empörten Leserbriefen aus deutschen Landen.
Global Player Teams vs. Ländermatches
"Der Fußball ist global, der Fan ist es nicht", konstatiert der amerikanische Soziologe Andrei S. Markovits. Der Gefühlshaushalt der Fußball-Anhänger sei "total nationalisiert", auch wenn die Vielfalt der Farben Supranationalität verspräche. Die über den Sprung in die globalisierte Welt erschrockenen Deutschen brauchten zur Orientierung einen Begriff von Nation und Vaterland, stellt Tissy Bruns dazu lapidar fest. Dies gelte gerade auch für den einfachen Anhänger der Welt des ökonomisch überdehnten Fußballs. Dass sich hinter der Wiederentdeckung des Nationalen auch ein Protest gegen die Tendenzen einer alles verschlingenden Globalisierung verbirgt, ist längst eine soziologische Binsenweisheit. Für die These spricht, dass sich Ländermannschaften wachsender Popularität erfreuen, obwohl die spielerische Kluft zwischen Spitzenkicks der Champions League und Ländermatches von Jahr zu Jahr größer wird. Noch in den Hochzeiten der New Economy hatte selbst Trendsetter Franz Beckenbauer erklärt, Nationalteams seien ein Auslaufmodell, die Zukunft gehöre den Global Player Teams im Rahmen einer europäischen Eliteliga. Heute jedoch scheint unbestritten, dass der Fußball-Patriotismus mit dem Verdruss des einfachen Fans am globalisierten Fußballbetrieb zusammenhängt: der merkantilen Totalherrschaft des Weltfußballverbandes FIFA während der WM und der rückläufigen Identifikation mit der eigenen Vereinswelt, seit das auswärtige Schnäppchen häufig mehr zählt als der einheimische Talentschuppen.
Dennoch gab es nicht wenige WM-Beobachter, die mit der Betonung des Partycharakters das patriotische oder neunationale Moment gleichsam spaßgesellschaftlich zu dementieren bzw. analytisch zu entschärfen versuchten, indem sie den Spaßfaktor am nationalen Freudentaumel, so zum Beispiel supranationale Verbrüderungsszenen auf der Fanmeile, besonders hervorkehrten. Zunächst schien FAZ-Feuilletonchef Frank Schirrmacher mit seiner Vermutung nicht ganz falsch zu liegen, dass man das gigantische Fußballfest auch als eine hochemotionale Flucht aus der ärgerlichen Alltagspolitik interpretieren müsse. Nicht Fußball und Politik, sondern Fußball statt Politik lautete hier die Devise: "Das Land erlebt diese Spiele als Befreiung von Politik. Als Befreiung von Politik, plus Christiansen plus Hans-Olaf Henkel (...). Es ist wie ein großes Ausatmen, wiedie Rückeroberung eines öffentlichen Raums."
Neufassung des deutschen Patriotismus
Partywillen statt Patriotismus? Kalauernde Wortschöpfungen machten die Runde: "Partyotismus", "Party-Patriotismus" oder "Partykratie". Die Ingeborg-Bachmann-Preisträgerin Kathrin Passig nannte im Deutschlandfunk die Sommerfußballfete einen "postpatriotischen Partyotismus" oder "Wellness-Patriotismus". Und Alfons Kaiser attestierte in der FAZ der Fanmeilenstimmung "Kuschelcharakter mit Verwöhnaroma".
