Einleitung
Die generationsspezifische Perspektive ermöglicht es, historische Sinnbildungsprozesse abzubilden. Mit diesem Zugriff kann rekonstruiert werden, welche unterschiedlichen Komplexe von Erfahrungen, Deutungen, Identifikationen und Zukunftserwartungen simultan in einer Gesellschaft bestehen. Der generationengeschichtliche Zugriff kann deutlich machen, inwieweit Generationen zu anderen in einem symbiotischen oder konkurrierenden Verhältnis stehen und Entwicklungen vorangetrieben, gestützt oder verzögert werden.
Diese Zusammenhänge wurden am Beispiel DDR in einem Modell der Generationen-Interaktion deutlich gemacht. Systematisch und über die gesamte "Biographie" einer Generation hinweg wurde hier die entwicklungspsychologisch allgemein beschreibbare altersspezifische Bedürfnislage der Angehörigen einer Generation mit den Möglichkeiten in Bezug gesetzt, welche die DDR in ihrer Konstitutions- und Aufbauphase, in den Jahren der Stabilisierung, der Stagnation wie auch in der Niedergangsphase bot.
Für Menschen im mittleren Erwachsenenalter sind einschneidende gesellschaftliche Umbrüche tendenziell mit weniger Chancen verbunden, denn entwicklungspsychologisch gesehen stehen Generativität und Professionalisierung im Mittelpunkt. In diesem Lebensalter setzt sich ein eher sorgsames, strategisches und kompromissbereites Interaktionsverhalten durch, das den Verhaltensnormen in wirtschaftlichen, institutionellen und politischen Strukturen entspricht. Die Entwicklungspsychologie illustriert, wie sich diese "Lebensinvestitionen" über die Altersstufen hinweg wandeln.
Für die Angehörigen der verschiedenen Generationen stellte sich die DDR in derselben Zeit sehr unterschiedlich dar: Während die stagnative oder regressive Spätphase für die Angehörigen der integrierten Generation
Generationen existieren nicht wie andere historische Daten und Fakten - Generations-Bildungen sind idealtypische Konstruktionen.
Eine solches Verständnis von Generationen modifiziert die klassischen Ursprünge des Generationen-Konzepts. Wilhelm Dilthey interessierte bei seiner Beschäftigung mit der Klassik und Romantik eine auffällige Gleichzeitigkeit unterschiedlicher geistiger Impulse der gleichen Kohorten. In der inzwischen kanonisch zu nennenden Systematik des Generationenproblems des Soziologen Karl Mannheim bilden benachbarte Jahrgänge, die im "selben historisch-sozialen Raume - in der selben historischen Lebensgemeinschaft - zur selben Zeit geboren"
Für die DDR konnten solche Generationseinheiten nicht in allen Generationen beschrieben werden.
Als Erkenntnisinstrument könnte dieser Zugriff auch für die vergleichende Betrachtung von DDR und Bundesrepublik interessant sein. Denn beide deutsche Nachkriegsgesellschaften sind von Menschen aufgebaut worden, die im "Dritten Reich", in der Weimarer Republik und im Kaiserreich sozialisiert wurden. Die parallele Rekonstruktion von Generationsgestalten kann zeigen, welche Effekte die Verschränkung der gleichen Sozialisation mit unterschiedlichen Systembedingungen zeitigte.
Die ersten Nachkriegsgenerationen
Im Folgenden soll diskutiert werden, welche Voraussetzungen für einen Vergleich der ersten beiden Nachkriegsgenerationen der Bundesrepublik und der DDR bestehen. In Ost und West waren die Angehörigen dieser Jahrgänge sowohl damit konfrontiert, dass sie selbst, vor allem aber die vorhergehenden Kohorten und insbesondere die ihrer Eltern in die Verbrechen des nationalsozialistischen Deutschlands verstrickt waren - als auch mit der Aufgabe, die Nabelschnur zum Bereich dieser Schuld zu kappen, um sich auf eine lebbare Zukunft zu orientieren. Die Bewältigung dieser allgemeinen und systemunspezifischen Aufgaben erfolgte zum einen auf gleicher Grundlage, nämlich auf der Basis gleicher Mentalität und Sozialisation, der gleichen ideologischen Vorprägungen und Erfahrungen. Zum anderen geschah sie unter sich schon bald sehr deutlich unterscheidenden Formen von Herrschaftsausübung, wirtschaftlichen und alltagskulturellen Verhältnissen sowie verschiedener Diskurse in Bundesrepublik und DDR. Diese lieferten unterschiedliche Erklärungen über die Ursachen des Nationalsozialismus und die Zukunft des jeweiligen Teilstaates.