Die Präsidentin der Viadrina-Universität in Frankfurt/Oder, Gesine Schwan, sah keine Nationalgefühle überschießen, sondern nur das extensive Ausleben von "Versammlungsfreude" - bei schönem Sommerwetter, versteht sich! Auch Kurt Kister wartete in der Süddeutschen Zeitung mit einer eigenwilligen Deutung jenseits des Patriotischen auf. Das wirklich Neue an der "WM-Kirmes" stelle die Gegenbewegung des Public Viewing dar. Sie richte sich gegen die vereinsamte Lebensart der Unterhaltungstechnologie (iPods, Gameboys, Surfen im virtuellen Netz). Kein neuer Patriotismus sei hier am Jubeln, sondern das Bedürfnis, "mit anderen, auch Unterschiedlichen, eins zu sein". Ebenso wiegelte der Historiker Hans-Ulrich Wehler ab: Der neue Patriotismus sei nichts anderes als eine "Parallelerscheinung zum rheinischen Karneval", also eine Form des Hedonismus; während Medienwissenschaftler Norbert Bolz sogar "eine neue Religion der Freude" heraufziehen sah.
Das Volk habe, ganz postmodern, begonnen, mit den nationalen Symbolen und Gefühlen spielerisch umzugehen. Nach dieser Interpretation des Großbritannien-Korrespondenten der Zeit, Jürgen Krönig, hat Deutschland während der WM die "Geburt eines ironisch-gebrochenen, augenzwinkernden Patriotismus" erlebt. Patriotismus sei in dieser Form ohnehin nur noch "das Synonym für die Bereitschaft zur ganz großen Party", pflichtet Dirk Kurbjuweit im Spiegel bei. "Dabeisein- und Mitfühlenwollen" sei das wichtigste, analysiert der Soziologe Karl-Otto Hondrich: "Mit wem oder gegen wen ist zweitrangig." Insofern habe die WM-Feier gezeigt, wie sehr das Nationale "ganz normal" sei.
Soviel scheint - trotz aller divergierenden Interpretationen - zumindest festzustehen: dass es sich beim deutschen "Sommermärchen" um ein neues deutsches Phänomen handelt. Jörg Lau resümiert, dass eine Neufassung des Patriotismus schon deshalb notwendig sei, weil die alten Kontroversen als beigelegt angesehen werden müssten. Während die Linke unter Kanzler Schröder die Nation wiederentdeckt habe, schreckten die Konservativen vor weiterem Geschichtsrevisionismus zurück: "Patriotismus kann sich heute weder im ,Nie wieder` der Gedenkkultur noch im beschaulichen Stolz aufs Ererbte und Erreichte erschöpfen." Verlief also die ganze Debatte um die Unverkrampftheit eines neuen deutschen Patriotismus nicht viel zu altdeutsch verkrampft?
Wie so häufig in diesen Landen bereitete am Ende der demoskopische Realismus des Institutes in Allensbach allen Neuerfindungsspekulationen ein jähes Ende. Die Einstellung der Deutschen zum Nationalgefühl wie zur nationalen Symbolik habe sich schon längst - nämlich seit der Deutschen Einheit - "grundlegend geändert". Skepsis gegenüber nationaler Begeisterung habe sich weitgehend verflüchtigt. Nur noch knapp über 20 Prozent der Bevölkerung seien der Meinung, dass sich wegen der deutschen NS-Vergangenheit die Pflege von nationalen Gefühlen und Symbolen nicht gezieme. Und lediglich zwei Prozent witterten hinter dem schwarz-rot-goldenen Fußballtaumel die Vorzeichen eines neuen deutschen Nationalismus.
Solche Umfragen nähren zumindest den beschwichtigenden Eindruck, ein neuer Patriotismus könnte mittlerweile so sehr zur Normalität geworden sein, dass uns seine Existenz außerhalb von Großevents kaum noch ins Auge springt.
Sönke Wortmanns Kinohit Sommermärchen wird uns also kaum lehren können, wie man das "geile WM-Gefühl" immer wieder abrufen kann. Eher steht der populäre Streifen dafür, wie ein Projektleiter dank enormer suggestiver Fähigkeiten ein minderbemitteltes Team in eine fast unüberwindliche "Sekte ohne Substanz" verwandeln konnte und dabei das zunächst skeptische Publikum durch eine Erfolgsserie in wachsende Begeisterung versetzte.