Zur ersten westdeutschen Generation, die in der Forschung als "45er" bezeichnet wird, zählt man die Jahrgänge 1918 bis 1930, zur ersten ostdeutschen Generation, die als "Aufbau-Generation" bezeichnet wird, die Jahrgänge 1925 bis 1935. Grundlage für die Beschreibung der ersten westdeutschen Generationsgestalt war lange Zeit der von Helmut Schelsky 1957 unter dem Titel "Die skeptische Generation" zusammengefasste Überblick zu empirischen jugendsoziologischen Arbeiten.
Die materialreichste Aufarbeitung der Literatur zur Generation der "45er" liefert Dirk Moses, der für die Grenzen dieser Generation 1918 (das Geburtsjahr von Helmut Schmidt) und 1930 (das Geburtsjahr von Helmut Kohl) vorschlägt. Rolf Schörken diskutiert für die Charakterisierung der Jugendlichen und jungen Erwachsenen der Nachkriegszeit die Autobiographien der Geburtsjahrgänge 1922 bis 1933. Heinz Bude konzentriert seine Untersuchungen zur "Flakhelfer-Generation" auf die Jahrgänge 1926 bis 1930, und Christina von Hodenberg ordnet die in westdeutschen Medien tätigen "45er" jenen zu, die "etwa zwischen 1921 bis 1932 geboren" wurden.
Auch bei der ersten ostdeutschen Generation hat sich die Etikettierung und Kohortenzuordnung gewandelt. Ina Merkel wies darauf hin, dass "der Begriff Aufbau-Generation (...) mißverständlich (...) auf zwei verschiedene Generationen angewendet" wird. Sie spricht von einer ersten (die Jahrgänge von 1910 bis 1928) und einer zweiten Aufbaugeneration, letztere nennt sie auch "erste FDJ-Generation", der sie "die dreißiger und vierziger Jahrgänge" zurechnet. Hartmut Zwahr ordnet "der FDJ-Aufbaugeneration" als "Kern die Jahrgänge 1920 - 1929" zu, Werner Mittenzwei sieht im Jahrgang 1927 "eine gewisse Scheidelinie". Wolfgang Engler bezeichnet jene, die "um das Jahr 1930 herum geboren" wurden, als "zweite politische Generation der DDR", Lutz Niethammer nutzt stattdessen das Label "HJ/FDJ-Generation", Dorothee Wierling "HJ-Generation". In jüngeren Arbeiten von Bernd Lindner, Mary Fulbrook und Thomas Ahbe/Rainer Gries wird der Terminus "Aufbau-Generation" verwendet.
Es ist zu konstatieren, dass die aktuelle Diskussion zur ersten Nachkriegsgeneration in Ost- und Westdeutschland keine parallele Jahrgangszuordnung liefert. Damit stellt sich die Frage, welche Folgen diese Inkongruenz für einen Vergleich des gesamten Systems der west- und der ostdeutschen Generationsgestalten haben könnte. Die erste Generation des Westens, die "45er", ist "älter" als die erste des Ostens, die "Aufbau-Generation". Die "45er" waren innerhalb der deutschen Militärmaschinerie stärker mit Schuld und Schrecken konfrontiert. Zudem fehlten ihnen solche Leitdiskurse, die sie in gleicher Art, wie es im Osten geschah, auf die Zukunft hin orientierten oder zumindest die Bewältigung der Niederlage anleiteten. Beides führte dazu, dass man die eigenen Anstrengungen und Leiden letztlich als "sinnlos" ansah und sich betrogen fühlte.
Die "45er" waren es gewohnt, sich diszipliniert und engagiert an Autoritäten zu orientieren - und so fügten sie sich in die neue Gesellschaft ein. Zwar grenzte sich die junge Bundesrepublik normativ vom "Dritten Reich" ab, dennoch trugen die Diskurse der 1950er Jahre nur wenig zur Analyse des Nationalsozialismus bei.
Die "45er" konnten wegen der Entnazifizierung und Neuordnung des Medienwesens durch die Alliierten, wie auch durch viele Neugründungen in großer Zahl in den Medienbereich ein- und dort rasch aufsteigen, weswegen diese Generation hier einen prägenden Einfluss ausübte.
Hat sich die ostdeutsche Parallelgeneration in ihrer Nachkriegsgesellschaft anders entwickelt, hat sie sich anders verstanden? Welche Wirkung hatten die - vor allem mit dem jüngeren Segment der "45er" geteilten - gleichen Erfahrungen, sozialisatorischen und ideologischen Vorprägungen in einem anderen politischen System? Die ostdeutsche Generationsgestalt ist dem heutigen Diskussionstand gemäß "jünger" als die erste westdeutsche Nachkriegsgeneration. Nur die Ältesten erlebten das Kriegsende als sehr junge Soldaten, als "Flakhelfer",
Die neuen Machthaber in der SBZ/DDR ermöglichten den endzwanziger und frühen dreißiger Jahrgängen einen noch nicht da gewesenen Bildungsaufstieg.
Der größte Teil reagierte nüchtern, pragmatisch, im Selbstverständnis unpolitisch und unideologisch auf dieses Angebot. Sie arrangierten oder fügten sich und behielten gleichzeitig nicht selten eine innere Distanz zu den offiziellen politischen Werten.
Wie die Angehörigen der "Aufbau-Generation" zur NS-Vergangenheit Distanz gewannen und ins (Berufs)Leben einstiegen, war jedoch nur auf den ersten Blick eine reine Erfolgsgeschichte. Auf den zweiten zeigen sich in der Biographie dieser Generation einige Hypotheken. Ihre Angehörigen konnten nie die Patriarchen-Gruppen als Machtelite ablösen und eigene Vorstellungen durchsetzen. Das Kahlschlag-Plenum der SED vom Dezember 1965 lässt sich als Beispiel für die intergenerationelle Auseinandersetzung lesen - ein Dissens, der durch das Machtwort der Patriarchen und die moralische Bindung der jüngeren Generation an die Patriarchen entschieden wurde. Die "Aufbau-Generation" konnte nicht in der Art "erwachsen werden", wie es die "45er" konnten - diese machten im Zuge eines normalen Generationswechsels den Älteren auch die Führungs- und Elitepositionen streitig und lösten diese schließlich ab. Während für die "45er" in der Auseinandersetzung mit den älteren Positionsinhabern auch das Argument der NS-Vergangenheit relevant oder zumindest funktional sein konnte, war das der "Aufbau-Generation" nicht gegeben. Denn die Kerngruppe der SED-Machthaber sowie der mit ihr assoziierten ostdeutschen Kulturelite waren zumeist Gegner oder Opfer des Nationalsozialismus. Den jungen Aufsteigern war bewusst, dass weder sie noch ihre Eltern sich gegen den Nationalsozialismus engagiert hatten. Der antifaschistische Offizialdiskurs hatte die "Aufbau-Generation" nicht nur informiert und sensibilisiert, sondern zugleich auch deren geringen moralischen Kredit bloßgelegt. Gegenüber den Kämpfern gegen den Nationalsozialismus, den Emigranten, gewissermaßen gegenüber der gesamten Generationseinheit der nun herrschenden "misstrauischen Patriarchen", waren sie in einer Position moralischer Inferiorität. Sie verspürten den antifaschistischen Gründervätern gegenüber eine nie völlig abzutragende Bringschuld, die sowohl Unterordnung wie auch großes Engagement beim Aufbau der neuen Ordnung förderte.
In diesem Dilemma steckten auch viele, die der Diktatur im Osten in Distanz oder Gegnerschaft gegenüberstanden. So erinnert sich der einstige Neulehrer Günter de Bruyn: "Denn die eifernde Schulleiterin hatte unter Hitler im Gefängnis gesessen, der dogmatische und gebildetste Dozent war ein Emigrant gewesen - man selbst aber hatte Hitler gedient."
Ähnlichkeiten und Differenzen
Die ersten beiden Nachkriegsgenerationen, die "45er" und die "Aufbau-Generation", agierten in ihrer Mehrheit ähnlich, nämlich als engagierte wie konforme Mitmacher in der neuen Ordnung. Sie folgten den Vorgaben der Besatzer und der neuen deutschen Autoritäten. Die Bearbeitung ihrer Erlebnisse während des Nationalsozialismus und die Öffnung ihres geistigen Horizonts während der Phase der Ausbildung und Professionalisierung erfolgte schon unter den ideologisch unterschiedlich kodierten Leitdiskursen des Liberalismus und des Marxismus-Leninismus, deren Substanz oft begeistert aufgenommen wurde.
Doch diese radikal neuen Ideen stützten sich auf die schon im Nationalsozialismus sozialisierten Muster - den Glauben oder die Hoffnung an und auf die verheißene neue Gesellschaft wie auch den Hang zu einer konformen Einordnung in eine Gemeinschaft. Auch im Westen wandte sich die Jugend der Weltsicht der Siegermächte zu. Im Medienbereich wurden gerade die "45er" als "hervorragende Klientel für die ,Reorientation`-Bemühungen der Alliierten" gesehen, weder die älteren noch die jüngeren Kollegen hatten in den fünfziger Jahren so viele Aufenthalte in den USA. Und die Art, wie "sie westlichen Vorbildern huldigten", trennte sie von den Älteren.
Aber auch zum westdeutschen Beschweigen der NS-Zeit, unter dessen Schirm die "45er" ihren Weg gingen, findet sich für die "Aufbau-Generation" in der SBZ/DDR ein funktionales Äquivalent. Die propagandistische Dauerthematisierung des Faschismus in der spezifischen ökonomistischen und antikapitalistischen Verkürzung des DDR-Antifaschismus schloss ebenfalls das Schweigen über die NS-Vergangenheit der Kollegen, Chefs und Eltern ein. Zudem hatte die Verflechtung der Aufarbeitung des Nationalsozialismus mit den Konflikten des Kalten Krieges ähnliche Effekte. Im Osten projizierte der DDR-Antifaschismus das Problem aus der Zeit und dem Land der "Aufbau-Generation" hinaus in Richtung Westdeutschland, wo man die Herrschaft der "alten Nazis", "Monopolkapitalisten" und "Revanchisten" konstatierte.
Mit der Wende zu den 1960er Jahren beginnen sich die Formen, in denen sich die Angehörigen der beiden Nachkriegsgenerationen in ihre Gesellschaften integrieren, stärker zu unterscheiden. Die "Aufbau-Generation" wird in besonderer Weise vom Mauerbau getroffen. Ihre Angehörigen waren gut ausgebildet und noch jung genug, um in der Bundesrepublik neu anzufangen. Für viele von ihnen war bis zum August 1961 der Weggang in den Westen immer eine Lebensoption. Mit der Grenzschließung wurde die Frage, ob man für sich eine Lebensperspektive in der DDR sieht, schlagartig beantwortet. So hatten die moralisch und machtpolitisch nicht angreifbaren Patriarchen erneut über das Leben der "Aufbau-Generation" verfügt. Zur gleichen Zeit, zwischen 1958 bis 1963, vollzog sich im Westen mit dem Aufstieg der "45er" in die Führungspositionen der erste wichtige Generationswechsel. Für die politische Öffentlichkeit bedeutete das die Ablösung der den Nachkriegsjournalismus prägenden "Wilhelminer"
Obwohl die ostdeutsche "Aufbau-Generation" zur selben Zeit begann, die oberen und mittleren Führungspositionen altershomogen zu besetzen, hatte sie weiterhin das auszuführen, was die kleine Gruppe der "misstrauischen Patriarchen" in den Spitzenpositionen vorgab. So änderten sich in den 1960er Jahren eher der Ton und das Klima, nachdem immer mehr pragmatisch und technokratisch orientierte Funktionsträger die "harten Ideologen" in den mittleren Führungspositionen ersetzten, jedoch nicht die Grundstrukturen des diktatorischen Systems.
Der Vergleich der beiden Generationen hat zwei Varianten gezeigt, wie eine im Nationalsozialismus sozialisierte Jugend sich in konkurrierende postfaschistische Gesellschaften integrierte und in beiden jeweils zu neuen Trägergenerationen wurde. Ähnlichkeiten finden sich in der Haltung, in der sich beide Generationen integrierten. Als konforme Mitmacher waren sie stark auf die Zukunft orientiert und schwiegen mit den älteren Kollegen, Vorgesetzten oder Eltern über die Vergangenheit. Dass diese Ähnlichkeiten zwischen der ostdeutschen und der westdeutschen Generation sowohl in der Forschung wie auch in der Selbstbeschreibung der Deutungseliten bisher nicht deutlicher wurden, hängt damit zusammen, dass die Erfahrungen von 1945 recht bald in den unterschiedlichen Sinnsystemen der westdeutschen und der ostdeutschen Masternarrative interpretiert und nach 1990 von ihrem Ende her gedeutet wurden.
Die Diskussion der Voraussetzungen eines Vergleichs der beiden deutschen Nachkriegsgenerationen zeigt auch, dass die unterschiedliche Jahrgangszuordnung ein Problem darstellt, das noch gelöst werden muss. Für die Rekonstruktion historischer Sinnbildungsprozesse sollte künftig stärker auf transnationale Erfahrungszusammenhänge rekurriert werden; schließlich hat bereits Karl Mannheim das Konzept auf einen europäischen und nicht auf einen nationalen Kontext bezogen. Im Übrigen waren auch die ersten beiden Nachkriegsgenerationen in den beiden Teilstaaten stärker aufeinander bezogen als spätere deutsch-deutsche Generationsgestalten.